Schweitzer Fachinformationen
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19. September 1927
Gadwin's Hallow, Indiana
Etwas steht in Flammen. Da ist sich Daniel Gadwin, als er am Nachmittag aus der Bibliothek tritt, sicher. Eine andere Erklärung kann es für den brenzligen Geruch, den der Nordostwind heranträgt, nicht geben. Rührt daher auch die für die Tageszeit ungewöhnliche Düsternis? Ist sie das Ergebnis dichter Rauchschwaden?
Daniel sieht zum Himmel hinauf, wo sich dicke, schwarze Regenwolken ballen, deren pralle Bäuche sich gen Erdboden wölben. In der Ferne grollt Donner.
Wahrscheinlich hat irgendwo ein Blitz eingeschlagen, einen Baum oder ein Gebäude erwischt. Hoffentlich kein Wohnhaus!
Er läuft die Stufen der Bibliothek hinunter und macht sich auf den Heimweg. Sicherlich ist seine Mom schon krank vor Sorge, weil er hier draußen bei drohendem Unwetter herumläuft. Er hingegen genießt die elektrisierende Atmosphäre, die innere Unruhe vor dem Sturm.
Er passiert das Rathaus, die Turmuhr schlägt drei, der Brandgeruch gewinnt an Intensität. Daniel stoppt mitten auf dem Gehweg und dreht sich um. Hinter ihm säumen beide Häuserzeilen die schnurgerade Straße, rasch wandert sein Blick daran entlang. An ihrem Ende im Nordosten ragt hoch die Bibliothek auf; irgendwo dahinter muss es brennen. Doch nirgends ist der orangerote Schimmer eines Feuers zu sehen. Dafür Leute, die ebenfalls stehen bleiben oder beim Laufen nach der Quelle des unheilvollen Geruchs Ausschau halten. Darunter eine junge Frau, die vier rot-weiße Dosen an ihre Brust drückt, wahrscheinlich Campell's. Sie hat es eilig, trotzdem reckt sie immer wieder den Hals. Es ist kaum mit anzusehen. Bestimmt stolpert sie gleich. Da liegt sie auch schon! Ein älterer Mann hilft ihr auf und ein Mädchen sammelt drei der Dosen ein, die über den Gehweg kullern. Die vierte rollt unter ein Auto und wird vergessen. Die drei unterhalten sich kurz, dann wenden sie sich gleichzeitig in Richtung Bibliothek. Daniel wartet auf eine Reaktion. Auf einen Fingerzeig, einen Aufschrei, Hysterie . doch nichts.
»Siehst du was?«, fragt ein kleiner Junge seine Mutter. Er greift nach ihrer Hand, drückt sich an ihr Bein und zieht den Kopf wie eine Schnecke ein.
Seine Mutter blickt nach Nordosten. Ihr langer, schwarzer Mantel bläht sich im Wind wie ein Ballon, ihre roten Haare fliegen nach hinten, lodernd wie das Feuer, das irgendwo im Verborgenen brennt.
Daniel wartet gespannt auf ihre Antwort. Sie ist viel größer als er. Vielleicht sieht sie etwas; Rauch, Funken, die Spitzen züngelnder Flammen .
»Nichts, mein Schatz.«
Enttäuscht wendet sich Daniel ab und folgt weiter der Straße, die von der Bibliothek weg und dabei leicht und stetig bergauf führt. Wenn er erst den höchsten Punkt erreicht hat, wird er mehr sehen. Und mehr wissen als alle anderen, die nach und nach in Seitenstraßen abtauchen, in Geschäfte oder Wohnhäuser abbiegen, ihrem Alltag nachgehen, als wäre nichts.
Als läge nichts in der Luft.
Bald ist Daniel allein unterwegs. Irgendwo hinter ihm zuckt ein Blitz, kurz darauf erschüttert ein Donnerschlag die Grundmauern der Stadt. Die Luft vibriert, der Boden unter seinen Füßen erzittert. Es wird dunkler und dunkler; die Nacht scheint hereinzubrechen. Gleichzeitig wird der Wind stärker, legt sich wie eine große Hand an seinen Rücken und schiebt ihn die Straße hinauf, als wollte er ihm etwas Wichtiges zeigen. Und so stolpert er bergauf, sein Ziel - der höchste Punkt - vor Augen.
Schließlich erreicht er es. Inzwischen hat sich der Brandgeruch verflüchtigt; er denkt kaum mehr daran und vergisst ihn ganz, als Erin und Donnie Winslow vor ihm in sein Blickfeld geraten. Sie jagen ihren Zeitungen hinterher und versuchen, sie vor dem nahenden Unwetter zu retten. Der Verkaufsstand muss heute wohl nach drinnen verlegt werden. Böen ohrfeigen Erin, reißen an ihr, schubsen sie erst in die eine, dann in die andere Richtung. Ihr Mann hingegen, ein echtes Schwergewicht, bewegt sich mit der Unerschütterlichkeit eines Frachtschiffs durch den Sturm, langsam und behäbig, so als wehte nicht ein Lüftchen. Indes prallt Böe um Böe, Welle um Welle einfach an ihm ab.
Plötzlich hält Donnie in seinem Tun inne und wendet sich nach Daniel um. Dieser hebt die Hand zum Gruß, doch Donnies Blick geht glatt durch ihn hindurch, über ihn hinweg - Richtung Nordosten.
»Heilige Scheiße!«, dröhnt Donnie.
