Schweitzer Fachinformationen
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Ein Regentropfen traf die Scheibe und zerplatzte.
»Fünfundzwanzig«, sagte Sidney Grice.
Fast eine Stunde stand er nun bereits verdrossen am Fenster der Gower Street 125 und hatte sein Schnaufen nur unterbrochen, um hin und wieder um den runden Tisch in der Zimmermitte zu humpeln, bevor er seinen Posten wieder einnahm.
»Fünfundzwanzig was?« Ich gab auf, weiter an meinem Bericht über den Zyklopen von Sydenham zu arbeiten, einem unserer letzten Fälle, und ließ meine Aufzeichnungen sinken.
»Das ungefähre Alter der Frau dort auf dem Gehsteig. Ich kann ihr Gesicht durch den Schleier nicht gut erkennen«, raunte mir mein Vormund über die Schulter zu. »Aber sie hat gerade ihre Brille aufgesetzt, um mein Schild zu lesen, und sie trägt sie fast auf der Nasenspitze.« Er wischte den Beschlag von der Scheibe. »Mir ist schon des Öfteren aufgefallen, dass Männer ihre Brille mit zunehmendem Alter weiter unten auf der Nase tragen, weil sie sie zum Lesen brauchen, aber, da sie weitsichtig geworden sind, ansonsten über sie hinwegspähen. Junge Frauen, die Sehhilfen bedürfen, setzen sie sich anfangs weit unten auf die Nase, um nicht ihre vermeintlich so bestrickenden Augen zu verbergen, und schieben sie dann allmählich weiter empor - je mehr die Notwendigkeit über die Eitelkeit triumphiert.«
»Folglich müssten beide Geschlechter sie mit etwa vierzig Jahren auf dem Nasenrücken tragen«, spekulierte ich.
»Fünfundvierzig«, korrigierte er, »doch ausnahmsweise haben Sie das Prinzip einmal begriffen. Nun hat sie die unterste Treppenstufe betreten.«
»Müssen Sie sie denn so angaffen?«, fragte ich und erntete ein abschätziges Schnauben.
»Aber natürlich muss ich das. Es gehört zu meinem Beruf, Leute anzugaffen.« In der Diele ertönte die Türglocke, und Mr G wandte sich um. »Enttäuschenderweise ist Molly bereits auf dem Weg.«
Ich hörte sie die Treppe hochtrampeln.
»Wieso denn enttäuschenderweise?«
Mr G nahm seine weinrote Augenklappe ab und ein Glasauge aus seiner Westentasche. Er hielt es zwischen Daumen und Zeigefinger wie ein gütiger Onkel, der Kindern Bonbons anbietet. »Denn wenn sie ihrer Arbeit nachkäme, müsste sie Erstere kurz beiseitelegen, bevor sie sich aus ihrem Schlupfwinkel emporarbeitet.« Dann spreizte er seine rechten Lider und presste das Auge in die Höhle. »Wohingegen ihre rasche Reaktion eher auf ein schuldbewusstes Hochschrecken hindeutet.«
»Auch Molly darf sich hin und wieder ausruhen«, sagte ich.
»Humbug.« Mr G humpelte zum Kaminspiegel und fuhr sich mit den Fingern durchs dichte pechschwarze Haar. »Ihr ganzes Leben besteht aus purem Müßiggang.«
Ich wollte ihn gerade fragen, wer wohl hier die ganze Hausarbeit erledigte, als Molly hereinplatzte. Zu meinem Erstaunen - schließlich bezichtigte Sidney Grice unser Dienstmädchen regelmäßig, in ihrer Uniform zu schlafen -, war ihre Schürze strahlend weiß und faltenlos, wenngleich ihr fuchsrotes Haar wie so oft aus den Spangen gerutscht war, die es bändigen und unter der gestärkten Haube halten sollten.
»'ne Dame wünscht Sie zu sehen, Sir«, verkündete sie und präsentierte ihm das silberne Visitenkartentablett. »Ich hab ihr gesagt, dass Sie sich nich recht wohlfühlen nich, aber sie meinte, es ist dringend.«
»Was fällt dir ein, mit Wildfremden über meine Gesundheit zu reden?«
»Aber es is doch niemand sonst nich da, mit dem ich drüber reden könnte«, erwiderte sie schlüssig. »Miss Middleton ist zu - ach, wie heißt das Wort noch mal?«
»Diskret«, schlug ich vor.
»Langweilig«, beschloss sie.
Ihr Dienstherr schnappte sich die Karte vom Tablett und beschirmte sie mit der Hand wie ein argwöhnischer Pokerspieler. »Miss Charity Goodsmile - was für ein deprimierend fröhlicher Name - aus der West Grundy Street 28.« Er verzog das Gesicht. »Keine sehr angesehene Adresse. Hoffentlich glaubt sie nicht, ich würde mit meinem Honorar runtergehen, wenngleich ihr Aufzug durchaus vermuten lässt, dass sie es sich leisten kann.«
»Sie redet nich wie 'n armer Schlucker«, warf Molly ein.
»Mein Gedächtnis muss nachlassen.« Ihr Dienstherr rieb sich die Stirn. »Ich kann mich nicht entsinnen, dich je um deine hirnlosen Mutmaßungen gebeten zu haben.«
»Machen Sie sich da mal ja nich keine Sorgen«, versicherte ihm Molly. »Ich vergess ständig, beim Kaufmann nach Ihrem Wechselgeld zu fragen oder furchtbar wichtige Nachrichten weiterzugeben, und mit meinem Gehirn is alles in bester Ordnung.«
»Außer, dass du es nie in Betrieb genommen hast«, ätzte mein Vormund. »Führ meinen Besuch herein.«
Ich klappte meine Aufzeichnungen zu und erhob mich, während Molly hinausging, um unseren Gast hereinzubitten.
