Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Meine Patentante hatte die Füße auf einem Kissen und niedrigen rechteckigen Tisch liegen und wollte sie herunternehmen, als sie mich eintreten sah.
»Steh doch bitte nicht auf, Tantchen.« Ich ging hinüber, um sie zu küssen, und war bestürzt, wie gebrechlich sie geworden war. Meine Patentante war schon immer klein und zierlich gewesen, doch heute im trüben Lichtschein sah sie winzig aus, und als ihre Hände meine ergriffen, waren sie knochig und zittrig.
Tante M setzte die Füße auf den von Brandlöchern gesprenkelten Perserteppich. »Dreh das Licht auf, Schatz. Lass mich dich ansehen.«
Ich fummelte an den Gashähnen und wünschte, sie ließe sich Strom legen. Diese Lampen gaben bloß schwaches Licht ab - kaum genug zum Lesen - und Dämpfe, die beinahe umgehend meine Kehle und Augen reizten. Mr G hatte es für gefährlich gehalten, Elektronen in sein Haus einzuspeisen, doch schien mir seine Patentochter diese Auffassung nicht zu teilen.
»Wunderschön siehst du aus«, sagte March Middleton, »so groß und anmutig, und dieses Haar - tausend Guineen würde ich für deinen Goldschopf geben und immer noch ein gutes Geschäft machen. Zeig mal deinen Arm.«
Ich krempelte meinen Ärmel auf, damit sie mit Kennerblick den Stumpf an meinem rechten Unterarm begutachten konnte. »Verheilt ziemlich langsam. Tut er noch weh?«
»Wenn er nicht juckt.«
»Und du hast ein Phantomglied«, sagte sie mitfühlend.
»Wie kannst du das wissen?«
»Du hast es beim Vorbeugen ausgestreckt, um dich an der Sessellehne abzustützen, ehe du dir darüber im Klaren wurdest.«
»Manchmal versuche ich immer noch, mit meiner Hand etwas aufzuheben«, gab ich zu.
»Natürlich war es eine viel kleinere Verletzung, aber mir hat ein Hypnotiseur geholfen, als ich meinen Zeh einbüßte.« March Middleton lachte leise. »Was sind wir doch für eine Sippe, du und ich und dazu Mr G ohne sein Auge.«
»Ist der Hypnotiseur noch tätig?«, fragte ich.
»Aber nein, Liebes.« Tante Ms Auge zwinkerte. »Er hat mich behandelt, als ich ihn in der Todeszelle besuchen kam.«
»Der letzte Mann, den ich im Gefängnis besucht habe, wollte mich erwürgen«, erzählte ich ihr. »Was ihm auch fast gelang.« Ich legte die Hand an meine Gurgel. »Aber wie geht es dir?« Zu Lebzeiten ihres Vormunds blieb der Sessel, in dem sie saß, ausschließlich ihm vorbehalten, doch nach seinem Tod übernahm sie das Möbelstück, statt - wie sie es begründet hatte - Fremde darin sitzen zu lassen. Ich muss eines der wenigen Kinder gewesen sein, die den Schoß des großes Mannes jemals erklommen hatten, und so gut wie sicher das einzige mit genug Frechheit, ihn Onkel G zu nennen. Ich nahm einen Stuhl vom runden Tisch, um mich zu ihr zu setzen.
»Mir geht's gut.« March winkte meine Besorgnis ab. »Alle machen sie Gewese um mich und sollten es von mir aus bleiben lassen.«
Hoffentlich machen die Leute Gewese um mich, wenn ich auf die Achtzig zugehe, dachte ich, sagte aber: »Du siehst nicht gerade gesund aus. Warst du schon beim Arzt?«
»Der werte Dr. Picaday kommt täglich.« March hustete aus der Brust heraus. »Er versucht, meine Zigaretten zu konfiszieren. Er trägt sogar Jenny auf, meinen Gin wegzuschütten, aber ich kenne zu viele grausige Arten, Leute zu ermorden, als dass sie diese Anweisung befolgen würde.«
Ich lachte. »Solltest du nicht das Bett hüten?«
»Hab ich auch gedacht, bis Picaday es anordnete.«
March Middleton war noch nie eine gehorsame Befehlsempfängerin gewesen und hätte wohl andernfalls auch nicht so lange in einer Welt überlebt, die noch mehr für Männer gemacht war als jede mir bekannte.
»Vielleicht kannst du dich ja nachher etwas ausruhen.« Ich legte eine Hand auf ihren schmächtigen Arm.
»Vielleicht.« Meine Patentante runzelte die Stirn. »Ich bin nicht mehr ganz auf dem Laufenden, aber es fehlt nur wenig. Inspektor Franklin kommt noch beinahe jede Woche zu Besuch. Du hast eine schwierige Zeit durchgemacht, Betty.«
»Nicht nur eine«, räumte ich säuerlich ein.
March Middleton hob den Kopf, und die Anstrengung schien sie zu ermüden, doch jene braunen Augen waren flink und scharfsichtig wie eh.
»Du hast dich aber nicht an mich gewandt.«
»Ich wollte dich nicht beunruhigen«, setzte ich zögerlich an, sah meine Patentante so alt und kränklich und dachte, dass es auch nicht anständig wäre, es jetzt zu tun.
March Middleton hüstelte leise, beinahe als würde es ihr behagen. »Ich saß in diesem Zimmer in der Falle mit dem erblindeten Mr G und dieser Kreatur, die darauf aus war, uns alle abzuschlachten, als .« Meine Patentante biss sich auf die Lippe und hustete erneut.