»Du sollst nicht fluchen, Donnie Winslow!«, keift Erin, fährt zu ihm herum, bemerkt Daniel und lächelt ihm zu. »Vor allem nicht vor dem Pfarrersjungen und . O Gott!«
Donnie Winslow ignoriert sie oder hört sie nicht - einerlei.
»Heilige Scheiße!«, wiederholt er nur. »Sie brennt! Die verdammte Kirche brennt!«
Daniel wirbelt herum, wendet sich der kleinen Stadt zu, die vor ihm ausgebreitet liegt, und dem dichten Wald, der sich dahinter an ihre Grenze schmiegt. Das Entsetzen packt ihn.
Er ist nicht zu übersehen, der brennende Kirchturm. Sonst ragt er schneeweiß aus dem Wald auf. Nun verhüllt ihn ein Vorhang aus schwarzem Rauch. Windböen lüften diesen gelegentlich und die Flammen, die den Turm verzehren, kommen zum Vorschein. Um das Gotteshaus wogen die Bäume hin und her. Der Kirchturm - der brennende Mast eines sinkenden Schiffes in unruhiger See.
Daniels Gedanken jagen. Ist sein Vater in der Kirche? Zusammen mit anderen Leuten? Und was soll er tun? Wohin soll er gehen? Zur Kirche? Seinen Vater suchen? Nach Hause? Seiner Mutter Bescheid geben? Letzteres wird er tun. Denn was könnte er, ein Junge von zwölf Jahren, schon gegen ein Feuer ausrichten?
Kaum hat Daniel seine Wahl getroffen, setzt ein sintflutartiger Regen ein. Innerhalb von Sekunden ist er bis auf die Haut durchnässt. Egal! Er muss sich beeilen!
Halb blind sprintet er durch die Straßen. Die Sturzflut droht, die Stadt zu ertränken. Als er sein Elternhaus erreicht, zittern seine Hände dermaßen, dass er seinen Schlüssel in der Tasche lässt. Er hebt die Faust und pocht gegen die Haustür. Zu seiner Überraschung schwingt sie auf.
Daniel stolpert über die Schwelle und verharrt dann reglos im halbdunklen Flur. Lautlos wie eine Saloontür schwingt die Haustür hinter ihm heran; einen Spaltbreit bleibt sie offen, durch den gedämpft das Prasseln des Regens dringt. Wassertropfen fallen von seiner Jacke auf den makellosen Holzboden. Die Stille ist erdrückend. Aus der Küche dringt Licht und der Mantel seiner Mom hängt am Ständer neben ihm. Er könnte nach ihr rufen, doch er wagt es nicht.
Daniels Herz klopft schnell und schwer in seiner Brust. Nicht nur vom Sprint. Zögerlich setzt er einen Fuß vor den anderen. Je näher er der Küche kommt, desto heller wird das Licht, desto weicher werden seine Knie. Auf halbem Weg hält er inne. Ein Geruch liegt in der Luft. Kein Rauch, sondern etwas anderes. Stechend, metallisch, Übelkeit erregend .
»Daniel! Daniel, wach auf!«, beschwor ihn eine vertraute Stimme; jemand rüttelte sanft an seiner Schulter.
Daniel erschrak, riss seine Augen auf und blinzelte. Die tiefstehende Abendsonne blendete ihn, ihre rotgoldenen Strahlen fielen durch die Lücken zwischen den Bäumen. Schwer atmend schirmte er seine Augen mit einer Hand ab und setzte sich auf. Unter ihm knisterte vertrocknetes Laub. Was machte er nur hier draußen? Da fiel es ihm wieder ein: Irgendwann am Nachmittag hatte er sich am Fuße eines Baumes ins Gras plumpsen lassen und sich träge an dessen Stamm gelehnt. Die Luft war angenehm warm und alles um ihn herum still gewesen. Er musste eingeschlafen sein. Kein Wunder! Er war furchtbar müde gewesen. Irgendeiner der anderen Jungen im Schlafsaal, vermutlich Sammy, hatte die halbe Nacht geheult, dabei geräuschvoll geschluchzt und geschnieft.
Auch Daniel war im Moment nach Heulen zumute - den brennenden Kirchturm kristallklar vor Augen, den Geruch nach Blut in der Nase -, doch er nahm sich zusammen. Schließlich war er nicht allein. Sein Blick glitt zu Ernest, dessen Stimme ihn geweckt hatte. Er ging neben Daniel in die Hocke und musterte ihn eindringlich.
Ernest war ein schlanker, hochgewachsener Mann in den Zwanzigern, dessen dunkles Haar schon ins Grau spielte, so wie die Blätter einiger Laubbäume bereits Ende August begannen, sich zu verfärben. Seine Gesichtszüge waren warm und weich, und selbst wenn seine Stimmlage verriet, dass er zornig war, wollten sich seine Züge nicht erhärten. Vor knapp einem Jahr war Daniel ihm das erste Mal begegnet, vor der geöffneten Tür des Waisenhauses im Gegenlicht des schweren Kronleuchters in der Eingangshalle - es hatte ausgesehen, als hätte ihn ein Glorienschein umgeben.
»Hattest du wieder den Traum?«, fragte Ernest leise, vertraulich.
Daniel nickte schwach, doch im Stillen korrigierte er ihn: nicht der Traum, sondern die Erinnerung - in Form eines wiederkehrenden Albtraums.
Ernest sah...
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