Schweitzer Fachinformationen
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Ich erinnere mich genau. Wir stehen einen Schritt vom Tod entfernt, aber wir stehen nebeneinander. Vor uns fallen siebzig Meter senkrechte Felswand durch Licht und Luft herab. Die Küste geht links und rechts endlos weiter: Bucht für Bucht, Hafen für Hafen. Das Wasser reicht bis zum Horizont, diesem Anfang, der sich als Ende tarnt. Dahinter Afrika. Unter uns Klippen, scharf wie aufgeklappte Messer, und Wellen, hart wie Beton. Sonst nichts.
Felix musste auf diesen Felsen. Seit der Sekunde, da uns jemand im Ort davon erzählte. Er ahnt, was uns erwartet. Nickt heftig dazu. Starrt mich an, zieht an meinem Shirt. Biegt seine vollen, geschwungenen Lippen, die ihn mit den schmalen Augen und den ins Gesicht hängenden Locken aussehen lassen wie eine Comicfigur, wie eine Verheißung und ein Scherz zugleich.
»Alter«, sagt er, »wie geil muss das da oben sein?« Er steht auf, zeigt in die Luft, nach oben, immer nach oben, setzt sich, steht wieder auf.
Ich weiß schon, was da oben los ist: Wind, Möwen, Touristen. Das Übliche. Aber er lässt nicht locker.
»Das willst du nicht verpassen«, sagt er.
»Doch«, sage ich. Aber ich folge ihm. Er trägt die weißen hohen Nikes, die er slick nennt, ein Wort, das er neulich erst gelernt hat. Kurze Hosen, ein dunkles Shirt, das um seine Schultern flattert. Ich habe die Gitanes in der Tasche meiner Shorts, darüber ein helles Shirt, die New-York-Yankees-Kappe, falschrum. Wir glühen. Wir können alles. Wir sind fünfzehn.
Raus aus dem Ort, über die Düne, den Berg hinauf, immer höher. Hier wachsen keine Pinien mehr, die unten das Land in Schatten baden. Es ist heiß. Das Gras schneidet in unsere Waden. Mücken stechen uns. Sand in unseren Schuhen. Manchmal riecht es so heftig nach Lavendel wie in einer Parfümerie. Felix ist bester Laune. Treibt mich nach oben. Ich bin sein Freund, zusammen sind wir in Südfrankreich, das erste Mal weg von zu Hause. Ich will nicht da hoch, ich habe Höhenangst, er weiß das. Wir kennen uns schon lange. Wir tun so, als wären wir gleich.
»Es gibt keine Höhenangst, Herr Doktor«, erklärt er mir. Seine Arme flattern wie zwei Flügel durch die Luft. »Es gibt nur Fallsucht. Das ist keine Furcht. Sondern Lust! Der Sog der Tiefe. Der Reiz des letzten Schrittes.«
»Was soll daran reizvoll sein?«
»Der Mut. Wer sich das traut, muss sich nie wieder etwas trauen. Alles maximal vereinfachen. Fallen lassen. Klarheit schaffen. In einer letzten Sekunde aufgehen und verschwinden.«
»Ultimativ frei sein«, sage ich. Hoffentlich ist das richtig.
»Exakt, Herr Doktor«, sagt er. Exakt richtig sogar, denke ich. »Wenn man das weiß, hat man keine Angst mehr, sondern Spaß.«
»Voll«, sage ich.
Wir hören auf zu reden. Der Weg ist steil, Geröll liegt herum, keiner will langsamer gehen als der andere. Schweiß rinnt mir in die Augen, ich sehe sowieso nur seine Beine, von hinten. Die Nikes, die Haare an seinen Waden. Ich denke an zu Hause, die Schule, die Qualen nach den Ferien, ich will das hier auskosten. Es war seine Idee. »Wenn schlechtes Wetter ist, lernen wir«, versicherte er meiner Mutter. Die Sonne scheint jeden Tag.
Ich überlege, was ich noch sagen könnte, was ihn zum Lachen bringt. Mir fällt nichts ein. Im Takt unserer Schritte singe ich innerlich ein Lied, nur einen Fetzen, immer wieder: Ich bin der König im Affenstall, der größte Klettermax. Auf den Rest komme ich nicht.
Endlich stehen wir oben, zehn Meter vor dem felsigen Abgrund. Das Meer, die Klippen, der Himmel breiten sich so üppig, so übertrieben blau und weiß und weit und groß vor uns aus, wie von einem angeberischen Gott für einen Fotowettbewerb erschaffen und dann vergessen. Ich muss lachen, gegen den Wind. Sehe auf die Küste hinunter, auf die Felsen, das spritzende Wasser, die Wellen, die Möwen, die See, das Licht der Sonne wie goldener Zucker auf allem. Meine Beklemmung zerfließt wie warme Schokolade. So weit habe ich mich gezwungen, gegen jeden Instinkt! Wenn ich es hier hinaufgeschafft habe, was ist unmöglich für uns?
»Alter«, sage ich.
»Sag ich doch«, ruft Felix.
