Schweitzer Fachinformationen
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Der Notar, ein schmächtiger Mann mit einer randlosen Brille und einer überaus korrekt sitzenden Krawatte, räusperte sich. Dann begann er, das Dokument in der aufgeschlagenen Ledermappe vorzulesen. Die wenigen Dinge, die sich außerdem auf seinem riesigen Schreibtisch befanden, darunter ein Füller, ein Zettelkasten und sonderbarerweise eine Packung Kaugummi, waren in Parallelen und rechten Winkeln zueinander angeordnet.
»Trennungs- und Scheidungsfolgenvereinbarung«, las der Notar.
Seine Stimme war so hoch, dass Almut sich sorgte, nicht lange gefasst bleiben zu können. In Situationen, in denen man große Ernsthaftigkeit von ihr erwartete, überkam sie oft der Drang zu kichern. Das war schon seit ihrer Jugend so. Inzwischen war sie zweiundfünfzig, aber diese kindische Schwäche hatte sie nie ganz überwunden.
»Heute - den fünften Juni - erschienen gleichzeitig vor mir - Doppelpunkt. Erstens«, las der Notar, »Herr Christoph von der Karst, geboren elfter März - Wirtschaftsingenieur und Chief Operating Officer der Saalbaum Trading GmbH und Co. KG -«
Almut fand, er klang fast wie die Synchronstimme von Tony Curtis in >Manche mögen's heiß<.
»Zweitens«, las der Notar weiter, »Almut von der Karst - von Beruf Hausfrau, nach Angabe im gesetzlichen Güterstand der Zugewinngemeinschaft verheiratet.«
Almut versuchte zu rekapitulieren, wie das Telefonat mit ihrer Mutter gestern Abend geendet hatte. Sie hoffte, die Erinnerung daran würde ihr helfen, angemessen betreten zu gucken.
»Römisch eins. Persönliche Verhältnisse. Unsere Ehe haben wir - am achtundzwanzigsten August - vor dem Standesbeamten in Hamburg-Nord unter der Heiratsregisternummer zweiunddreißig Schrägstrich eins neun zwo geschlossen -«
Eigentlich war das Gespräch ganz friedlich verlaufen. Sie waren schon bei den Abschiedsfloskeln angelangt, aber dann hatte Almut den heutigen Notartermin erwähnt und dass er ihr bevorstand. Daraufhin hatte ihre Mutter mal wieder eine ihrer Predigten gehalten. Was für ein begabtes Mädchen sie, Almut, gewesen sei und dass Großes aus ihr hätte werden können, wenn sie sich nur genug angestrengt hätte.
Stattdessen hatte Almut sich mit einer großen Familie begnügt und damit, ein großes Haus, einen Mann und vier Kinder zu umsorgen.
»Römisch zwo. Scheidungsverfahren. Vor dem Amtsgericht Hamburg ist ein Scheidungsantrag - unter dem Aktenzeichen einundsiebzig eff vierundzwanzig Schrägstrich neunzehn - anhängig. Zur Regelung aller Trennungs- und Scheidungsfolgen und zur Auseinandersetzung unseres beiderseitigen Vermögens -«
Sie hatte Christoph neunzehnhundertachtundachtzig auf einer Party im Café Schöne Aussichten kennengelernt. Da war sie im zweiten Semester, und er saß an seiner Diplomarbeit. Als Christoph ihr den Heiratsantrag machte, hatte er gerade seine erste Beförderung hinter sich, sie war im elften Semester und hatte sich noch nicht mal angemeldet zur Magisterprüfung.
»Die Ehefrau hat vor Eheschließung Germanistik studiert und während des Studiums geheiratet -«
Nach der Verlobung hatte sie sofort die Pille abgesetzt und war noch schneller schwanger geworden als von ihr erhofft. Bei der Hochzeit war sie im siebten Monat. Als ihre Mutter sich in der Kirche schnäuzen musste, war sich Almut keineswegs sicher gewesen, dass das aus Rührung geschah.
»In der Ehezeit hatten sich die Eheleute darauf geeinigt, dass die Ehefrau keine Berufstätigkeit ausübt und ihre Kraft und Kompetenz uneingeschränkt in die Begleitung und Erziehung der gemeinsamen vier Kinder einbringt -«
Almut guckte unauffällig nach rechts.
Christophs Ellbogen ruhten auf den Armlehnen, die Hände hatte er ineinander verschränkt. Er schien dem Vortrag des piepsigen Notars genauso gebannt zu folgen, wie er vor fünfundzwanzig Jahren der Predigt des fusselbärtigen Pastors zugehört hatte, der sie getraut hatte. Sein Auge zuckte tatsächlich, so wie sie es vermutet hatte.
»Der Ehemann verpflichtet sich - zur Zahlung von Kindesunterhalt gemäß nachfolgenden Bestimmungen -«
Wie gut sie ihn kannte.
Sein Auge zuckte immer, wenn ihm irgendwas nicht schnell genug ging. Henriette war noch ganz klein gewesen, als sie es zum ersten Mal bemerkt hatte. Eine Welle aus Wehmut schlug über Almut zusammen, erstickte die Stimme des Notars und zog sie in einen Strudel aus Erinnerungen.
Christoph war dagegen gewesen, ein viertes Kind zu bekommen. Besser gesagt, er war nicht dafür. Aber wie so oft, wenn es nicht um seine Karriere ging, war sein Interesse halbherzig gewesen und damit auch sein Widerstand.
