Schweitzer Fachinformationen
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Marlen hat ein schönes Leben, unverschämt schön, denkt sie manchmal. Aber wie schnell das Glück zerrinnen kann, auch wenn man ein privilegiertes Leben führt,erfährt sie, als ihr Sohn eines Tages verschwindet. Angstvolles Warten und später die traurige Gewissheit seiner psychischen Krankheit rauben ihr Schritt für Schritt die Leichtigkeit des Lebens. Ein Roman über den Kampf einer Mutter um den Zusammenhalt ihrer Familie und ihre Konfrontation mit einer Krankheit, die in der Gesellschaft wenig Verständnis findet.
Dann kam der Tag der Abreise. Der Sommer war vorbei. Amy musste zurück zu ihrem Studium und freute sich darauf. Sie war braungebrannt, und ihre blonden Haare waren von der vielen Sonne fast weiß. Sie war in der letzten Zeit schlanker geworden und schien noch ein Stück gewachsen zu sein. Angeregt durch ihre Freundinnen hatte sie in diesem Sommer auch angefangen, sich zu schminken. Sie umrandete ihre Augen mit schwarzem Khol-Pulver, das bei ihren hellen, europäischen Augen viel zu dunkel wirkte, und zog ihre blonden Augenbrauen mit einem braunen Stift nach. An den Handgelenken trug sie zahlreiche bunte Bändchen, und am linken Fußgelenk klingelte leise ein silbernes Fußkettchen mit winzigen Glöckchen, ein Geschenk von Beduinen, das sie nie ablegte. Von ihren beiden Heimaten (sie bestand darauf, dass man zwei Heimaten haben kann) hatte sie etwas übernommen, aus Marokko die weiten bunten, strassbestickten Stoffe und aus Europa die schlichten Jeans und Sneakers und ihren ewigen, kleinen Rucksack, den sie zu jedem Anlass mitschleppte, denn eine Handtasche kam für sie nicht infrage. Wenn man sie fragte, ob sie sich eher als Deutsche oder als Marokkanerin empfand, wehrte sie die Frage lachend ab und erklärte, sie sei überall zu Hause. Kai hingegen antwortete auf dieselbe Frage, er sei nichts davon, sei überall ein Fremder, gehöre nirgends hin, habe eigentlich keine Heimat. Er hatte mittlerweile beschlossen, eine Ausbildung in einer Schreinerwerkstatt anzufangen, die in der Nähe der Universität seiner Schwester lag. Sein Betreuer, mit dem sie regelmäßig telefonisch in Verbindung standen, hatte ihm bei der Auswahl geholfen, und Kai freute sich anscheinend auf die Arbeit mit dem Holz, die ihn schon immer fasziniert hatte. Allerdings blieb die Auflage, dass ein Elternteil bei ihm wohnte, wenn er nicht in einem Berufsbildungswerk arbeiten wollte. Doch so eine Einrichtung, die nur körperlich oder psychisch beeinträchtigten jungen Menschen eine Ausbildung bot, also kaputten, hilfsbedürftigen Menschen, war für Kai eine Vorstellung, die er gänzlich ablehnte, denn sie erinnerte ihn unangenehm an die Klinik, aus der er vor Kurzem entlassen worden war. Er sah sich auf so eine Einrichtung nicht angewiesen. Er würde das allein schaffen. Er war nicht krank, und er war zudem absolut zuversichtlich, dass, sobald er seine Berufung gefunden hätte, alles einfach würde. Ein Glaube, dem sich Marlen nur zu gern anschloss.
Lustlos und resigniert sortierte sie ihre Sachen und packte Pullover für den Winter in ihren großen Koffer. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie Kai, wenn sie ihn kurz vorbeihuschen sah. Er hatte dunkle Schatten unter den Augen. Er sah müde aus und hatte weiter abgenommen.