Er tänzelt auf den Rand zu, dreht sich um zu mir und grinst. Ich grinse zurück und mache ein Victory-Zeichen. »Yeah«, sage ich und wische mir den Schweiß aus dem Gesicht. Ich bin der König im Affenstall. Felix geht rückwärts auf die Kante zu. Immer weiter. Ich setze einen Fuß vor den anderen. Noch fünf Meter. Der Wahnsinn des Falls drückt mir seine Faust in den Magen. Meine Schritte werden weicher, kürzer, langsamer. Wie mein Großvater tapse ich voran. Felix hat sich umgedreht, sieht nicht, wie ich kämpfe. Drei Meter vor der Kante bleibe ich stehen. Gänsehaut an den Beinen, Schwindel im Bauch, ein Schrei in der Lunge. Mein Körper ahmt vor, was mit uns geschieht, wenn ich nicht aufpasse. Aber da ist auch eine Geilheit, ein Rasen im Ohr, ein Halleluja! Ich spüre den Fall. Seinen Fall. Schlimmer als siebzig Meter Leere ist nur, ihn alleine dort stehen zu sehen. Außer Kontrolle. Die ultimative Freiheit.
Also weiter, noch ein Schritt. Der Abgrund ist ein Magnet, eine Mutter und ein Vater. Ich höre ihn zu mir sprechen, undeutliche Worte flüstern wie eine Hellseherin, die uns die Karten legt, nicht glauben kann, was sie sieht, Wundersames und Furchtbares murmelt. Doch der Abgrund ist da. Er will uns bei sich haben. Er braucht uns, und wir brauchen ihn. Wir dürfen ihm nicht zuhören. Ich gehe in die Knie, kann mich nicht mehr aufrecht halten.
»Junge«, sage ich, zwei Meter vom Rand entfernt, »pass auf.« Der Fels ist kahl, kein Grashalm, nichts. Der Wind weht mächtig. Kann eine Böe, stark wie ein Schiff, einen Menschen umwerfen? In welche Richtung würde er fallen? Und wie lange?
»Bequemen Sie sich bitte, Herr Doktor«, sagt er, zum Meer, zu Afrika. »Nur noch ein winziges Stückchen.«
»Vergiss es«, flüstere ich. Aber ich folge ihm, natürlich. Er steht wirklich an der Kante. Seine Zehen ragen beinahe in das Nichts hinein.
»Komm her«, sagt er, »ganz vorn ist der Blick am geilsten.«
Ist er wahnsinnig? Hat er keine Angst? Hat er kein Notprogramm, keine Sicherung? Warum macht er das?
Ich berühre mit den Händen den Boden, krabble mehr, als dass ich gehe. Mache einen letzten Ruck vorwärts, einen halben Schritt, schräg hinter ihn. Plötzlich fällt mir die nächste Zeile des Liedes ein: Ich will so sein wie du. Gehn wie du, stehn wie du! Von meinen Fußspitzen sind es vierzig Zentimeter bis zum Ende. Mein Kopf ist auf Höhe seiner Knie.
»Na los, steh auf.« Er schaut auf mich herab. »Du bist doch kein Hund.«
Ich schließe die Augen. Löse die Hände vom Fels. Drücke die Knie durch, langsam. Ich will so groß sein wie er. Will es schaffen. Gehn wie du, stehn wie du! Will nicht auf ewig daran zurückdenken müssen, wie ich hinter ihm kauerte. Dieser Gedanke streckt meine Beine, richtet mich auf, ich stehe. Ich stehe fast neben ihm!
Wir schauen jetzt beide aufs Meer hinaus. Ein blauer Teppich, nein, eine Decke, über die Welt gebreitet. Eiskalt und warm zugleich. Ich fixiere den Horizont. Atme. Schaue. Ist da ein Schiff? Oder nur ein Schatten? Die Faust wühlt in meinem Bauch. Strom fließt durch meinen Körper, in Wellen, es tut weh, so stark ist der Schwindel. Runterschauen geht nicht. Für ein paar Momente legt sich der Wind. Man hört eine Möwe ihre Freunde rufen. Die Brandung gegen den Felsen schlagen.
Eine Sekunde Stille.
»Traum oder Albtraum?«, sagt Felix.
Ich sehe uns von oben. Zwei Jungen am äußersten Rand einer Steilküste. Der eine, mit den braunen Locken, ganz vorn. Der andere, fast neben ihm, auch er hat Locken, nur dunklere, kürzere. Sie stehen da wie Späher, wie Möwen. Als würden sie gleich abheben und fliegen, über die Kante, in eine andere Welt.
»Traum«, sage ich, will ihm auf die Schulter hauen. Der größte Klettermax. Wenn ich ehrlich bin, will ich ihn sogar umarmen, zur Not von hinten. Aber er würde sofort hinunterstürzen. Ich mit ihm. Wer schlägt zuerst auf? Und wer fällt auf den anderen? Kann der Untere den Oberen retten?
»Hörst du den Abgrund auch?«, fragt er.
Ich denke daran, was in ein paar Jahren aus uns geworden sein wird. Ob wir uns noch kennen, uns oft besuchen. Ob wir vielleicht Nachbarn sind. Wie wir leben, wie unsere Frauen aussehen. Seine blond, meine dunkelhaarig. Oder umgekehrt. Unsere Kinder, die in dem gemeinsamen Garten spielen. Er hat das Haus gefunden.
»Danke«, sage ich, und ich weiß nicht, ob ich den Felix jetzt oder in zehn Jahren meine. Wir stehen einen Schritt vom Tod entfernt, aber wir stehen nebeneinander.
Ich spüre seine Bewegung, bevor ich sie sehe. Meine Instinkte schreien auf. Ich will brüllen, greifen, mich zusammenrollen wie ein verprügelter Boxer, doch bevor ich reagieren kann, macht er einen wiegenden Schritt. Wie ein Tänzer auf das Kommando einer Musik, die nur er hört. Zu schnell für mich.
Aber nicht nach vorn. Nach rechts, dicht vor mich. Wir berühren uns beinah. An meiner Brust, seinen...
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