»Meinetwegen könnten wir das Projekt Familienplanung abschließen«, war seine Antwort, als sie sagte, sie wünsche sich noch ein Kind. Er klang, als erörtere er in einem Meeting den mittelmäßigen Vorschlag eines bewährten Mitarbeiters. »Aber wenn du unbedingt willst. Die räumlichen und finanziellen Kapazitäten sind ja vorhanden, und ehrlicherweise muss man sagen, am Ende des Tages ist es so was wie dein Verantwortungsbereich. Wenn du meinst, du hast da noch freie Ressourcen.«
Bei Henriettes Geburt ein gutes Jahr später war Franziska zehn, Johann und Ludwig waren sieben Jahre alt. Almut war sechsunddreißig und hingerissen von ihrem kleinen Mädchen (und davon, dass sie immer noch jung genug war, um Leben zu schenken). Christoph dagegen, damals einundvierzig, war in Sachen Kleinkinder offenbar am Ende seiner Geduld.
Sein Auge zuckte, wenn Hetti erst vor der Haustür einfiel, dass sie doch Pipi musste, wenn sie beim Lesenüben immer wieder an denselben Wörtern hängen blieb oder wenn sie ihm vorführen wollte, wie viele Kunststücke sie auf dem Einrad schon (fast) beherrschte. Nachdem Almut das Zucken das erste Mal wahrgenommen hatte, fiel es ihr immer öfter auf. Sie tröstete sich damit, dass Christoph immerhin nicht aus der Haut fuhr.
Das tat er nie.
Vor fünf oder sechs Jahren - Hetti ging noch in die Grundschule - hatte das Auge angefangen, auch abends zu zucken, wenn Christoph, sofern er überhaupt zu Hause und nicht geschäftlich unterwegs war, auf seine hastige und immer schweigsamere Art schon fertig gegessen hatte, Almut und die Kinder aber noch nicht. Sobald das Auge zuckte, wusste sie, dass er es kaum abwarten konnte, endlich ins Arbeitszimmer oder vor den Fernseher verschwinden zu können. An Tagen, an denen sie besonders dünnhäutig war, fragte sie die Kinder, ob sie zum Nachtisch noch ein Eis wollten.
Dann hatte das Auge auch beim Sex gezuckt.
Es war eines der seltenen Male gewesen, bei denen sie ihn gedrängt hatte, sie mit der Hand zu befriedigen, nachdem er mal wieder sofort gekommen war. Sie lag mit geöffnetem Schoß und geschlossenen Augen auf dem Rücken. Er lag neben ihr und streichelte sie. Das Kinn hatte er in die andere Hand gestützt, um die Erregung in ihrem Gesicht besser lesen zu können. Jedenfalls hatte sie das gedacht, als sie die Augen zugemacht hatte, um sich auf ihre Lust zu konzentrieren. Als sie die Augen kurz öffnete, sah sie, dass Christoph ihr nicht ins Gesicht schaute, sondern auf die Schlafzimmerwand.
»Dein Auge zuckt.«
Es war das einzige Mal gewesen, dass sie es aussprach.
Sie hatte die Beine zusammengeklappt, sich weggedreht und gehofft, er würde sich die Mühe machen, irgendeine lahme Ausrede zu erfinden. Schlechte Zahlen, wichtiger Termin morgen, mit den Gedanken ganz woanders, es tut mir leid. Stattdessen zog er sich erst ein T-Shirt und dann die Unterhose an.
»Möchtest du auch was trinken?«
»Ja, gerne.« Immerhin, dachte Almut, wir gehen höflich miteinander um.
Das war vor drei Jahren gewesen, als nach Franzi auch die Zwillinge ausgezogen und sie zu dritt zurückgeblieben waren in dem Haus mit den vielen Zimmern und dem riesigen Garten. Nach diesem Abend hatte sie so lange immer wieder Nein gesagt oder stumm seine Hand weggeschoben, bis er verstand, dass er es nicht mehr zu versuchen brauchte. Kurz nach ihrem fünfzigsten Geburtstag behauptete sie, er würde so laut schnarchen, dass sie nicht mehr schlafen könne neben ihm.
»Aber ich habe noch nie geschnarcht.«
»Christoph, ich hab es aufgenommen. Mit dem Handy. Soll ich es dir vorspielen?«
»Um Gottes willen, nein.« Er klang fast panisch.
Sie hatte gewusst, dass er sich um keinen Preis würde schnarchen hören wollen. Nichts verletzte ihn mehr als seine eigene Vergänglichkeit.
Almut kaufte ein neues Bett, einen neuen Nachttisch, zwei Kerzenständer und auf Ebay eine schöne, alte Leselampe. Sie strich die Wände in Franzis altem Kinderzimmer in Hague Blue und hängte weiße Vorhänge auf. Als alles an seinem Platz stand, zündete sie die Kerzen an, legte sich aufs Bett und versuchte, sich daran zu erinnern, wann sie sich zuletzt so zu Hause gefühlt hatte in dem zu großen Haus.
Ob er wohl fremdging?
Im Herbst nach ihrem Auszug aus dem gemeinsamen Schlafzimmer hatte sie sich das zum ersten Mal ernsthaft gefragt. Sie war aus Südfrankreich zurückgekommen, wo sie mit ihrer Cousine Urlaub gemacht hatte. Er hatte sie vom Flughafen abgeholt, Blumen gekauft und einen Tisch beim Italiener um die Ecke reserviert. So liebevoll benahm er sich nur noch, wenn er außergewöhnlich gut gelaunt war. Außergewöhnlich gute Laune bekam er vor allem aus Begeisterung über sich selbst. Das war schon immer so gewesen. Abends im Restaurant versuchte sie, mehr herauszufinden.
»Wie läuft es in der Firma? Gibt es was zu feiern?«
»Nein, wieso? Aber...
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