Er erschien nicht zum letzten gemeinsamen Abendessen, was niemanden überraschte. Aber er machte auch keinerlei Anstalten, seine Reisetasche zu packen, sondern saß auf der Terrasse und blickte in die Ferne. Eine Stunde ehe das Taxi sie zum Flughafen bringen sollte, versuchte Marlen, ihn zum Packen zu bewegen. »Kai! Was ist? Wir müssen bald los. Willst du dich nicht langsam anziehen? Hast du deine Sachen gepackt?« Aus seinen Gedanken gerissen hob Kai langsam den Kopf, sah seine Mutter an und sagte: »Ich muss noch nachdenken.«
»Nachdenken? Worüber musst du noch nachdenken?«, fragte sie beunruhigt.
»Schläft Papa schon?«, gab er zu Antwort. »Ich muss mit ihm reden.«
Martin hatte sich bis zum Abschied hingelegt. Sie hatten einen Nachtflug gebucht und das Taxi war für Mitternacht bestellt. Er hatte jedoch das Gespräch mitgehört und kam sofort zum Vorschein.
»Ich habe es mir überlegt«, sagte Kai hastig, als er ihn sah. »Ich fliege nicht. ich möchte nicht zurück nach Deutschland. Ich bleibe hier.«
Seine Worte fielen wie ein Urteil. Es gab darauf nichts zu erwidern. Marlen hielt den Atem an. Versuchte, zu begreifen, was das bedeutete. Versuchte, sich innerhalb von Sekunden an die neue Situation anzupassen, spürte ein freudiges Kitzeln irgendwo tief innen. Aufregung, Erleichterung und etwas Angst. Ging er, so ging sie mit. Blieb er, so blieb auch sie. Sie traute sich kaum, ihn anzusehen, so fragil erschien ihr die übereilte, unerwartete Entscheidung. Sie wusste, wie unvernünftig dieser neue Plan war. Was würde passieren, wenn Kai wieder ausrastete und in Marokko in eine psychiatrische Klinik käme? Er nahm seit Wochen keine Tabletten mehr. Wie lange würde das gut gehen? Hätte er damals sein Auto in Rabat, und nicht in Mainz angezündet, wer weiß, wie es ihm ergangen wäre? Vielleicht wäre er von der Polizei niedergeknüppelt und in eine Zelle geworfen worden? Sie wollte lieber nicht daran denken. Aber hierbleiben . Natürlich war das auch ihr tiefer Wunsch. Sie wollte nicht wieder allein mit dieser unheimlichen Verantwortung in einer fremden Welt sitzen. Sie wollte nicht schon wieder eine neue Wohnung suchen müssen, wo sie mit ihrem Sohn einziehen würde, der ihre Zweisamkeit nicht wünschte, sondern sie erdulden musste, weil sie eine Auflage der Klinik bei der Entlassung war. Weil sie, Marlen, seine Auflage war. Eine deprimierende Vorstellung. Für sie. Für ihn. Sie rief sich die guten Tage aus ihrem Zusammenleben ins Gedächtnis zurück. Sie hielt an ihnen fest wie an einem Schatz, den sie hin und wieder vorsichtig heraushob und an dem sie ihre Seele erwärmte. Ihr einfaches Leben in der kleinen Wohnung, ihre Vertrautheit, sein Lachen, manchmal. Kostbare Momente, die ihr nicht mehr geraubt werden konnten, egal, was passierte. Dennoch fürchtete sie sich vor der Zukunft. Vielleicht würde es keine kostbaren Momente mehr geben. Er war so verschlossen, so unerreichbar. Bloß nicht sprechen, seinen Wunsch nicht hinterfragen. Zum Glück schien auch Martin zu wissen, dass Diskutieren sinnlos war und höchstens zur Folge hätte, dass er aus dem Familienhaus auszog und wieder abtauchte. Das durfte auf keinen Fall passieren. Schweigend und mit einem Gefühl von tiefer Erleichterung zog sich Marlen wortlos in ihr Zimmer zurück und legte sich auf ihr Bett. Sie wartete darauf, mehr von der freudigen Regung, die sie vorhin verspürt hatte, zu empfinden, sich darin wiegen zu können, sie auskosten und genießen zu können, merkte aber schnell, dass ihr die Kraft für große Gefühle fehlte. Irgendwann schlief sie ein, und als sie gegen Morgen wieder aufwachte, brauchte sie eine ganze Weile, um zu verstehen, warum sie angezogen auf ihrem Bett lag, und immer noch zu Hause war.
