Schweitzer Fachinformationen
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Im Normalfall lässt Dean sich direkt hinunter auf die Ebene fahren, wenn er Termine in der Stadt hat, aber heute stoppt er den Aufzug ohne bestimmten Grund etwas früher, auf Plateau 1. Der Aufzug regiert auf seine Stimme, die Glastüren öffnen sich blitzschnell, er tritt zielstrebig hinaus. Auf Plateau 1 läuft leise Choralmusik, so wie fast überall in seinem Areal. Die Akustik ist ihm wichtig, Dean hasst absolute Stille mindestens so sehr wie Lärm.
Er kommt häufig her, beinahe täglich, meistens, um zu spazieren. Auf Plateau 1 dominiert das Thema »Nature«. Hier ist der Indoorgarten angelegt, aus dem die Köchinnen und Köche das Gemüse beziehen, es gibt die Sportanlagen, den See, den kleinen Wald.
»Herr Schneider, hallo! Wie geht es Ihnen«, ruft eine seiner Gärtnerinnen freundlich, aber nicht zu laut, sie ist in einiger Entfernung damit beschäftigt, einen Strauch zu stutzen. Die Gärtnerin erwartet nicht, dass Dean etwas erwidert, denn er behandelt seine Angestellten zwar mit dem nötigen Respekt und einem festgelegten Maß an Freundlichkeit, aber sie wissen, dass er häufig in zu komplexen Gedanken versunken ist, als dass er es riskieren könnte, durch einen freundlichen Gruß seinerseits aus ihnen herausgerissen zu werden.
Heute hat Dean keinerlei komplexe Gedanken, er belässt es trotzdem bei einem angedeuteten Nicken in Richtung der Gärtnerin. Dann lässt er den Blick durch die Glasfront schweifen, hinüber in den Outdoorbereich. Er macht etwa die Hälfte von Plateau 1 aus. Für gewöhnlich nutzt Dean ihn gar nicht mehr, dafür ist die Luftqualität in Berlin viel zu schlecht. Der Anblick des gepflegten, aber unbenutzten Gartens lässt ihn unwillkürlich aufseufzen, ganz leise.
Die meisten Sponsor:innen haben ihre Areale längst außerhalb von Deutschland, weiter nördlich, an sicheren Orten mit atemberaubenden Panoramen, sie kommen nur noch für die Konferenzen in die Stadt. Als er sich hier, mitten in Berlin, niederließ, redete Dean sich ein, die Prognosen seien nur Prognosen und insgesamt zu vage, die Entwicklung noch nicht so offensichtlich. Damals hatte er sich in den Kopf gesetzt, die Großstadt und die Nähe zu den Menschen, das urbane Grundrauschen, zu brauchen, um sich wohlzufühlen. Mittlerweile sieht er ein, wie lächerlich dieser Gedanke war, denn das Konzept einer Großstadt und vor allem die Vorstellung eines urbanen Grundrauschens war auch damals schon lange gescheitert und überwunden. Und auch die Prognosen bewahrheiteten sich bislang, Deutschland wurde aktuell noch für die nächsten fünfzehn Jahre als sicherer Lebensraum eingestuft.
Dean hat sich trotzdem dazu entschieden, vorerst in Berlin zu bleiben. Allein der Gedanke an einen Umzug würde ihn unnötig aus der Ruhe bringen. Außerdem ist es nie so schlimm, wie alle sagen. Nach wie vor gibt es schöne Tage, so wie heute. Es ist Anfang November und außergewöhnlich mildes Wetter, die Luft so gut wie lange nicht, keine erhöhte Warnstufe - zugegeben, das erste Mal seit Monaten, aber dennoch. Dean streicht sich ein paar Strähnen blonder Haare hinter die Ohren und wendet sich von der Glasfront ab.
Wenn der Fall eintritt, dass er sein Areal verlässt, dann für geschäftliche Termine oder wegen einer Verabredung mit Angelica. Sie besucht ihn selten zu Hause, meistens schlägt sie vor, etwas unten in der Stadt zu unternehmen, oft handelt es sich um den Besuch irgendeines kulturellen Events, einer Oper, einer Vernissage oder eines Theaterstücks. Angelica mag es, unter Leute zu gehen. Sie scheint sich durch die schlechte Stimmung und die negativen Eindrücke, die die Stadt hinterlässt, nicht so beeinflussen zu lassen wie er. Dean war schon immer anfällig für Stimmungen und Atmosphären, deswegen setzt ihm der Fatalismus, der da draußen herrscht, zu, oder zumindest bereitet es ihm schlechte Laune, all diese schwachen Menschen zu sehen, die augenscheinlich aufgegeben haben. Auf Angelicas Vorschläge geht er eigentlich nur ein, um Zeit mit ihr zu verbringen. Oft freut Dean sich tagelang auf die Treffen. Im Gegensatz zu seinen restlichen sozialen Kontakten, die zum Großteil in irgendeiner Weise dienstlicher Natur sind, pflegt Dean zu Angelica eine persönliche und dabei rein platonische Beziehung. Er würde sie ohne zu zögern als gute Freundin bezeichnen und darüber hinaus als seine einzige. Dean weiß, wie kostbar so eine Freundschaft ist, gerade, wenn man zu den reichsten Menschen des Landes gehört. Er ist ein wenig stolz, dass er es dieses Mal war, der Angelica vorgeschlagen hat, ihn auf die Ausstellungseröffnung zu begleiten. Hoffentlich wird es nicht zu enttäuschend.
