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Herbersteins Gesandtschaft und sein Bild von Russland
Stefan Karner
Eine Beschreibung der komplexen und jahrhundertealten österreichisch-russischen Beziehungen in Politik, Wirtschaft und Kultur wäre vollkommen unvollständig, würde man dem nicht auch das Russlandbild zugrunde legen, wie es sich durch Jahrhunderte in Mittel- und Westeuropa verfestigt hat. Obwohl vielfach überlagert durch die Auswirkungen verwandtschaftlicher Beziehungen der russischen Aristokratie, vor allem mit deutschen und britischen Fürstenhäusern, durch die beiden Weltkriege, den Nationalismus des 19. Jahrhunderts, die NS-Rassenideologie und durch die Erfahrungen der Menschen in den von der Roten Armee nach 1945 besetzten Ländern, geht das Russlandbild doch auch wesentlich auf die Berichte Sigmund von Herbersteins zurück, die der kaiserliche Diplomat vor 500 Jahren verfasst hat.
An der Zeitenwende vom Mittelalter zur Neuzeit beauftragte Kaiser Maximilian I. den jungen Gesandten zu einer nahezu aussichtslosen diplomatischen Mission in das unbekannte Land der "Reissen", an den Hof des Moskowiter Fürsten. Herberstein gilt seither als der Entdecker Russlands für den Westen, obwohl er nicht der erste Russland-Reisende war und sicherlich Passagen aus anderen Reiseberichten, etwa von Johann Faber, übernommen hatte.1
Sigmund von Herberstein, Baronis in Herberstain, Neyperg & Guttenhag, Spross einer der ältesten österreichischen Familien, wurde 1486 in Wippach/Vipava/Vipacco in Krain, nahe dem Isonzo und der italienischen Grenze, geboren.2 Er war von schwacher Statur und Gesundheit. Daher kümmerten sich seine Eltern verstärkt um seine Bildung. In Wien studierte er Jus, auf den herrschaftlichen Feldern erlernte er bei den leibeigenen Bauern das damals gebräuchliche Slowenisch ("Windisch"), war mehrsprachig, ein Parade-Humanist seiner Zeit. Kaiser Maximilian I. schlug ihn 1514 zum Ritter, nachdem Herberstein, gemeinsam mit seinem Bruder Georg, der sich im "Windischen" Bauernkrieg einen unrühmlichen Namen gemacht hatte, erfolgreich die von den Venezianern niedergebrannte Festung Marano am Ufer des Tagliamento erobert hatte.
Herberstein vertrat den alten Rittergeist an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit in neuer Form, als rittermäßiger Beamter. Kaiser Maximilian I. schätzte seine Sprachkenntnisse, seine Gewandtheit und übertrug ihm heikle diplomatische Aufträge. Schnell galt Herberstein als erfolgreicher Diplomat. Polen, Litauen, Spanien, ja selbst Sultan Süleyman der Prächtige, standen auf der Reiseliste seiner mehr als 60 Missionen. Doch Russland war eine besondere Herausforderung. Nur wenige hatten das Gebiet der "Reissen" bereist und es gab nur spärliche Berichte über das weite Land, in dem bis kurz zuvor Mongolen und Tataren herrschten. Und Herberstein wollte diese Mission, obwohl zunächst jemand anderer dafür vorgesehen war. Welchen Stellenwert für ihn die Gesandtschaft nach Russland hatte, zeigt sich auch darin, dass sein Wappen als absolute Besonderheit auf der Helmzier drei Figuren führt: den römisch-deutschen Kaiser in der Mitte, den spanischen König (Karl V.) und den russischen Herrscher Vasilij III. auf den Seiten.
Abb. 1: Die in der "Moscovia" abgedruckte Landkarte ist eine der frühesten westlichen kartografischen Darstellungen der Geografie des Großfürstentums Moskau.
Quelle: Steiermärkisches Landesarchiv (StLA), Familienarchiv Herberstein, EP K. 130, H. 105a-3, S. 11.
Das Moskowitische Fürstentum war seit Langem nahezu völlig aus dem Blickfeld Europas verschwunden. In der Euphorie der Entdeckung Amerikas und anderer ferner Länder um 1500 hatte man vom Osten Europas kaum Notiz genommen. Die Politik der Chanate auf dem Boden Russlands war auch kaum mit Europa verbunden, Heiraten zwischen europäischen, mongolischen und russischen Fürstengeschlechtern blieben die absolute Ausnahme.3
Abb. 2: Wappen Sigmund von Herbersteins mit den für ihn wichtigen Herrscherfiguren auf dem Helmzier.
Quelle: StLA, Familienarchiv Herberstein, EP K. 130, H. 105a-1, S. 3a.
