"Na, kommst du auch schon? Entdeckst du gerade die Langsamkeit?", fragte Alexandra Schubert und blickte Dr. Stefan Frank belustig an.
Sie stand am Ende der Abfahrt und hatte sich demonstrativ gelangweilt auf ihre Skistöcke gestützt. Unter der bunten Strickmütze lugten ein paar dunkle Locken vorwitzig hervor, ihre Wangen waren von der kalten Luft gerötet, und ihre Augen blitzen herausfordernd.
"Mit dir kann ich einfach nicht mithalten", stieß Stefan Frank atemlos hervor. "Man merkt, dass du schon auf Skiern gestanden hast, bevor du richtig laufen konntest."
Wieder etwas zu Atem gekommen, nahm er Alexandra in die Arme und küsste sie zärtlich.
"Lass uns noch einmal fahren, Stefan, ja?! Das Wetter ist so herrlich, und morgen wird die Piste bestimmt voller sein."
"Wie könnte ich dir etwas abschlagen, mein Schatz! Also los, auf zum Lift!"
Die beiden Ärzte hatten sich ab Freitagmittag freigenommen, um ein langes Wochenende in Garmisch-Partenkirchen zu verbringen.
Sie stapften durch den Neuschnee zum Lift und bewegten sich auf die kurze Schlange von Skifahrern zu. Die Letzten in der Reihe waren zwei Frauen in modischen pinkfarbenen Skianzügen - der letzte Schrei in dieser Saison, wie Alexandra ihrem Freund erklärte.
Als die beiden Ärzte die Warteschlange erreichten, drehten sich die pinkfarbenen Frauen zu ihnen um.
"Dr. Frank?! Dr. Schubert? Sie sind auch hier?!", fragte Ina Henning erstaunt, nachdem sie einige Male irritiert zwischen den beiden hin- und hergeschaut hatte. Ihre Augen hinter den starken Brillengläsern schienen bei jedem erneuten Hin und Her größer zu werden.
"Grüß Gott! Ja, Frau Hennig, wie Sie sehen, sind wir auch hier", lachte Dr. Frank. "Ich kann ja meinen Patienten nicht immer nur empfehlen, Sport zu treiben, ich muss auch mal mit gutem Beispiel vorangehen!"
"Ja, natürlich! Es ist nur so eigenartig, jemanden an einem Ort zu treffen, wo man ihn nicht erwartet. Bleiben Sie auch über das Wochenende? Ach, übrigens, das ist meine Freundin Dora Taden", stellte Ina die junge hübsche Frau an ihrer Seite vor. "Dora, das sind Dr. Schubert, meine Augenärztin, und Dr. Frank, mein Hausarzt."
Dora zog ihre Handschuhe aus und reichte Dr. Schubert und Dr. Frank die Hand.
"Guten Tag. Ina hat schon oft von ihren beiden Lieblingsärzten gesprochen", sagte sie mit einem verschmitzten Lächeln.
"Servus, Frau Taden. Ich hoffe, Frau Hennig hat nur Gutes über uns erzählt!", erwiderte Alexandra freundlich.
In die Schlange kam Bewegung. Ina und Dora bestiegen schon den Lift.
"Es hätte mich auch gewundert, wenn wir nicht wieder Patienten getroffen hätten", sagte Alexandra Schubert. "Weißt du noch beim letzten Mal?"
"Diesmal bleibt es uns hoffentlich erspart, als Ärzte gefordert zu werden. Es wäre schön, einfach mal drei Tage auszuspannen. Aber wenn tatsächlich Not am Mann ist, ist das nicht zu ändern. Wir sind ja schließlich Ärzte geworden, um Menschen zu helfen", sagte Dr. Stefan Frank.
"Ich sehe das doch genau so, Stefan. Ich würde allerdings auch helfen, wenn Not an der Frau ist!", neckte ihn seine Freundin.
Nun waren die beiden an der Reihe und fuhren nach oben. Der Schnee blitzte in der Sonne, und die Zugspitze wirkte zum Anfassen nah. Herrlich war es auf dem Berg!
An der Gipfelstation beschlossen die beiden Ärzte, noch einen Tee zu trinken, bevor sie sich an die letzte Abfahrt des heutigen Tages machten. Von der Veranda der kleinen Hütte an der Bergstation aus hatten sie einen wunderschönen Blick auf die glitzernden Pisten, die ins Tal führten.
Ina und Dora waren gut zu erkennen, in ihren leuchtenden Skianzügen stachen sie aus der Masse der Skifahrer hervor. Die beiden Frauen umarmten sich lachend und schienen sich prächtig zu amüsieren.
"Ich bin froh, dass Frau Hennig offensichtlich wieder Freude am Leben hat. Die ersten Monate nach dem Tod ihrer Tante hatte sie sich sehr zurückgezogen", sagte Dr. Stefan Frank. "Sie hat viel Zeit gebraucht, um diesen Schicksalsschlag zu verwinden."
"Ja, sie hat auch mir davon erzählt, wie sehr sie ihre geliebte Tante Käthe vermisst. Schließlich war ihre Tante ja über viele Jahre hinweg Mutter- und Vaterersatz für sie. Ich glaube übrigens, dass bei Frau Hennings Kurzsichtigkeit die Psyche eine große Rolle spielt. Nach dem Tod ihrer Tante haben sich ihre Augen dramatisch verschlechtert. Sie ist inzwischen so kurzsichtig, dass sie ohne Brille völlig hilflos ist."
"Frau Hennig hat mir bei ihrem letzten Besuch gesagt, dass ihre Fehlsichtigkeit nun schon seit ein paar Monaten konstant ist. Sie überlegt doch sogar, sich die Augen lasern zu lassen. Hat sie mit dir nicht darüber gesprochen? Du bist doch ihre Augenärztin!"