Dean will gerade zurück in den Fahrstuhl, da bleibt sein Blick an einer unscheinbaren Tür hängen, gleich neben dem Aufzug, sie ist ihm vorher nie aufgefallen. Er nähert sich ihr mit entschiedenen Schritten, denn Dean nähert sich allem und jedem möglichst entschieden. Es ist lange her, dass er so etwas gespürt hat, ein Kribbeln, eine Art Aufregung, vollkommen ungeplant. Sein Körper produziert echtes Adrenalin.
Die Tür schwingt etwas schwerfällig auf. Dean strafft seine Schultern und tritt in den Raum dahinter. Die Spannung verlässt seine Schultern sofort wieder, als er feststellen muss, dass er sich in einem gewöhnlichen Treppenhaus befindet. Einige Sekunden schaut er stumm in den grell ausgeleuchteten Flur. Zu seiner eigenen Überraschung lässt er als Nächstes die Tür ins Schloss fallen und setzt einen Fuß auf die erste Stufe treppabwärts. Sie kommt ihm unbenutzt vor, so glatt und scharfkantig. Dean ist sich nicht sicher, ob diese Treppe überhaupt eine Funktion hat. Soweit er weiß, nutzen seine Angestellten ausschließlich die Fahrstühle. Dean selbst hat jedenfalls nicht entschieden, dass es dieses Treppenhaus geben soll. Vermutlich hat es mit irgendwelchen Sicherheitsbestimmungen zu tun, Brandschutz oder Ähnliches, an die sich seine Architekt:innen bei der Planung des Areals gehalten haben, obwohl jeder weiß, wie unnötig diese Bestimmungen sind. Eine spontane, aber sehr kräftige Wut sammelt sich in Deans Magen, als er an den führenden Architekten denkt, der offensichtlich zu ängstlich war, um diese jahrhundertealten Vorschriften zu ignorieren. Ängstliche Menschen machen Dean Schneider aggressiv, das war schon immer so. Zum Glück gelingt es ihm heute, die Wut schnell unter Kontrolle zu bringen. Immerhin könnte er ohne den ängstlichen Architekten jetzt nicht diese Treppe nehmen, um die Ebene zu erreichen. Die ehrlichen Bewegungen der Kniegelenke tun gut. Als er unten ankommt, fühlt er sich vital und jung. Obwohl sein biologisches Alter bei 72 Jahren liegt, ist Deans Körper erst 44, das hat ihm Kaio, sein Bodycoach mit den kleinen Schneidezähnen, erst letzte Woche bescheinigt.
Dean zieht die unscheinbare Schatulle aus der Seitentasche seines Sakkos und betrachtet den dünnen Stab, der seit zwei Tagen in seinem Besitz ist, kaum größer als eine Zigarette. Pure Hope, steht darauf, länglich eingraviert. Vielleicht ein wenig plastisch, es so zu nennen, aber gut, denkt er, führt das Mundstück an die Lippen, es ist abgerundet und angenehm warm, Dean schließt die Augen und nimmt einen tiefen Zug.
Es füllt erst seinen Kopf, die Stirn und die Schläfen, von dort breitet sich der Stoff in einem angenehmen Tempo im Rest seines Körpers aus. Die Wirkung ist nicht zu stark oder überwältigend, er bleibt ganz klar. Mit nach wie vor geschlossenen Augen verziehen sich seine Lippen fast wie von selbst zu einem entspannten Lächeln. Ein kleines Wunder. Es handelt sich um einen Prototyp, den Sponsor:innen vorbehalten. Die Suche nach Wegen, um es in größeren Mengen herzustellen, läuft mit Hochdruck. Wenn das gelingt, dann könnte es vielleicht die Lösung sein. Dean lässt die Schatulle zurück in sein Sakko gleiten, legt den Kopf schief, sodass es knackt, beidseitig. Dann tritt er ins Freie.
Auf der Ebene vor dem Areal staubt es wie angekündigt nicht allzu stark, deswegen zieht Dean sein Shield nicht gleich über. Vielleicht ist es das PH, die außergewöhnlich gute Wetterprognose oder die Vorfreude darauf, Angelica wiederzusehen, jedenfalls entscheidet er sich dazu, den Wagen stehen zu lassen und stattdessen einen Spaziergang zu machen. Er gibt Claudio ein Zeichen und macht sich zu Fuß auf den verhältnismäßig langen Weg zum Eingangstor, um sein Areal zu verlassen.
Dean kann sich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal einen Spaziergang im Freien gemacht hat. Früher, mit Noah, da hat er öfter Spaziergänge gemacht, aber damals war die Situation auch noch eine andere. Dean versucht, die Gedanken an seinen Sohn schnell wieder abzuschütteln. Sie machen ihn sentimental. Vorsichtig atmet er ein. Die Luft riecht ein wenig schweflig, ganz leicht nach faulen Eiern, aber bis zur Galerie wird es auszuhalten sein, es dauert zu Fuß nicht länger als eine halbe Stunde. Die Torflügel öffnen sich zu den Seiten hin und Dean tritt hinaus.
Sein Weg führt ihn durch eine öffentliche Parkanlage in Kreuzberg, die er vor zwei Jahren hat anlegen lassen, sie grenzt an die Ostseite des Areals. Der Park ist außerordentlich gut besucht. Mit dem November hat die Outdoorsaison offiziell begonnen, die Menschen verlassen ihre Wohnungen nun häufiger, hin und wieder wird es sogar mehrmals in der Woche möglich sein. Die Temperaturen sind jetzt immer öfter ungefährlich.
Kinder in geringelten Ganzkörperanzügen werfen sich abgerundete Gegenstände zu. Ihre Bewegungen sind etwas unsicher, man erkennt, dass sie es nicht gewohnt sind, draußen...
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