Schweitzer Fachinformationen
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»Weiß vor Angst und Schlaflosigkeit, machten wir uns auf nachzusehen, was von Marindvor übriggeblieben war.« Wieder sind sie verschont geblieben: ein Granatsplitter hat nicht den Autor und seine Frau, aber die Bücher getroffen: William Faulkner, Nadeshda Mandelstam, Gottfried Kellers »Grünen Heinrich«.
In kurzen, unvergesslichen Szenen beschreibt Dzevad Karahasan das Leben im belagerten Sarajevo. Einen Mann, der aus der Warteschlange tritt, sich auf ein Mäuerchen setzt und stirbt. Die Evakuierung der jüdischen Gemeinde. Das absurde Gespräch mit einem französischen Korrespondenten über Hunger und Kälte.
Sarkasmus, Humor, Güte und eine beeindruckende geistige Souveränität charakterisieren die Haltung, mit der Karahasan vom Alltag im Krieg und von der Übersiedlung einer kulturell und religiös polyphonen Stadt in die Sphäre des Idealen schreibt.
Das Tagebuch der Übersiedlung ist ein bleibendes Zeugnis über die Belagerung Sarajevos - weniger im Sinne einer Alltagsdokumentation als durch seine gedankliche und ethische Strahlkraft.
Marindvor (Marijin dvor - Marienhof) ist ein Stadtviertel, das während der österreichisch-ungarischen Herrschaft und während des ersten Jugoslawiens (1918-1941) die äußerste Peripherie von Sarajevo, den direkten Rand des Gebietes darstellte, das als Stadt betrachtet und als Stadt erfahren wurde. Auf der anderen Seite der Miljacka, einen knappen Kilometer von Marindvor entfernt, erhebt sich ein Berg, auf dessen Höhe der jüdische Friedhof liegt und an dessen Hang die Villen der vermögenderen österreichischen Beamten, Industriellen und Kaufleute stehen. Diese Villensiedlung heißt Kovacici und bedeutete in jener fernen Zeit die Grenze zwischen der menschlichen Siedlung und der Natur: Von Marindvor, am rechten Flussufer, und von Kovacici, am linken Ufer, breiteten sich Wiesen, Grassteppen, Sümpfe, Lagerhallen und andere Formen von Ödnis aus, welche die Städte umgeben.
Wie stark die Sarajevoer Marindvor zu der Zeit als ferne Peripherie erlebten, illustriert eine Anekdote, die ich von meinem Freund, einem Rechtsanwalt, gehört habe. In den ersten Tagen des zweiten Jugoslawiens, gleich nach dem Zweiten Weltkrieg, brachten die Behörden die neunköpfige Familie des Schusters Abid im Erdgeschoss des Hauses von Cevapcici-Macher Ismet unter. In den fünfziger Jahren, fünf, sechs Jahre nach dem Krieg, heiratete Ismets Sohn und wollte im Erdgeschoss seines Elternhauses wohnen. Darüber unterhielt sich Ismet mit Abid und schlug ihm vor, bei den Behörden eine andere Unterkunft zu beantragen. »Du bist ein Proletarier«, sagte Ismet, »dir werden sie geben, was du forderst, weil sie euch Proletarier lieben.«
Mein Freund, der Rechtsanwalt, empfahl ihnen, Ismet solle bei Gericht Abids Auszug verlangen, und Abid solle dann demselben Gericht erklären, dass er mit dem Auszug einverstanden und ihm ein Umzug in eine andere Wohnung ganz recht sei. So verfuhren sie denn auch, und Abid erklärte, als er vor Gericht geladen wurde, feierlich: »Natürlich, ruhmreiches Gericht, ziehe ich dahin, wo es mir gesagt wird. Ich kann sogar in Marindvor leben, wenn es im nationalen Interesse ist und wenn meine Kinder ein Dach über dem Kopf haben.«
In Marindvor zu wohnen bedeutete für Abid wie für jeden anderen Sarajevoer seiner Generation, am Ende der Welt zu leben. Deshalb berührte mich diese Anekdote, eigentlich berührte mich Abids Bereitschaft, sich für seinen notleidenden Wohnungsgeber zu opfern und, wenn er sich auch opfern musste, entsprechend seinem Gefühl für Gerechtigkeit und Moral in zwischenmenschlichen Beziehungen zu handeln.
Das zweite Jugoslawien verschob durch den rasanten Aufbau großer Wohnsiedlungen die Stadtgrenze innerhalb weniger Jahre weit über Marindvor und Kovacici hinaus, so weit, dass Marindvor in den Sechzigerjahren bereits zum Stadtzentrum wurde. Als ich nach Marindvor zog, hatten die Behörden seinen Status als Mittelpunkt bereits bestätigt, indem sie am Rand dieses Viertels das Regierungs- und das Parlamentsgebäude der Republik bauten. Daher irritierte es die Angehörigen meiner Generation, dass die Moschee in der Nähe meiner Wohnung Magribija heißt, so hatte man sie in der Türkischen Zeit genannt, weil sie damals im äußersten Westen (magreb = Westen) gelegen, also weil sie damals die Westgrenze der Stadt gekennzeichnet hatte. Jetzt, in unserer Zeit, bildet Marindvor das Herz der Stadt, und hinter der Magribija befindet sich, viel weiter im Westen, eine Reihe von Gotteshäusern, teils aus der alten und teils aus der neuen Zeit.