»Miss Charitable Goodsmell«, verkündete Molly großtönend, und eine schlanke junge Dame folgte ihr ins Studierzimmer.
»Smile«, verbesserte sie die Frau mit sanfter Stimme. Molly bleckte unsicher die Zähne.
»Raus mit dir«, schalt Mr G. »Und bring uns Tee.«
Molly lief rot an, knickste linkisch und verschwand.
»Mr Grice«, sagte die Dame leise. Sie war im Trauerstaat, nur den dünnen Florschleier an ihrem Hut hatte sie zurückgeschlagen. »Wie freundlich von Ihnen, mich zu empfangen.«
»Bitte verwechseln Sie meine Neugier nicht mit Freundlichkeit.« Mr G nahm ihre Hand und verbeugte sich, weniger aus Höflichkeit, als um ihre Hand eingehender zu studieren. Sie war eine bildhübsche Frau, gut zehn, zwölf Zentimeter größer als wir beide, deren rabenschwarzes Haar und nachtfarbenes Kleid sich vorzüglich von ihrem blassen Teint abhoben. Sie hatte weiße makellose Haut und lange Wimpern, die einzigen Farbtupfer in ihrem Gesicht waren das Zartrosa ihrer Lippen, die dunklen, schmalen Linien ihrer Brauen und ein leiser Schimmer Himmelblau in ihren mandelförmigen Augen.
»Setzen Sie sich doch, Miss Goodsmile.« Er geleitete sie zu meinem Sessel, und sie hockte sich aufrecht ganz vorn auf das Polster.
»Meine Freunde nennen mich Cherry.«
»Es tut mir leid, das zu hören.« Er nahm im Sessel gegenüber Platz. »Diese andere Frau hier .«, er wies flüchtig in meine Richtung, ». ist meine Assistentin Miss Middleton.«
Ich gab ihr die Hand. »Wie geht es Ihnen, Cherry? Nennen Sie mich doch March.«
Ich zog mir einen der Walnussstühle vom runden Tisch herüber und nahm zwischen den beiden Platz, dem Kamin zugewandt.
»Der kürzliche Verlust Ihres Vaters muss Sie schwer getroffen haben, insbesondere, da er von Ihrer Mutter getrennt lebte und Sie weder Brüder noch ältere Schwestern haben«, erklärte mein Vormund, und unser Gast straffte den Rücken.
»Sie haben Ihre Hausaufgaben gemacht, Mr Grice.« Zwei dicke Falten kräuselten ihre Stirn. »Aber woher wussten Sie, dass ich zu Ihnen kommen würde?«
Mr G ließ ein dünnes Lächeln aufblitzen. »Noch vor zwei Minuten und vierzehn Sekunden wusste ich nicht einmal, dass Sie existieren.«
»Man muss kein Detektiv sein, um zu sehen, dass ich einen Verlust erlitten habe.« Sie griff sich an den Schleier. »Doch der Rest Ihrer Ausführungen verblüfft mich.«
»Das ist der Siegelring eines Mannes.« Mr G wies auf die Silberkette um ihren Hals, an der ein goldener, mit einer Siegelplatte versehener Ring baumelte.
»Der könnte auch meinem verstorbenen Gatten gehören«, wandte Cherry Goodsmile ein, doch Mr G schnaubte nur verächtlich.
»Sie tragen keinen Ehering, und wenn Sie ihn abgenommen hätten, um Ihre neuerliche Verfügbarkeit auf dem Heiratsmarkt kundzutun - was obendrein geschmacklos wäre, da Sie noch in tiefer Trauer gehen -, befände er sich ebenfalls an dieser Kette.« Sidney Grice musterte sie prüfend. »Und besäßen Sie einen Bruder oder eine ältere Schwester, wäre der Ring an einen von ihnen gegangen.«
Sie nickte kaum merklich. »Und was ist mit meiner Mutter?«
Mr G ließ seinen linken Daumen über die Nägel seiner Linken gleiten. »Würde sie noch immer mit Ihrem Vater zusammenleben, hätte sie den Ring genommen. Wäre sie tot, würden Sie auch ihren Ring tragen.«
Cherry Goodsmile sah ihn an. »Sie haben ein scharfes Auge, Mr Grice.«
Mein Vormund zuckte mit den Schultern. »Ich sehe nichts, was andere nicht auch sehen können. Was mich von ihnen unterscheidet, ist, dass ich dem, was ich sehe, tatsächlich Beachtung schenke. Mein kolossaler Scharfsinn liegt darin, dass ich weiß, welche Schlüsse ich aus meinen Beobachtungen zu ziehen habe.«
»Dann können Sie mir vielleicht auch sagen, warum ich hier bin?«, wollte sie wissen. Mein Vormund legte den Kopf zur Seite.
»Ich bin imstande, Bücher, Straßenschilder und Zeitschriften in acht Sprachen zu lesen, Gedanken jedoch in keiner davon.« Er lehnte sich zurück. »Nun, selbstverständlich könnte ich mutmaßen, dass es etwas mit dem Tod Ihres Vaters zu tun hat, aber das Selbstverständliche war mir schon immer höchst zuwider, und ich hasse Rätselraten.«
Molly kehrte zurück und stellte ein Tablett auf den Tisch zwischen uns.
»Das stimmt«, beschied sie unseren Gast. »Letztes Weihnachten hat er sich sogar geweigert >Wer bin ich?< mitzuspielen, als Miss Middleton so getan hat, als wär sie dieser Bohner-Pate, oder wie der noch mal heißt.«
»Napoleon«, korrigierte ich sie.
»Mmh, ich hätt schwören könne, der hieß Bohner-Pate«, sinnierte sie. »Und dann haben Sie diesen lustigen...
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