Schweitzer Fachinformationen
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Einen Ultra zu laufen ist leicht: Du darfst nur einfach nie stehen bleiben.
Ich liege auf dem Rücken, quer über dem Trail, ein Bein schmerzhaft angewinkelt, und starre in den Nachmittagshimmel. Kleine Lichtpunkte flimmern vor meinen Augen wie winzige Glühwürmchen. Was zum Teufel ist gerade passiert? Ein schrilles Klingeln in den Ohren dringt durch die Stille. Ein leichter Staubschleier senkt sich träge auf meinen reglosen Körper herab. Die Gelenke schmerzen, und jeder Atemzug wird zur Qual. Schwindel, Benommenheit und Übelkeit überwältigen mich, als hätte ich einen harten Schlag in die Magengrube bekommen. Ja, was ist da gerade passiert?
Noch vor wenigen Augenblicken war ich harmonisch den Pfad entlanggelaufen, angenehm, kühl, mit voller Kontrolle, Schritt, Sprung, Schritt . und plötzlich war alles anders geworden. Ich erinnere mich dunkel an das schwerelose Aufsteigen, an den Flug, der Schwerkraft trotzig den Mittelfinger zeigend, als die Zeit kurz aussetzte, ich die Flügel ausbreitete - ich flog, war frei .
Dann der Aufschlag. Wumms! Alles explodierte, wie bei einem Fallschirmspringer, dessen Schirm sich nicht öffnete. Jetzt liege ich auf der Erde wie ein lebloser, abgestürzter Ikarus oder wie das vor sich hin rottende Exoskelett eines Käfers und frage mich, was da gerade geschehen sein mochte. Die Fragen laufen vor meinem geistigen Auge wie auf einem Nachrichtenticker vorbei: Habe ich mir etwas gebrochen? Wird mich hier jemand finden? Wo bin ich überhaupt?
Um diese letzte Frage zu beantworten, müssen wir die Zeit um einen Tag zurückdrehen - bis zu dem Augenblick gestern Morgen, als mich plötzlich eine düstere Vorahnung überwältigt hatte: Das sollte ich nicht tun. Das sollte ich WIRKLICH bleiben lassen. Das müsste ich doch längst besser wissen. Dann hatte ich die Haustür hinter mir zugezogen. Und es getan.
Aber wenigstens schien ich den Zeitpunkt meiner Abfahrt gut getimt zu haben. Der ansonsten erbarmungslose Verkehr in der San Francisco Bay Area zeigte sich von seiner freundlicheren Seite, sodass ich sogar auf den am stärksten befahrenen Fahrspuren kaum einmal auf das Bremspedal treten musste. Manchmal braucht man Stunden, um die Stadt zu durchqueren. Wenn es darum geht, einen Menschen schier in den Wahnsinn zu treiben, ist vielleicht keine menschliche Schöpfung besser geeignet als der Straßenverkehr einer Großstadt (mit Ausnahme der Warteschlangen vor den Sicherheitskontrollen in den Flughäfen).
Obwohl es keine Verkehrsstaus gab, brauchte ich fast acht Stunden, bis ich an meinem Zielort ankam, der scheinbar willkürlich in die Landschaft geworfenen Kleinstadt Bishop in Kalifornien. Der Ort liegt am Nordende des Owens Valley und schmiegt sich unter die hohen Gipfel der östlichen Sierra Nevada. Es ist eine Stadt voller Widersprüche: Sie liegt in einer sehr schönen Umgebung, aber es ist eine Landschaft, die nicht nur naturbegeisterte Wanderer anlockt, sondern seltsamerweise auch Biker - wobei die Bikes, auf denen sie durch den Ort knattern, nicht mit Muskelkraft betrieben werden. Die Main Street durchschneidet den Ort und wird von idyllischen Galerien und Geschäften gesäumt, darunter Bergsteiger- und Outdoorläden, ein Mountain Ranger-Besucherzentrum und sogar ein unabhängiger Buchladen. Es sind Geschäfte, die man in jedem touristischen Gebirgsort finden könnte. Und das gilt auch für eine Reihe von Fastfood-Restaurants, für die paar schäbigen Bars, für die Ansammlung von Billighotels und den Kmart-Markt, die zusammengenommen den Charme des Ortes ein wenig beeinträchtigen.
In einer dieser weniger reputierlichen Einrichtungen wollte ich meinen Vater treffen. Leider hatte es in dieser Hinsicht keine große Auswahl gegeben: Es war das einzige noch freie Hotelzimmer in der Stadt gewesen. Die Reservierung hatten wir in letzter Minute gemacht, und ich hatte nehmen müssen, was noch zu haben war. Und wie bei dieser kurzen Vorlaufzeit zu erwarten war, gab es auch nicht viele Optionen, eine Crew für mein Vorhaben zu finden. Trotzdem hatte ich mir den Besten sichern können: meinen guten alten Herrn. Wer sonst wäre wohl bereit gewesen, nach einem zweiminütigen Anruf alles stehen und liegen zu lassen und sechs Stunden aus Südkalifornien hierherzufahren, um mich hier zu treffen? In meinem Leben hat es keinen treueren Gefährten gegeben als meinen Vater.