Der verpasste Flug - Amy war allein zurückgeflogen -, der Schock und die Erleichterung, die umsonst gepackten Koffer, die wie Gäste im Aufbruch noch unschlüssig herumstanden, das ständige Umdenken und Anpassen, das alles versetzte Marlen in einen lethargischen Zustand, der es ihr unmöglich machte, das normale Leben wieder aufzunehmen. Sie stand am Fenster, blickte auf das ständig wechselnde Bild des Meeres, sah die Wolken eilig vorbeiziehen und empfand umso deutlicher ihre absolute Regungslosigkeit. Die Liste der Dinge, die sie erledigen musste, wurde immer länger, doch je mehr sie sich zwingen wollte, endlich zu handeln, endlich irgendetwas in Angriff zu nehmen, desto gelähmter fühlte sie sich. Sie war zu müde, um ihren Bekannten zu erklären, warum sie doch nicht abgeflogen war, zu müde, um irgendeinen Sport zu treiben, zu müde, um im Haushalt etwas zu erledigen, und sei es nur, ein vernünftiges Gericht auf den Tisch zu bringen. Sie öffnete ihre Mails nicht mehr, rührte die Bücher auf ihrem Nachttisch nicht an, saß nur da und wartete . Auf was? Auf einen neuen Zusammenbruch ihres Sohnes? Auf einen neuen Aufbruch, nach Deutschland oder in ein anderes Land? Sie spürte, dass nichts, was sie jetzt tat, einen Sinn ergab, weil morgen schon alles anders sein konnte, so wie man auch kein Pflänzchen setzt, wenn ein Gewitter im Anrollen ist, das es mit Sicherheit davonschwemmen würde.
Und Martin schwieg. Aber er sagte ja nie etwas. Dennoch war sein Schweigen ein anderes. Sie hatte im Laufe ihrer vielen gemeinsamen Jahre gelernt, die verschiedenen Arten seines Schweigens zu interpretieren. Sie kannte sie alle. Als sie es ihm einmal sagte, lachte er und winkte ab. »Unfug!« Sie bestand darauf. Es gab das ruhige, zufriedene Schweigen. Das aufmerksame Schweigen. Das nachdenkliche Schweigen. Das gelangweilte Schweigen. Das irritierte Schweigen und das zornige, schmallippige Schweigen. All diese Formen des Schweigens hatten direkt oder indirekt mit ihr zu tun, bezogen sie in irgendeiner Weise mit ein. Diese neue Form tat es nicht. Es war ein absolut abwesendes Schweigen. Das beunruhigte sie.
An einem sonnigen, windstillen Wochenende im Spätherbst überredete Martin seinen Sohn, mit dem kleinen Fischerboot, das sie vor ein paar Jahren gekauft hatten, auf das Meer zu fahren. Marlen freute sich sehr, als Kai sich bereit erklärte, endlich einmal wieder aus seinem Zimmer zu kommen und mit seinem Vater etwas zu unternehmen, und packte ihnen eine große Brotzeit ein. Sie winkte ihnen frohen Mutes hinterher, als sie, mit Angeln behängt, in das Auto stiegen und zum Hafen fuhren. Zum ersten Mal spürte sie wieder Kraft in sich aufkeimen, hatte plötzlich Hunger und Lust, etwas Schönes zu unternehmen. Sie kramte ihre verstaubten Reitsachen aus, Helm, Stiefel, Reithose, schmierte sich ein Brot, nahm einen Apfel und ein paar Möhren für die Pferde, und wollte gerade zum Reitstall, der früher ihr zweites Zuhause gewesen war und wo sie sich nun kaum mehr blicken ließ, als das Auto zurückkam. Sie erstarrte. Das konnte kein gutes Zeichen sein. Vom Küchenfenster aus sah sie, wie Martin aus dem Auto stieg, und erkannte an seiner Haltung, dass sie mit ihrer Vermutung Recht hatte.
Mit hängenden Schultern kam er die Treppe hoch. Sie öffnete ihm die Tür und blickte ihn fragend an. »Kai...
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