Schweitzer Fachinformationen
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Dienstag
Ich blickte durch die verdreckten Fenster des Lokalbusses, und mein Herz wurde weit. Es war einer dieser Tage, an denen der Himmel noch etwas blauer war als üblich, das Meer noch etwas mehr glitzerte als sonst und die Sonne ihre Strahlen wie einen durchsichtigen Seidenvorhang über das Dorf ausbreitete und Häuser, die Hafenmole und die Hügel in diesem Licht scheinen ließ, für das mir die Worte fehlten. Meine Ziehenkelin Mathilde, stolze fünfzehn Jahre alt, hatte es so ausgedrückt: »Als ob der liebe Gott mal ein Glas Orangensirup über die Welt gekippt hätte«, genauer gesagt über Camaret-sur-Mer auf der Presqu'île de Crozon im Finistère, au bout du monde, am Ende der Welt. Von den Bretonen pen ar bed genannt, was so viel hieß wie »der Anfang von allem«.
Ob Ende oder Anfang . ich betrachtete es als meine Heimat. Am Sonntag würde ich im Garten meiner Villa Wunderblau still und leise und ganz für mich allein das fünfjährige Jubiläum feiern.
Die letzten vier Monate hatte ich in Sydney bei meiner Tochter Lovis, ihrem Mann und meinen Enkelkindern verbracht. Winnie und Katie, zwei und drei Jahre alt, sowie Säugling Wenzel, der seinen Geburtstermin pünktlich eingehalten hatte. Lovis hatte sich ein Rudel gewünscht, und sie hatte es bekommen. Das Familienleben war wunderbar gewesen, aber nun freute ich mich auf meinen Alltag. Auf meine Bücher, meine Kundschaft . und abends auf einen Besuch von Gabriel Mahon.
Gabriel war mein Lebensabschnittspartner seit bald einem Jahr. Eigentlich hatte er mich in Brest abholen wollen. Aber er war nicht aufgetaucht, eine Nachricht hatte er auch nicht geschickt - vermutlich ein Notfall, die kriminelle Energie auf Crozon machte keine Sommerpause. So schillernd Gabriels Augen waren, so wenig begabt war er in Kommunikation. Wie er es zum Commissaire gebracht hatte und ein Team von mehreren Leuten führen konnte, war vielen ein Rätsel. Ich jedoch kannte mittlerweile seine verborgenen Qualitäten.
»Voilà, Tereza. Bitte sehr!«
Der Busfahrer namens Anatole hatte meinen Koffer auf den Boden gehievt. Ich packte immer zu viel ein, ein Überbleibsel aus der Zeit, als die Kinder klein waren und ich als alleinerziehende Mutter für jede Gelegenheit gewappnet sein wollte. Davon zeugte auch die umgehängte Boule-rouge, meine Tasche für alle Fälle, ein Unikat, das trotz der Geräumigkeit aus allen Nähten platzte.
»Merci, Anatole.«
Ich kannte das gesamte Busteam. Seit mein Auto, eine alte Ente namens DD, den Geist aufgegeben hatte, war die Fortbewegung für mich ein Problem geworden. Den geplanten Kauf eines E-Mobils hatte ich aus finanziellen Gründen verschieben müssen. Auch wenn ich meine Buchhandlung DEJALU liebte, so brachte sie wenig ein. In unserer Kasse herrschte dauerhafte Ebbe, ein Wunder, dass wir überlebten.
Wir, das waren ich und Sylvie Meerwein, meine Mitarbeiterin und Freundin. Aus Heidelberg und auf Crozon gestrandet wie ich, war sie heute Morgen mit Partner Aimon und Motorrad nach Deutschland aufgebrochen. Wir gaben uns sozusagen die Klinke in die Hand. Dass sie zu meinem Jubiläum am Sonntag nicht hier sein würde, schmerzte mich, aber anders ginge es nicht, eine Familienangelegenheit, hatte sie gemeint.
Bevor ich den Heimweg unter die Füße nahm, stellte ich mich an den Rand der Hafenstraße. Wie mir dieser Anblick gefehlt hatte! Gesäumt von bunten Häusern zog sich die weite Bucht auf der linken Seite in einem Bogen bis zu dem kleinen Damm und der Seefahrerkirche Notre-Dame-de-Rocamadour, die unmittelbar am Wasser stand. Rechts dann am Comptoir und dem Hafengebäude vorbei bis zum Fähranleger nach Ouessant. Immer wenn ich die Boote sah, packte mich die Sehnsucht, diese wildeste aller Inseln wieder mal zu besuchen. Aber ich hatte es nie mehr geschafft, der Sturm vor einem Jahr hatte mir einen allzu plastischen Eindruck hinterlassen, ab Windstärke sieben wurde mir mulmig. Nicht nur in Brest, auch hier auf der Halbinsel hatte es am Vorabend gestürmt, das hatte mir Anatole unterwegs erzählt. Wobei die Wasseroberfläche jetzt spiegelglatt war, es herrschte absolute Windstille. Typisch Bretagne eben.
Gerade wollte ich mein Gepäck greifen, als ich aufgehalten wurde.
»Coucou, Tereza!«
Die Stimme gehörte Vivienne Danieau, der Lokalreporterin von Breizh News, einem überregionalen Medienportal. Vivienne hatte durch das offene Fenster ihres Vans gerufen, der je nach Bedarf in ein mobiles Radiostudio umgebaut werden konnte. Nun parkte sie etwas weiter vorn, stieg aus und kam auf mich zu. Sie schenkte mir une grosse bise, eine riesige Umarmung mitsamt Kuss. »Wie schön, du hast mir gefehlt.«
Wir waren ein schräges Gespann. Vivienne, mehr als zwanzig Jahre jünger als ich, mit glattem Haar, bleich, immer ganz in Schwarz gekleidet, ein Überbleibsel aus ihrer Zeit als Gothic Girl, und ich mit meinen Flatterröcken und der ausufernden Figur. Aber wir mochten uns, außerdem hatten wir gemeinsam schon zur Lösung einiger von Gabriels Fällen beigetragen. »Thelma and Louise im Kampf gegen die Ferienhausmafia«, hatte France Ouest vor einem Jahr getitelt, nach der Verhaftung von Xavier Amèr, dem gierigen Ferienhausvermittler.
