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»Die Menschen verbringen ihr Leben auf Erden im Schatten von Bronzefiguren«, sagte mein Freund Albert Goldstein. Wir saßen im Wiener Café des Hotels »Europa«, umgeben von dem Stimmengewirr, das dort immer herrschte, zumindest damals, während unseres Gesprächs, Mitte der achtziger Jahre. »Mit Bronzefiguren meine ich die Denkmäler«, sagte er, »jene Symbole eines politischen Wertesystems, die einen notwendigen Bestandteil jeder gesellschaftlichen Ordnung bilden. Ohne Staat keine Denkmäler, ohne Denkmäler kein Staat. In den Bronzefiguren beziehungsweise Denkmälern sehe ich daher die Bedeutung all dessen versammelt, was mit der Institutionalisierung der menschlichen Gesellschaft zu tun hat, also mit Staat im weitesten Sinne. Du stimmst mir doch hoffentlich zu?
Der Mensch produziert seine Bronzefiguren, das heißt die Institutionen beziehungsweise den Staat nicht anders, als er Schweiß, Urin und Kohlendioxid produziert – aus einer naturhaften Notwendigkeit heraus. Das wird so bleiben, solange der Mensch ein furchtsames und geselliges Wesen ist, also immer und ewig. Wenn du weder schwitzt noch pisst, existierst du vielleicht, aber leben tust du nicht. Und wenn ihr keine Bronzefiguren herstellt, mögt ihr zwar irgendwie am Leben sein, aber Menschen seid ihr keine, sondern irgendwie eine andere Art Geschöpf. Ich behaupte, dass der Zusammenhang zwischen Staat und Gesellschaft tief und unausweichlich ist, und ich behaupte auch, dass sich daran so wenig ändern lässt wie an der Tatsache, dass in der Reihe der Primzahlen die Sieben nach der Fünf kommt.
Stellen wir uns folgendes Experiment vor: Wir schicken fünf Menschen aus verschiedenen Weltgegenden auf eine einsame Insel und überlassen sie dort sich selbst und der Natur. Diese Menschen kennen einander nicht, sie haben keine gemeinsame Sprache, keine gemeinsame Vorstellung von Hierarchie, Ordnung, Arbeit. Ich weiß nicht, ob es je so ein Experiment gab, aber ich bin hundertprozentig sicher, wie es ausgehen würde, falls diese Menschen überlebten – und sie haben überlebt, sie überleben immer, Robinson hat überlebt, die Menschen können sogar ihre eigenen Taten überleben, und menschliche Taten sind zweifellos schlimmer als alles, was die Natur je anrichten könnte. Ich bin völlig sicher, dass unsere Leute auf ihrer einsamen Insel eine Art Zeichensystem zur Verständigung und damit Schatten von Bronzefiguren hervorbringen würden. Im Kampf ums Überleben, im Bemühen um Verständigung würden sie eine Gesellschaft schaffen und mit ihr Hierarchie, Arbeitsteilung und Kompetenzen, bestimmte Verhaltens- und Beziehungsmodelle, die für alle verpflichtend wären, sie würden also all das erschaffen, was man mit der Metapher der Bronzefiguren ausdrücken könnte. Unsere ausgesetzten Inselmenschen wären sich dessen wahrscheinlich gar nicht bewusst, aber sie hätten nicht anders gekonnt, als über und um sich herum bronzene Schatten zu erzeugen, als hätten sie sie ausgeschwitzt.«
Ich stimmte meinem Freund nicht zu, aber ich widersprach ihm auch nicht, denn in meinem Leben hatte es so viele Bronzefiguren gegeben, dass ich meine Privatgespräche mit ihnen verschonen musste. Außerdem lässt sich das Experiment, von dem Albert sprach, nicht mehr durchführen, weil es keine einsamen Inseln mehr gibt, auf denen man Menschen der Natur aussetzen könnte; das Verschwinden der einsamen Inseln war eines der ersten Anzeichen dafür, dass die Welt nach und nach ihrer Geheimnisse beraubt werden würde. Und eine Welt ohne Geheimnisse, ohne einsame Inseln, eine Welt, in der kein Abenteuer mehr möglich ist, erschien mir damals wie eine einzige riesige Bronzefigur, die auf alles ihren Schatten wirft, sodass ich mich selbst und das, was mir lieb war, vor ihr zu schützen suchte. Deshalb konnte ich Albert nicht zustimmen, doch ich schwieg und rauchte und verfolgte, wie sich seine Worte in der schweren Luft des überfüllten Cafés mit dem Rauch vermischten, mit Geschirrklappern und Stimmengewirr, und in jene Geräuschkulisse eingingen, die stets im Wiener Café des Hotels »Europa« herrschte, wo wir damals saßen. Und wie sie sich mit alldem vermischt hatten und so diffus geworden waren, dass der Teppich sie wie alles andere schlucken konnte, hatte auch ich die Gedanken meines Freundes über die Bronzefiguren und ihre schicksalhafte Verbindung mit der menschlichen Natur einfach vergessen.
Sie fielen mir während eines Gesprächs mit meinem Freund Dervo Perina etwa zehn Jahre später wieder ein, an einem eisigen Februartag 1993, jenem Tag, den ich nicht vergessen kann und von dem ich wünschte, er wäre nie angebrochen, denn an diesem Tag haben wir Sara verloren.
