Auf dem Tablett befanden sich eine Semmel mit Leberkäs, ein Erdbeerjoghurt und ein großer Milchkaffee. Vorsichtig bahnte sich die dunkelhaarige Frau im weißen Kittel einen Weg zwischen den schwatzenden und essenden Kollegen auf Dr. Kramer zu, der im Gegensatz zu allen anderen allein am Tisch saß.
"Ist hier noch frei?", fragte sie lächelnd.
"Das sehen Sie doch", kam postwendend die knurrige Antwort zurück. Der Blick aus den stahlblauen Augen war voller Ironie. Dana Baumann ärgerte sich. Sie wollte ja nur höflich sein und fand seine Worte höchst unpassend.
"Entschuldigung, ich wollte nicht stören." Immer noch stand sie unschlüssig neben dem Stuhl und schaute sich suchend nach einem anderen Platz um. Nicht, weil sie eingeschüchtert war, sondern weil sie fürchtete, dass ihr neben diesem bärbeißigen Kollegen der Appetit verging.
"Nun setzen Sie sich schon, um Himmels willen! Sie stören nicht. Und beißen tu ich auch nicht. Wollte ohnehin gerade gehen." Er warf einen kurzen Blick auf ihren Imbiss. "Na, dann wünsche ich mal guten Appetit", sagte er und verdrehte in gespielter Entrüstung die Augen. "Dass Ihnen so was schmeckt . gesund ist das nicht. Sollten Sie als Ärztin eigentlich wissen."
"Danke, dass Sie sich um meine Ernährung sorgen, aber das ist nicht nötig." Sie lächelte ihn offen an. "Warum sind Sie so giftig? Hab ich Ihnen was getan?"
Sie sah ihm an, dass ihm eine heftige Erwiderung auf der Zunge lag, doch er beherrschte sich und schlug einen sachlichen Ton an.
"Ich erwarte Sie in einer halben Stunde im Arztzimmer. Bis dahin werden Sie diesen Fraß ja wohl verputzt haben."
Bevor sie noch etwas sagen konnte, stand er hastig auf und eilte davon. Ohne sich umzuschauen oder gar jemanden zu grüßen, bahnte er sich seinen Weg zum Ausgang der Kantine.
Danas Blicke folgten dem Arzt, dessen Dominanz spürbar wurde, sobald er einen Raum betrat. Aber leider war er nur ein gut aussehendes, arrogantes Scheusal, von Charme keine Spur. Er schnauzte die Pflegekräfte an, wann immer sich eine Gelegenheit dazu bot, und gab sich ansonsten ruppig und unnahbar.
Was mochte wohl Chefarzt Dr. Holl von den weniger angenehmen Seiten seines hochqualifizierten Oberarztes halten? Dana hätte es gern gewusst.
Als junge Ärztin hatte sie natürlich nicht viele Möglichkeiten, sich beim Chef über Dr. Kramer zu beschweren. Freundlichkeit konnte man nicht einfordern. Und rein fachlich stand der Oberarzt völlig unangefochten da.
Also tröstete sie sich mit dem Gedanken, dass sie immerhin viel von ihm lernen konnte. Sie musste einfach versuchen, den Kotzbrocken in ihm auszublenden.
Mach eine Faust in der Tasche, pflegte Tante Ingrid immer zu sagen. Und diesen Rat befolgte Dana oft. In einigen Jahren würde sie selbst eine gute Neurologin sein und das hochmütige Gebaren Dr. Kramers längst vergessen haben - oder nur noch darüber lachen.
Nachdem die Semmel gut im Magen gelandet war, schickte sie noch das Joghurt hinterher und spülte mit Kaffee nach.
Sie verließ die Kantine und begegnete auf dem Weg zur Neurologie dem Kollegen Jordan, den sie viel sympathischer fand als ihren direkten Vorgesetzten.
"Gehen Sie mal gleich zum Oberarzt", sagte Dr. Jan Jordan. "Er hat schon nach Ihnen suchen lassen."
Merkwürdig, dachte Dana. Der Kollege Kramer muss doch wissen, dass ich noch in der Kantine war. Oder hatte er das schon wieder vergessen?
Als sie ihm gegenüberstand, wollte sie ihm sagen, dass auch eine junge Ärztin wie sie hin und wieder mal etwas essen musste. Doch Martin Kramer ließ sie gar nicht erst zu Wort kommen. Als sie an die Tür seines Büros klopfte und eintrat, kam er ihr gleich entgegen, als wollte er ihr den weiteren Zutritt verwehren.
"Ah, Frau Doktor Baumann! Wir haben einen Neuzugang, ein achtundvierzigjähriger Patient, zeigt etliche Symptome, die eine Parkinson-Krankheit vermuten lassen. Was muss ich tun, um eine sichere Diagnose zu bekommen?"
Aha, er wollte sie also prüfen. Vielleicht aus Rache, weil sie es gewagt hatte, sich an seinen Tisch zu setzen?
Dana reagierte zu ihrer eigenen Überraschung emotionslos und präzise.
"Wenn schon vor dem fünfzigsten Lebensjahr die typischen Krankheitszeichen wie die Beeinträchtigung der Motorik, vielleicht auch Persönlichkeitsveränderungen, Ermüdbarkeit und Ungeschicklichkeit auftreten, sollte auf jeden Fall der Kupferhaushalt überprüft werden, um Parkinson gegen die Wilson-Krankheit abzugrenzen."