"Doch, natürlich haben wir darüber gesprochen", versicherte Dr. Alexandra Schubert. "Aber ihre Hornhaut ist sehr dünn, deshalb habe ich ihr von dem Eingriff abgeraten."
"Ich finde, dass Frau Henning eine Brille ausgezeichnet steht", meinte Stefan Frank. "Ohne würde sie nicht besser aussehen."
"Ach, schau an, auf so etwas achtest du bei deinen Patientinnen!", erwiderte Alexandra lachend. "Aber du hast recht: Ina ist eine hübsche junge Frau. Allerdings könnte sie ein bisschen mehr aus sich machen. Modisch ist sie nicht besonders mutig."
"Ich weiß nicht. Ich würde niemals in so einem rosafarbenen Skianzug in der Öffentlichkeit auftauchen", widersprach Stefan und suchte mit den Augen nach den beiden pinkfarbenen Punkten, die nun den Berg hinunterrasten. "Ich finde das sehr mutig."
"Das ist nicht Rosa, das ist Pink! Ich würde dich so gern mal in einem pinkfarbenen Anzug sehen, mein Schatz. Das würde dir bestimmt gut stehen." Sie grinste ihn an. "Aber um auf unsere Patientin zurückzukommen: Ich vermute mal, dass ihre Freundin da ein wenig die Finger im Spiel hat. Hast du gesehen, wie sorgfältig Frau Taden geschminkt war? Da merkt man gleich, dass Inas Freundin viel Wert auf ihr Äußeres legt. Vielleicht zieht sie Ina ja etwas mit, damit aus dem Entchen ein Schwan wird."
Die Sonne verschwand schon langsam hinter den Berggipfeln. Es wurde Zeit, die Abfahrt anzugehen, wenn sie noch im Hellen ihre Unterkunft erreichen wollten.
In sanften Schwüngen fuhren sie ins Tal hinunter. Diesmal bemühte sich Dr. Stefan Frank noch mehr, mit der Geschwindigkeit seiner Freundin mitzuhalten. Stolz stellte er fest, dass sich der Abstand zwischen ihm und Alexandra verringerte.
Dass Alexandra lächelnd ihre Fahrt gebremst hatte, bemerkte er nicht.
***
"Puh, jetzt bin ich aber fix und fertig!", stöhnte Ina und ließ sich auf das Bett in dem winzigen Pensionszimmer fallen.
"Ein ganzer Tag auf der Piste, das macht echt platt", meinte auch Dora und legte sich neben ihre Freundin.
Eine Zeit lang schwiegen beide Frauen erschöpft, und Ina lauschte auf die regelmäßigen tiefen Atemzüge ihrer Freundin.
"Jetzt bloß nicht einschlafen, Dora", mahnte Ina und gab ihr einen sanften Stoß in die Seite. "Wir müssen noch mal los. Ich muss dringend etwas essen."
"Ja, ich weiß", gähnte Dora. "Ich will doch auch unbedingt noch raus. Gönn mir bitte nur zehn Minuten, ja? Du kannst ja schon unter die Dusche gehen. Wenn du fertig bist, stehe ich sofort auf."
Ina rappelte sich hoch und verschwand im Badezimmer. Frisch geduscht, mit einem großen Handtuchturban über den nassen Haaren, betrat sie nach einer Viertelstunde wieder das gemeinsame Zimmer und musste Dora wecken, die tief eingeschlafen war.
"Aufstehen, Dorchen, deine Freundin hat Hunger! Wenn ich nicht bald was kriege, wird mir schlecht."
"Das kann ich natürlich nicht zulassen", sagte Dora, schwang sich aus dem Bett und ging ins Bad.
Während Dora unter der Dusche stand, föhnte sich Ina vor dem kleinen Spiegel der Frisierkommode ihre langen blonden Haare und band sie dann zu einem bequemen Pferdeschwanz.
Sie ging zum Kleiderschrank, in dem sie die neuen Sachen untergebracht hatte, die sie gestern mit Dora in Garmisch gekauft hatte. Ina hatte sich von Dora überzeugen lassen, einige - für ihre Begriffe - gewagte Kleidungsstücke zu kaufen. Jetzt war sie sich allerdings nicht mehr so sicher, ob sie diese auch tragen würde.
Sie nahm den neuen Kaschmirpullover aus dem Schrank. Er fühlte sich wunderbar an: weich und warm und doch ganz leicht. Aber dieses Türkis?! Nein, das war ihr doch zu schrill.
Ina entschied sich nach kurzem Suchen für eine beigefarbene Bluse mit Stehkragen, darüber zog sie eine hellbraune Strickweste. Jetzt noch die dunkelbraune Stoffhose und die neuen Winterstiefel, dann konnte es losgehen.
Dora kam aus dem Bad und schaute Ina mit großen Augen an.
"Wie hast du dich denn zurechtgemacht? Du gehst zum Après-Ski und nicht zu einem Bewerbungsgespräch als Buchhalterin!"
"Was gefällt dir denn nicht? Das ist doch eine schöne Bluse, oder?"
"Ach, Ina, wir haben so tolle Sachen für dich gekauft! Heute Abend trägst du den türkisen Kaschmirpulli und dazu die passende Wildlederhose. Bitte, bitte! Und wenn du es nur für mich tust! Und noch was: Lass doch dein Haar offen. Wenn ich so schöne Haare hätte, würde ich die niemals zusammenbinden", sagte Dora wehmütig und strich sich über ihr dünnes schwarzes Haar, das sie nur kurz tragen konnte, wenn es einigermaßen aussehen sollte.
Ina brummte noch etwas...