Dervo war gerade zurück »vom Terrain«, wie er den Aufenthalt an der Front nannte, das heißt zurück aus den Kämpfen (denn eine Front soll es in diesem Krieg nicht gegeben haben), und erzählte mir, was er gesehen, erlebt, gewünscht und gedacht hatte dort drüben in der wirklichen Welt außerhalb Sarajevos. Dabei muss das Wort »Experiment« gefallen sein, wahrscheinlich in einem Kontext, der Alberts damalige Worte aus dem Vergessen riss, obwohl sie längst, bis zur Unkenntlichkeit mit Rauch, Geschirrklappern und Stimmengewirr vermischt, in den Teppichen des Hotels »Europa« verschwunden sein sollten. Im Zusammenhang mit dem Experiment muss Dervo auch eine Insel erwähnt haben, oder durch seine Beschreibung muss in mir das Bild einer Insel aufgetaucht sein, oder, was aber kaum wahrscheinlich ist, Dervo hat nur einen Augenblick lang mit Alberts Stimme gesprochen, in der sich Müdigkeit und Nervosität so unnachahmlich mischten – ich weiß es wirklich nicht, aber ich weiß, dass das Wort »Experiment« und einige Details aus seinem Kontext in mir die Erinnerung an Alberts Geschichte von den Bronzefiguren wachrief.
»Irgendjemand führt ein Experiment mit uns durch, Professor«, sagte Dervo, und seine Worte hallen noch heute in mir nach. »Jemand, der unheimlich mächtig ist, führt irgendein Experiment am lebendigen Leibe und mit unserem beschissenen Leben durch. Da bin ich mir hundertprozentig sicher, Professor, das ist es, nichts anderes.«
So war es. Bei diesen Worten, bei Dervos Ausbruch stiegen Alberts Bronzefiguren in mir auf und mit ihnen die Stimmen, Geräusche, Gerüche, all das Vertraute und Unwiederholbare, die Atmosphäre des Hotels, das ich so liebte und in dem ich nie wieder sitzen werde.
»Schon wieder Bronzefiguren?«, fragte ich zusammenhanglos, gepackt von der plötzlichen Erinnerung, gegen die ich mich nicht wehren konnte noch wollte, obwohl ich gar nicht richtig wusste, was mit ihr anfangen.
»Ich weiß nicht, was für Figuren, aber dass sie riesengroß sind und uns verarschen, das weiß ich genau«, antwortete Dervo.
Ich versuchte, in seiner Stimme Hass, Verzweiflung oder Resignation zu entdecken, eine jener Empfindungen, die mich in diesen Tagen beherrschten, ich versuchte also, mich zu überzeugen, dass es anderen auch so ging wie mir. Vergebens. Über das große Experiment, das jemand an seinem Leib und Leben durchführte, sprach er ruhig und konzentriert wie über das Wetter und die Familie, über Karate und den Fußballstar Asim Ferhatovi?. So wie Dervo eben redet. Ich fragte ihn, ob das bedeute, dass wir die Stadt verlassen und so den Fehler vom April 1992 korrigieren sollten, als wir beschlossen hatten, im belagerten Sarajevo zu bleiben.
»Wie kommst du denn darauf?«, fragte Dervo.
»Mein Gott, weil wir nur Ratten sind, wenn du Recht hast«, antwortete ich. »An Ratten werden Experimente durchgeführt, nicht an Menschen!«
»Jeder ist für irgendwen eine Ratte, Professor. Das war immer und überall so. Das wird auch dort so sein, wohin du gehen würdest, keine Sorge. Der einzige Unterschied wäre, dass du dort, falls du Karriere machen und ein Bedürfnis nach Ratten verspüren solltest, deine Ratten bekommen würdest. Ein netter Gedanke! Mir reichen die Viecher bei uns im Keller der Polizeistation.«
»Wir berauschen uns daran, dass wir unsere Häuser und Familien, unsere Freundschaften und unser gutes Recht auf diese Freundschaften verteidigen, aber in Wirklichkeit sind wir Ratten, die von einem gleichgültigen Subjekt observiert werden. Das kannst du doch nicht zulassen«, tobte ich, weil mich die Welt bitter und Dervos Ruhe verrückt machte. »Das darfst du nicht hinnehmen, wenn du noch einen Funken Menschenwürde in dir hast.«
»Deine Subjekte sind mir schnurz, Professor. Ich verteidige mein Haus und meine Familie, alles Übrige schert mich nicht, schon gar nicht, wie mich jemand sieht. Meine Aufgabe ist es, mein Haus und meine Familie gegen die Umstände zu verteidigen, und ich frage nicht, ob diese Umstände die Tschetniks sind, der geringe Lohn, jemand, der mich für eine Ratte hält, oder sonst irgendwas.«
»Aber sie halten dich für eine Ratte und haben dich de facto zur Ratte gemacht«, schrie ich ihn an. »Das kannst du dir doch nicht antun, Mensch.« Ich wurde immer wütender.
»Das ist ihre Sache«, erwiderte Dervo mit unerschütterlicher Ruhe. »Ihre Sache ist, was sie sehen und wie sie es betrachten, und meine Sache, was ich tue und wie ich mich verhalte. Wenn ich mich wie ein Mensch verhalte, dann bin ich es auch, egal, wie sie mich sehen und in ihren Büchern führen. Und wenn ich mich wie eine Ratte verhalte, dann bin ich es auch, selbst wenn mich die ganze Welt als großen Menschen feiert. Ich kann die Umstände nicht bestimmen, denn das ist nicht meine Aufgabe, ich kann mich nur unter diesen Umständen verhalten: Das ist meine Aufgabe und sie entspricht meiner Natur.«
Hier biss ich mir auf die Zunge, um meinen Zorn, meine Gereiztheit und meinen Neid, all das, was ich die dunkle Seite meiner Freundschaft...
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