Das europäische und das russische Mittelalter waren weitgehend getrennt voneinander durchlebt worden. Die Kirchenspaltung, beginnend um das Jahr 1000, die fremde und gefürchtete Mongolen-Herrschaft über die russischen Gebiete mit der forcierten Abwendung der kleinen russischen Fürstentümer von Europa, hatten das Ihre dazu beigetragen. 1240 fiel Kiev ("Ravenna des Nordens"), das damals mit rund 60.000 Einwohnern so groß war wie Paris und größer als London oder Wien. Einzig das Gebiet um Novgorod Velikij blieb von den Mongolen unbesetzt. 1241 standen die mongolischen Reiter unter Dschingis Khans Enkel, Batu Khan, in Schlesien, vor den Toren Wiens und in Wiener Neustadt. Nicht die Schlacht bei Liegnitz, sondern Glück rettete damals Zentraleuropa und das Heilige Römische Reich. Nur sieben Jahre nach dem Fall Kievs und der Bedrohung des christlichen Europa starteten westeuropäische Herrscher, beginnend mit dem Papst, eine regelrechte Gesandtschafts-Pendel-Diplomatie mit Besuchen und Gegenbesuchen an vielen europäischen Höfen. Russland und seine Fürsten blieben davon weitgehend ausgenommen.
Denn das Land war, mit Ausnahme von Novgorod Velikij, unterworfen und für ein Vierteljahrtausend aus dem politischen Horizont des mittelalterlichen Europa verschwunden. Hier begann im 13. Jahrhundert der Alltag der Mongolen- und Tatarenherrschaft4, unter anderem mit einem straff organisierten Beamtenapparat. In den russischen Burganlagen, dem Kreml der Städte, saßen tatarische Statthalter und am Hofe des Khans in Sarai (nahe Volgograd) eingesetzte, abhängige, botmäßige russische Fürsten. Die Mongolen und Tataren (Turkstämme), die bald nach Beginn ihrer Herrschaft über die russischen Gebiete den Islam angenommen hatten, sicherten den orthodoxen Christen zwar weitgehende Religionsfreiheit, ihren Klöstern und Kirchen Schutz und Steuerfreiheit zu, pressten jedoch Bauern und Händler durch hohe Steuern aus, auch mithilfe der ihnen untergebenen russischen Fürsten und des Klerus.
Abb. 3: Der Festsaal des Facettenpalastes, dem 1492 fertig gestellten ältesten erhaltenen Teil des Moskauer Kremls, diente als Räumlichkeit für Staatsakte, Empfänge, Festmähler und Krönungsfeiern.
Quelle: Wikimedia, gemeinfrei.
Scholastik, Minne und Rittertum blieben den Russen ebenso fremd wie das Lateinische als lingua franca oder eigene Universitäten. Die einst stolzen, christlichen Fürsten von Kiev, Vladimir, Suzdal', Kazan', Moskau oder Tver' hatten mit reichen Geschenken nach Osten, zum moslemischen Khan nach Sarai oder zum Großkhan nach Karakorum, zu pilgern. Dort wurde über ihr weiteres Schicksal entschieden, wurden die Zahlungen eingefordert, Ehen zwischen tatarischen Prinzessinnen und russischen Adeligen gestiftet und die Thronfolgen geregelt. Die kleinen russischen Fürstentümer waren eben der westliche Teil des größten, geschlossenen Imperiums der Weltgeschichte, begründet von Dschingis Khan, geworden, das von China bis an die Adria reichte. Die Gesellschaft in den einzelnen russischen Fürstentümern wurde vor allem durch die rund 250-jährige Mongolen- und Tataren-Herrschaft ethnisch, religiös und sozial stark durchmischt. "In jedem Russen steckt auch ein Tatar", so der Volksmund.
Dennoch blieben in Russland an der Wende zur Neuzeit noch zahlreiche Gemeinsamkeiten mit Europa, konnten - trotz tatarischer Herrschaft - Eigenständigkeit im Glauben, in der Orthodoxie, in der Kirche, in Kultur und Wirtschaft erhalten werden. Sie resultierten aus den Traditionen der alten Waräger, der alten Kiever Rus', von Vladimir (Andrej Rublev) und Suzdal' (Frauenkloster), dem Mönchstum, der Dichtung (Nestorchronik; Lied von Igors Heerfahrt) den Handelsbeziehungen zur Hanse im Norden und zu Ostrom/Byzanz im Süden, oder den demokratischen Traditionen des von den Mongolen nicht eroberten Novgorod, wie die vorwiegend aus griechischen Schriftzeichen abgeleitete kyrillische Schrift, ein Lehens- und Feudalsystem, das Mönchstum, ein starker Antijudaismus bis hin zu immer wiederkehrenden Judenpogromen oder die Entwicklung von Städten rund um den Kreml. Zweifellos hat der Abwehrkampf der Russen gegen die Mongolen und Tataren deren militärischen Vorstoß nach Mitteleuropa gedämpft.
Im 15. Jahrhundert wurde die Herrschaft der Tataren, der Goldenen Horde (russisch: orda), langsam abgeschüttelt, auch weil die Horde in Teilfürstentümer (Khanate/Chanstvo) zerfallen war. Gleichzeitig konnte Moskau zum stärksten Fürstentum, auch mithilfe des orthodoxen Patriarchen, aufsteigen und fühlte sich stark genug, um durch Heirat mit Zoë Sophia Palaiologa, der Nichte des letzten oströmischen Kaisers Konstantin XI., die...
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