»Sag's bitte nicht«, flüsterte ich, denn - wenn sie es auch nicht fertigbrachte, eine Schilderung jenes schrecklichen Tags am Grosvenor Square zu veröffentlichen - ich hatte sämtliche Polizeiberichte über die Ereignisse gelesen.
»Glaubst du, was immer du mir zu erzählen hast, könnte mich stärker beunruhigen als das?«
»Natürlich nicht.« Ich senkte den Kopf. »Aber ich will dir keine zusätzlichen Sorgen machen.«
»Schau mich an.« Für eine so kleine Frau strahlte March Middleton große Bestimmtheit aus. Ich gehorchte, und sie nickte. »Erzähl schon«, sagte sie, eben als das Dienstmädchen den Tee hereintrug.
Ich nahm das Kissen fort, damit Jenny das Tablett auf den Tisch stellen konnte, ehe sie daran vorbeischlüpfte, um das Feuer zu schüren und eine ordentliche Schaufel Kohlen nachzulegen.
»Hast du denn nicht gehört, dass es Krieg geben könnte?« March Middleton murrte über ihren verschwenderischen Umgang mit dem Brennstoff.
»Hab ich wohl, Miss«, fauchte Jenny. »Hab auch gehört, dass man sich in der Kälte den Tod holt.«
»Mir ist so schon warm genug«, widersprach ihre Arbeitgeberin. »Am ehesten noch zu heiß.«
»Kann kaum sein.« March Middleton hüllte sich noch immer nach alter viktorianischer Sitte - nur Turnüren trug sie längst keine mehr - in ein Kleid von zugegeben leuchtendem Rosa, das jedoch bis unter ihre Fußknöchel reichte, deren flüchtiger Anblick die Männer ihrer Generation empört oder erregt hätte. Ich besann mich darauf, dass sie in den wilden Zwanzigern sechzig gewesen wäre - ein wenig zu alt für einen modischen Flapper.
»Stimmt das?« Das Dienstmädchen durchbohrte mich mit einem derart argwöhnischen Blick, dass ich mich bald fragte, ob sie mich am Ende noch zu verschlingen erwog.
»Dir ist doch recht kühl«, meinte ich zu meiner Patentante.
»Die Jugend ist nie zufrieden, ehe sie nicht dampft«, konterte sie ohne echte Kratzbürstigkeit. Ihr Blick fiel prüfend herüber. »Es gibt kein Gebäck, nicht mal Plätzchen. Sogar du kannst kaum die ganze Kiste verputzt haben, die mir der Herzog gestern geschickt hat.«
»Ärztliche Anweisung.« Jenny schlüpfte wieder zurück um den Tisch.
»Zahlt Dr. Picaday deinen Lohn?«, erkundigte sich Tante M gereizt.
»Nein.« Jenny richtete sich schlangengleich auf. »Aber werden Sie zu Ihrer Leichenschau kommen und klarstellen, dass ich von Ihnen gezwungen wurde, Sie an Unterkühlung sterben zu lassen oder an lauter ungesundem Essen?«
»Womöglich nicht.« Meine Patentante hustete, und Jenny schlängelte sich von dannen, um die Tür sehr leise zu schließen, als fürchtete sie, uns aufzuwecken. »Mr G meinte ja, ich sei zu weichherzig. Der hätte sie auf der Stelle entlassen.«
»Bin mir nicht sicher, ob sie gehen würde, selbst wenn du's tätest.«
Tante M schmunzelte.
»Sie macht mir Angst«, gestand ich.
»Und all den Reportern und Sensationshungrigen, die mir aufs Haus rücken.« Tante M spielte mit dem Ring an ihrem Finger. »Das ist ihr größter Vorzug.«
Ich rührte den Tee um. »Dich schreckt sie gar nicht?«
Ich wartete darauf, irrsinnige Geschichten von Mördern zu hören, denen sie in den dunklen Gassen des East End entgegengetreten war, doch March Middleton lachte. »Ein bisschen.«
»Soll ich einschenken?«
»Tu das, aber wag es nicht, mir den Zucker verbieten zu wollen.« Meine Patentante sah mir bei einer Verrichtung zu, die sie - wenn auch zweifellos sachkundiger - am selben Tisch viele Tausend Male vollzogen haben musste. »Also.« Sie hob ihre Tasse und Untertasse mit ruhigerer Hand, als ich erwartet hatte. »Dann erzähl mal.«
Ich holte Luft. »Ich weiß, es klingt verrückt.«
Die Oberfläche ihres Tees erzitterte in konzentrischen Ringen, und meine Patentante sah mich scharf an. »Häufig tun das die besten Ideen.«
»Aber ich will dableiben - bei der Polizei, meine ich, aber .«
»Nur weiter.«
»Keinen Schreibtischposten.«
March Middleton berührte ihr Haar. Es war jetzt grau, aber immer noch kräftig und säuberlich zurückgebunden. »Das hab ich von dir zu hören gehofft.«
»Sie wollen nicht auf mich hören. Kannst du da irgendwas machen?«
»Vielleicht.« Meine Patentante rieb ihren Daumen und zwei Finger aneineinander, als drehte sie sich eine Zigarette.
Die Türklingel schellte, und ich hörte Schritte auf dem Flur.
»Jenny muss gelauscht haben«, bemerkte Tante M und erläuterte dann angesichts meiner Verwunderung: »Ich habe ihr Kleid das Geländer streifen hören, und dann trat sie erst zu laut auf, als sie zurückkam und es wieder streifte.«
»Wir könnten dich bei der Polizei gut gebrauchen«, sagte ich,...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.