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Über einen Zeitraum von rund 300 Jahren sollte Venedig fortan eine maßgebliche Rolle in der europäischen Politik spielen. Eine Handelsrepublik als politische Großmacht - das erscheint zunächst als eine ungewohnte Vorstellung, zumal in Mitteleuropa. Doch ist die kontinentale Sicht der Dinge keineswegs eine «natürliche», sondern eine kulturell geprägte, wie ein Blick in die Geschichte lehrt, in der des öfteren große Seereiche dominiert haben, etwa das britische Empire im 19. Jahrhundert. «Alles, was die Englandschwärmer vom 18. bis zum 20. Jahrhundert an England bewundert haben, ist vorher bereits an Venedig bewundert worden», so die Beobachtung des Staatsrechtlers Carl Schmitt in seiner klugen Schrift über «Land und Meer»: «Der große Reichtum; die diplomatische Überlegenheit, mit der die Seemacht die Gegensätze zwischen den Landmächten auszunützen und ihre Kriege durch andere zu führen wußte; die aristokratische Verfassung, die das Problem einer innenpolitischen Ordnung gelöst zu haben schien; die Toleranz gegenüber religiösen und philosophischen Meinungen; das Asyl freiheitlicher Ideen und politischer Emigration. Dazu kommt der bezaubernde Reiz prunkvoller Feste und künstlerischer Schönheit.»
Der große Reichtum - wo kam er her und wie kam er zustande? Auf die erste und fundamentalste Voraussetzung für den Reichtum der Venezianer ist bereits hingewiesen worden. Sie bestand im erst langsam, seit dem 13. Jahrhundert dann immer schneller wachsenden wirtschaftlichen Austausch innerhalb Europas, aber auch zwischen Europa und dem Orient. Die Bevölkerungszahl stieg, es stieg die Produktivität der Gesellschaft und damit der Bedarf nach Handel. Handel aber war nach Lage der Dinge zum größten Teil Seehandel. Nur auf dem Wasser ließen sich Güter in größerer Menge mit vertretbarem Aufwand transportieren. Der Landweg war dagegen im wahrsten Sinne des Wortes steinig: Wer hätte Straßen über große Distanzen bauen und unterhalten sollen, in einem vorstaatlichen Zeitalter, und wie sollte man auf den kaum befestigten Feldwegen, die als Fernstraßen dienten, mit schweren Lasten große Entfernungen überwinden, in einer Epoche, die beim Transport ausschließlich auf die Kraft von Menschen und Tieren angewiesen war?
Die Lage Venedigs am äußersten Nordrand der Adria begünstigte seinen Aufstieg zur wichtigsten Drehscheibe für den Handel zwischen dem Abendland und der Levante, denn durch den Umschlag in der Lagune ließ sich ein möglichst großer Teil des langen Transportweges aus dem Orient auf dem Wasser zurücklegen. Danach fanden die Güter durch die Poebene und über den Brenner ihren Weg nach Norden, ins Heilige Römische Reich Deutscher Nation. Im Osten gelangte man über den Karst nach Ungarn und zu den Metallvorkommen Sloweniens. Auch der Weg nach Kärnten und von dort nach Wien war nicht weit. Jedoch stellte die geographische Lage eine gewiss notwendige, aber keineswegs hinreichende Bedingung für die wachsende Bedeutung Venedigs dar. Nicht minder wichtig war die Organisation des Handels - ein Gebiet, auf dem die Venezianer Eigenartiges und Einzigartiges geleistet haben, weil sie nicht nur als Kaufleute konsequent ihre Handelsinteressen verfolgten, sondern auch als Seeleute die Welt vom Wasser her dachten.
Freilich, solange der Handel auf den lokalen Austausch billiger Massengüter wie Salz und Fisch über kurze Distanzen beschränkt gewesen war, solange hatte es auch keiner besonderen organisatorischen Anstrengungen bedurft, um ihn zu fördern. Erst mit dem quantitativen und qualitativen Wachstum des Warenaustauschs nach der Jahrtausendwende begann sich das zu ändern. Mit den größeren Entfernungen der Handelsreisen stieg auch der Aufwand, den man zu ihrer Durchführung betreiben musste, exponentiell an. Denn Reisen war im Mittelalter mühsam, es war teuer, und es war gefährlich. Sobald die venezianischen Kaufleute begannen, ihren Aktionsradius über den Bereich der nördlichen Adria auszudehnen, sahen sie sich genötigt, die Ausrüstung ihrer Schiffe zu verbessern: Sie wurden größer, denn es galt nun, den Wetterverhältnissen auf hoher See, vor allem in der Ägäis mit ihren unberechenbaren Winden, zu trotzen. Um die größeren Schiffe navigieren zu können, brauchte man mehr Personal; und schließlich musste die Mannschaft bewaffnet werden, denn Seefahrt war nicht nur aus meteorologischen Gründen risikoreich. In einer Zeit vor der Entwicklung des modernen Staates und des späteren Völker- und Seerechts verliefen die Grenzen zwischen Handelsschifffahrt und Piraterie fließend. Selbst in Friedenszeiten musste der Kaufmann jederzeit damit rechnen, von anderen Schiffen, denen er auf hoher See begegnete, angegriffen zu werden. Darüber hinaus befand sich Venedig, je mehr sein Reichtum und seine Macht wuchsen, immer häufiger im Kriegszustand mit anderen Mächten, die naheliegenderweise versuchten, seinen Handel durch Kaperung der venezianischen Schiffe zu treffen.