Mein Dad war ein rüstiger 82-Jähriger, aber so agil wie ein nur locker gebundenes Elektron. Er sprühte praktisch vor Energie, eine ständige Spaltungsreaktion, die ohne Vorwarnung jederzeit explodieren konnte. Er war energiegeladen und charismatisch, aber auch völlig unberechenbar und daher manchmal auch nur schwer zu ertragen. Jedes Zusammensein war mehr oder weniger unvorhersehbar. Und je älter er wurde, desto lebhafter wurde er. Überlautes Gelächter, Angstausbrüche, Melancholie, Freude - die Gefühle konnten bei ihm innerhalb eines einzigen kurzen Zusammenseins von einem Extrem ins andere schwingen. Bei Dad wusste man nie, womit man rechnen musste.
»ULTRAMARATHON MAN!«, röhrte er, als er mich erblickte. (Ich hatte ihn schon tausendmal gebeten, mich nicht so zu nennen, aber es hatte nichts genutzt.) Ein Sportreporter hatte mir diesen Spitznamen verpasst, den ich aber nie besonders gemocht habe. Im Laufe der Jahre hatte der Name gewissermaßen ein Eigenleben angenommen, vor allem bei meinem Dad.1
»Hi, Pops«, sagte ich und umarmte ihn. »Wie war die Fahrt?«
»Kinderspiel.« Er mochte solche Floskeln.
»Dir geht's also gut?«, fragte ich.
»Ging mir nie besser.«
Dann warte mal bis morgen, dachte ich listig.
Normalerweise machte auch meine Mutter diese abwegigen Eskapaden mit. Die beiden waren praktisch unzertrennlich. Ihre 60-jährige Ehe hatte sie noch enger zusammengeschweißt, zwei altmodische Romantiker, die gemeinsam sämtliche irren Turbulenzen des Lebens durchgestanden hatten. Auch nachdem sie in den Ruhestand getreten waren, taten sie das genaue Gegenteil: Sie befanden sich ständig in Bewegung. Im Laufe der Jahre waren sie praktisch durch ganz Nordamerika getourt, ferner durch Australien und einen großen Teil Europas. Manchmal folgten sie einer spontanen Laune und flogen für einen oder zwei Monate nach Griechenland, ohne Plan oder festgelegten Reiseweg, sogar ohne vorher eine Unterkunft gebucht zu haben. Nur den Mietwagen reservierten sie vorab (wobei Mietfahrzeuge in Griechenland nicht zu den zuverlässigsten zählten). »Es findet sich immer irgendeine Lösung«, sagt meine Mutter immer. Heute war sie nicht dabei, weil sie einen Fünf-Kilometer-Strandlauf mit ihren Kumpels laufen wollte, aber obwohl die meisten ein paar Jahrzehnte jünger waren als sie, konnten sie nicht mit ihr mithalten. Meine Mutter war keine schnelle, aber eine ausdauernde Läuferin. Sie stammt von der griechischen Insel Ikaria - eine der berühmten »Blauen Zonen«, in denen die Eingeborenen überdurchschnittlich häufig 100 Jahre alt werden - und ist praktisch unermüdlich, vor allem bei Outdoor-Aktivitäten. Mom wäre ganz sicher heute dabei gewesen, wenn sie es nicht dem »Jungvolk« zu Hause hätte zeigen müssen.
Die Luft in Bishop ist anders als in San Francisco. In der Bay Area braucht man das Meer gar nicht zu sehen, denn man kann es in der salzigen, dicken Luft ständig riechen. In Bishop dagegen ist die Luft heiß und trocken; ein rauchiger Geruch wie von schwelenden Lagerfeuern hängt ständig über der Stadt. Man spürt die Trockenheit nicht nur in den Augen, sondern bis in die Muskelfasern. Bishop liegt in der kalifornischen Hochwüste, im Windschatten der eindrucksvollen Gebirgskette der Sierra Nevada. Aufziehende Stürme verlieren ihre Feuchtigkeit, wenn sie über Kalifornien heranfegen, und die übrig gebliebenen Regenmengen werfen sie größtenteils an den Westhängen des Gebirges ab. Die Regenmengen, die es über die hoch aufragenden Granitgipfel der Sierra Nevada schaffen, sind extrem gering. Im Durchschnitt verzeichnet Bishop eine jährliche Niederschlagsmenge von ungefähr 127 Litern pro Quadratmeter, und die Luftfeuchtigkeit fällt im Sommer manchmal in den einstelligen Bereich. (Zum Vergleich: Selbst im regenarmen Jahr 2020 betrug die durchschnittliche Niederschlagsmenge in Deutschland 710 l/m2.) Es ist ungefähr so, als würde statt heranziehender Nebelbänke oder Regenwolken ständig ein riesiger Haarföhn blasen .
Obwohl es inzwischen mitten am Nachmittag war, brannte die Sonne erbarmungslos auf mich herab, als ich zur Rezeption ging, um unseren Zimmerschlüssel zu holen. Bis zum offiziellen Sommeranfang waren es noch ein paar Wochen hin, aber das machte hier keinen großen Unterschied: Schon jetzt strahlte der Straßenbelag so viel Hitze ab, dass sie durch die Schuhe drang, die Füße aufheizte und sie anschwellen ließ. Und morgen sollte es sogar...
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