Alles begann in den neunziger Jahren des 19.?Jahrhunderts, als der Besitzer der Sarajevoer Ziegeleien, Herr August Braun, den Bau eines großen Vierflügelhauses mit Wohnungen in Angriff nahm, dem er den Namen seiner Frau Maria gab. Das Gebäude wurde in mehreren Phasen innerhalb einiger Jahre fertiggestellt, und es umschloss mit seinen vier Flügeln die große Fläche eines Innenhofs. Die vier Flügel bestimmten den Verlauf von vier künftigen Straßen des neuen Stadtviertels: eine zwischen Marijin dvor und der Magribija-Moschee, eine andere zwischen Marijin dvor und der Josefskirche, eine zum Fluss und eine zum Berg im Hintergrund. Jeder Flügel des Marijin dvor hatte zwei Eingänge, der Süd- und der Nordflügel hatten je drei Stockwerke und der West- und der Ostflügel jeweils zwei, während der Innenhof des Gebäudes schon damals mit Blumengärten, Platanen, Spazierwegen und Bänken zum Ausruhen geschmückt war.
Sehr schnell machten die Sarajevoer Marijin dvor zu Marindvor - als sie die Herrschaft der Österreicher und ihre Anwesenheit als Tatsache akzeptierten, mit der man sich abfinden musste, vor allem im Hinblick darauf, dass diese neue Macht viel und gut baute, sich bemühte, das, was sie baute, den Einheimischen vertraut und verständlich zu machen, und auch nicht allzu viel verlangte. In diesem Augenblick begannen die Sarajevoer mit den neuen Gebäuden warm zu werden, ihnen eigene Namen zu geben oder die Namen, die diese Bauten bereits hatten, wenigstens ihren sprachlichen Gepflogenheiten anzupassen, mit den Namen zu zeigen, dass sie das Neue als ihres akzeptiert hatten. Ein sicheres Zeichen für diese Aneignung war der Bau des Haliddvors (durch den Architekten Josef Gramer), das Wohn- und Geschäftshaus des reichen und angesehenen Sarajevoer Mustafa Hadzibascausevic, mit dem das Stadtviertel definitiv erstanden war, das danach jahrelang die Westgrenze der Stadt darstellte, um nun, zu Beginn dieses Krieges, anerkannter Stadtmittelpunkt zu sein.
Wahrscheinlich wegen seiner zentralen Lage ist Marindvor ein für Sarajevo ausgesprochen charakteristisches Stadtviertel. Auf dem Raum von einem Quadratkilometer befinden sich die Magribija-Moschee als äußerste Westgrenze der türkischen Bautätigkeit, Marindvor und die Josefskirche als charakteristische österreichisch-ungarische Bauten, Haliddvor als Beispiel für die österreichisch-ungarische Suche nach einem bosnischen Baustil und die modernen Stahl-Glas-Konstruktionen der Parlaments- und Regierungsgebäude. Auf dieser Fläche von einem Kilometer waren der Hamburgerkiosk aus Plastik und der überladene Haliddvor versammelt, und mit einem Blick konnte man die bescheidene Magribija mit ihren Holzsäulen, die steinerne Josefskirche und das Regierungsgebäude aus Glas und Stahl oder das Hotel Holiday Inn umfassen.
Dann begann der Krieg, mit dem man all das teilen wollte, ein Krieg, der meiner Stadt eine »Militärästhetik« aufzwingen wollte. Im ästhetischen Projekt der Generäle ist ein Nebeneinander von Türkischem, Österreichisch-Ungarischem und Jugoslawischem, Islamischem, Katholischem und Kommunistischem nicht möglich. Die Leidensgeschichte von Marindvor begann, das Auseinanderfallen und Auseinanderreißen der Teile, die es konstituieren. Mit meinem Leib und meinem Gedächtnis habe ich einige Details dieser Orgie, dieser militärischen Obsession mit unserer Stadt registriert. Um die Erinnerung erträglich zu machen, in der Hoffnung, mein normales Leben zurückerobern und mein Heim zurückgewinnen zu können, und sei es auch in der Sphäre des Idealen, habe ich ein paar Fragmente über die Umsiedlung von Marindvor ins Ideale, ins Gedächtnis, in die Schatten notiert.
Die erste Phase der Zerstörungswut erlebte Marindvor Ende Mai 1992, in der Nacht vom 27. auf den 28., wenn ich mich recht erinnere. Sie begann gegen einundzwanzig Uhr und dauerte bis vier Uhr morgens, und sie beschossen uns mit Raketen und den größten Artilleriegeschossen. In den ersten Monaten schossen sie meistens nachts, so dass wir den ganzen Tag lang übernächtigt und vor Schläfrigkeit wie betäubt waren. Es tagte bereits, als der Beschuss so weit nachließ, dass wir aus dem Keller herauskonnten. Weiß vor Angst, Schlaflosigkeit und einer speziellen Art von Müdigkeit, die wir bereits gut kannten und die eine durchwachte Nacht mit sich bringt, versicherten wir einander, wir fühlten uns »ganz gut, nur ein wenig müde« und gingen hinaus, um Marindvor zu inspizieren und zu sehen,...
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