Er betrachtete sie sekundenlang mit schmalen Lippen und deutlichem Argwohn in den Augen. Als könnte sie von irgendwoher heimlich Informationen empfangen haben. Informationen, die außerhalb seiner Kontrollmöglichkeiten lagen.
"Geraten oder gewusst?", hakte er nach.
"Gewusst natürlich", erwiderte sie mit vorgerecktem Kinn. "So was kann man nicht erraten. Meine Doktorarbeit befasst sich unter anderem mit den Proteinen, die beim Krankheitsverlauf der Multiplen Sklerose beteiligt sind."
"Sehr interessant", musste Martin Kramer widerwillig zugeben. Seine Augen schienen sie zu durchbohren. "Und? Wie haben Sie abgeschlossen?"
"Noch gar nicht. Die Arbeit wurde angenommen, aber das Rigorosum steht noch aus."
"Sind Sie schon nervös?"
Diese Frage ging Dana zu weit. Warum wollte er das alles wissen? Sie kam sich vor wie bei einem Kreuzverhör. Doch dann hörte sie sich zu ihrer eigenen Überraschung zustimmen. "Ja, ein bisschen schon. Aber ich werde mich gut vorbereiten."
"Wenn Sie so weit sind, können Sie mir schon mal die Ergebnisse vortragen und dann auch den fachlichen Zusammenhang erläutern. Ich sage Ihnen dann, ob Sie sich gut und flüssig ausdrücken und ob die medizinischen Zusammenhänge klar sind. Aber erwarten Sie nicht, dass Sie von mir Schmeicheleien hören. Ich bin ein harter Kritiker."
"Daran zweifle ich keine Sekunde." Dana hob eine Augenbraue. "Ihr Charme ist mir bekannt."
Sie wusste nicht so recht, ob sie dieses Angebot annehmen oder ablehnen sollte. Eigentlich verspürte sie wenig Lust, mit dem unfreundlichen Oberarzt mehr Zeit als nötig zu verbringen. Andererseits konnte er ihr sicher wertvolle Tipps für die mündliche Prüfung geben.
Dr. Kramer wurde ungeduldig.
"Denken Sie darüber nach. Und geben Sie mir Bescheid, wenn Sie sich entschieden haben."
"Danke für die Anregung. Ich werde sicher darauf zurück ."
Er wandte sich schon ab, bevor sie ihren Satz beendet hatte. Dana verließ wortlos den Raum.
Sie fühlte sich ein wenig frustriert, aber beim Rundgang durch die Krankenzimmer verflog diese Empfindung rasch wieder. Dennoch fragte sie sich, was Dr. Kramer eigentlich von ihr gewollt hatte. Die an sie gestellte Frage hätte er sich selbst beantworten können.
Um sechzehn Uhr fand sie sich zur allgemeinen Besprechung bei Dr. Holl ein. Dr. Kramer nahm nicht teil, wie sie gleich beim Eintreten feststellte.
Einerseits empfand sie Erleichterung. Andererseits mochte sie seine fundierten Fachkommentare. Die Kollegen Andrea Kellberg, Jan Jordan, Michael Wolfram, Peter Donat und Jochen Hansen saßen schon um den ovalen Konferenztisch. Mit allen kam Dana gut aus.
Während die Ärzte über die verschiedenen Behandlungsmöglichkeiten der drei neuen Krebspatienten diskutierten, spürte sie immer wieder die Blicke von Jochen Hansen. Allerdings war sie sich nicht ganz sicher, was sie bedeuteten. War es eher ein Zufall, dass er sie anschaute - oder hatte er doch ein besonderes Interesse an ihr?
Sie mochte ihn, weil sie sich auf Augenhöhe begegneten, denn Jochen Hansen verfügte ebenso wie sie erst über wenig Berufserfahrung. Gelegentlich sprachen sie über ihre Erlebnisse in der Klinik und schütteten sich auch gegenseitig das Herz aus, wenn sie sich ungerecht behandelt fühlten. Aber mehr als einen Kollegen sah sie in ihm nicht.
Nach der Besprechung nahm er sie kurz zur Seite und schlug ein gemeinsames Abendessen vor. Dana hatte keine Einwände. Ihre Tante, mit der sie zusammenlebte, forderte sie ohnehin ständig auf, mehr auszugehen und sich mit jungen Leuten zu treffen.
Aber das war leichter gesagt als getan, denn Dana mochte keine laute Geselligkeit. Bei größeren Menschenansammlungen, wie sie in Discos oder Klubs zu finden waren, fühlte sie sich nicht zugehörig, ja sogar verloren.
"Ich möchte dich gern einladen", sagte Joachim, um von vornherein zu klären, wer die Rechnung bezahlt, doch damit war Dana nicht einverstanden.
"Kommt nicht infrage", widersprach Dana. "Jeder zahlt seins. Sonst ."
"Okay, okay", meinte er lachend. "Akzeptiert. Ganz, wie du willst. Aber es hätte mir schon Freude gemacht."
***
Chefarzt Dr. Holl kam an diesem Abend später als sonst nach Hause. Seine Frau Julia begrüßte ihn mit einem Kuss und nahm ihm die Tasche ab.
"Eine überraschend schnelle Geburt", erklärte Stefan, ein hochgewachsener ansehnlicher Mann, der stets offen und herzlich auf die Menschen zuging. "Der kleine Bub hat es ziemlich eilig gehabt, auf die Welt zu kommen....