Als Erstes wollte ich wissen, wie es Merguez ging, meinem Hund, den Vivienne und ihr Partner in meiner Abwesenheit gehütet hatten.
»Prächtig. Er ist ein richtiger Bar-Hund geworden, fester Bestandteil des Café des Beaux Arts.«
Es war das schönste Café am Platz und unsere heimliche Dorfzentrale. Nachdem wir verabredet hatten, dass ich Merguez später bei ihnen abholen würde, erzählte sie mir die jüngste Neuigkeit.
»Heute Nacht hat es einen Anschlag aufs Redaktionsbüro gegeben. Während des Sturms, stell dir vor. Jemand hat einen Stein ins Fenster geworfen und eine Drohung an die Hausmauer gesprayt.« Das Büro befand sich im ersten Stock des Cafés, direkt an der malerischen Place Saint-Thomas, im Herzen Camarets. Während Basile unten wirtete, führte Vivienne über ihm die Redaktion, und im zweiten Stock lebten sie, ein perfektes Arrangement. »Wir haben bereits alles gesäubert, so gut es ging. Die Hassbotschaft hat sich an Climat Crozon gerichtet.«
Das sei eine junge Klimabewegung, über die sie nicht nur berichte, sondern der sie auch angehöre. »Eine Gegnerschaft hat sich formiert, und die schrecken nicht vor Warnungen und Sachbeschädigungen zurück. >Dégage, Climat Crozon<, stand da.«
Was so viel hieß wie »Verpiss dich«. Nicht höflich, so was auf eine Hausmauer zu sprühen.
Sie sei auf dem Weg zur Polizei, um Anzeige zu erstatten.
Nebst der Mauer und der Fensterscheibe sei auch der frisch geschliffene Holzboden ihres Büros beschädigt. »Ein Wasserschaden, weil es durch die zerschmetterte Scheibe reingeregnet hat. Und dass die Kamera und mein Laptop noch funktionieren, ist reines Glück.«
Der Vorfall löste bei mir Beklommenheit aus. Noch gar nicht lange war es her, dass auch ich auf ähnliche Weise bedroht worden war, keine angenehme Situation.
»Was genau ist denn Climat Crozon, und warum habe ich noch nie davon gehört?«
Die Gruppierung sei ein Zusammenschluss von verschiedenen Kleininteressenten, sie habe sich im Frühjahr nach meiner Abreise nach Sydney formiert und sei seither kontinuierlich gewachsen. Sie setze sich für klimafreundliches Bauen ein und für Fahrradwege, von denen der erste in Betrieb genommen sei. Eine längst nötige Maßnahme, denn das Radfahren auf den kurvigen, engen Straßen der Halbinsel war eine ständige Herausforderung.
»Das neueste Thema ist die Sicherheit an Stränden«, fuhr Vivienne fort. »Du weißt, das Badeverbot.«
Auch diese Diskussion kannte ich. Auf Crozon gab es wunderbare Surfstrände, die gleichzeitig Ort von gefährlichen Strömungen waren. Surfen wurde geduldet, Baden war nicht erlaubt. Eigentlich. Doch es existierte keine Aufsicht, und niemand hielt sich daran. Nach jedem Unfall - zum Glück passierten sie selten - kamen Rufe nach einer Regulierung auf, aber dies versandete regelmäßig wieder.
Vivienne drückte mir ein paar Aufkleber in die Hand, die Skizze eines Strandes und blau tanzende Buchstaben: »Climat Crozon«.
»Die kannst du gern verteilen. Übermorgen Abend halten sie oben in Crozon eine Informationsversammlung ab, ich mache einen Bericht darüber. Komm doch auch, Tereza.«
Ich notierte mir den Termin. »Und hast du einen Verdacht, wer es gewesen sein könnte?«
Vivienne hatte einen, und er war schon sehr konkret. Sie hatte eine weitere Gruppierung, genannt »die Pfotenfreunde«, auf dem Schirm. Diese setze sich für das Recht ein, jederzeit mit den Hunden an alle Strände gehen zu dürfen. »Ekelhaft militant sind die. Und nicht kompromissbereit.«
»Na ja, ich spaziere auch gern mit Merguez am Wasser lang«, warf ich ein.
Vivienne winkte ab. »Natürlich wird man dafür Lösungen finden, genau darum machen wir die Versammlung.«
»Und was ist mit der Groupe des Anciens?«
Bei der Erwähnung verschloss sich Viviennes Gesicht. Ich biss mir auf die Lippen: Erst denken, dann sprechen, Tereza.
Die einflussreiche Vereinigung bestand vor allem aus älteren Herren, auch Viviennes Vater Erwann gehörte ihr an. Er war als Professor in Paris tätig gewesen und seit seiner Pensionierung wieder ins Gemeindegeschehen involviert. Früher hatte er in einer kleinen Mühle in Richtung Pointe de Dinan gewohnt, nach seiner Rückkehr hatte er sich ein Haus im Hauptort Crozon gekauft. Er und Vivienne waren sehr distanziert, seinen sturen Konservatismus fand sie zum Kotzen, wie sie mal geäußert hatte. Die Vorstellung, er...
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