Es bedurfte also einer unternehmungslustigen und risikofreudigen Mentalität, um sich den Gefahren des Seehandels auszusetzen. Die Handelsreisen, in deren Organisation sich diese Mentalität im hohen Mittelalter manifestierte, beruhten zunächst auf dem Familienverband. Eine sogenannte fraterna bestand aus mehreren Verwandten, die sich gemeinsam auf Handelsreise begaben. Die zweifellos berühmteste fraterna war die der Familie Polo, die im Jahre 1271 in die Levante aufbrach und Marco Polo, seinen Vater Niccolo und seinen Onkel Matteo vereinte. Schon zuvor hatten Angehörige der Familie Polo von Konstantinopel aus, wo sich seit 1204 immer mehr venezianische Kaufleute niederließen, Handelsreisen bis in den Fernen Osten unternommen. Berühmtheit erlangte Marco Polo, nach Ansicht Alexander von Humboldts einer der «größten Reisenden aller Zeiten», nicht aufgrund seiner Reise an sich (die ihn bis an den Hof des Kuhbilai Khan im fernen China führte), sondern wegen seines ausführlichen Berichts über das Leben am Hof des Großkhans, der zu den wertvollsten kulturgeschichtlichen Dokumenten aus dem Mittelalter zählt. Doch führten die Handelsreisen venezianischer Familienverbände im 13. und 14. Jahrhundert gar nicht so selten bis in den Fernen Osten: Die venezianischen Kaufleute hatten sich zu global players entwickelt.
Womit handelten sie? Der Wagemut der Venezianer hatte seinen Grund nicht allein in blanker Abenteuerlust, sondern mehr noch in den märchenhaften Gewinnspannen, die sich mit den Gütern erzielen ließen, welche sie aus dem Nahen und Fernen Osten nach Europa brachten. Denn viele dieser Importartikel waren nur aus dem Osten zu beziehen: bestimmte Gewürze wie vor allem der Pfeffer, pharmazeutische Mittel, manche Farbstoffe, Seide, Brokat, Perlen - und Sklaven. Bis weit ins 15. Jahrhundert hinein stellte der Handel mit dieser menschlichen «Ware» eine der Haupteinnahmequellen der venezianischen Kaufleute dar. Selbst vorsichtige Schätzungen gehen davon aus, dass über die Jahrhunderte Millionen von Sklaven auf den Märkten am Rialto verkauft wurden. Im Export hingegen dominierten die Woll- und Leinenstoffe aus der oberitalienischen Tuchproduktion, außerdem Holz - ein in der Levante knapper, aber überaus wichtiger Rohstoff - sowie Edelmetalle.
Der Handel mit all diesen Gütern war nicht nur aufwendig und gefährlich, sondern auch kapitalintensiv, und so überrascht es nicht, dass sich im Laufe der Zeit neben der traditionellen fraterna, die allerdings als familiäre Grundstruktur der venezianischen Gesellschaft ihre Bedeutung behielt, andere Formen der Handelsorganisation entwickelten. In der colleganza schlossen sich idealerweise zwei Kaufleute zusammen. Der eine der beiden Partner stellte den größeren Teil, etwa drei Viertel, des für eine Handelsunternehmung nötigen Kapitals zur Verfügung, blieb aber in Venedig; der andere dagegen steuerte nur ein Viertel bei, brachte dafür aber seine Arbeitskraft in das gemeinsame Unternehmen ein. Ersterer, der sogenannte socius stans, überließ also das «operative Geschäft», die mühe- und gefahrvolle Handelsreise, dem socius procertans. Der Gewinn wurde anschließend geteilt. Diese Geschäftsform (die in vielfältigen Abwandlungen anzutreffen war) stellte für eine zunehmend differenzierte Gesellschaft ein hervorragendes Instrument dar, um unterschiedliche soziale Gruppen am Handel teilhaben zu lassen. Der arrivierte Großhandelskaufmann konnte sein Kapital einsetzen, ohne die Heimat verlassen zu müssen, während junge, unternehmungslustige Neulinge den Mangel an Bargeld durch persönlichen Einsatz und Wagemut ersetzen konnten.
Im Laufe des 14. Jahrhunderts...
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