Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Bittersüß und zutiefst politisch schreibt Dimitrij Kapitelman in seinem neuen Roman über Familie und die (Un-)Möglichkeit der Verständigung in Zeiten alter und neuer Kriege.
Eine Familie aus Kyjiw verkauft russische Spezialitäten in Leipzig. Wodka, Pelmeni, SIM-Karten, Matrosenshirts – und ein irgendwie osteuropäisches Zusammengehörigkeitsgefühl. Wobei, Letzteres ist seit dem russischen Überfall auf die Ukraine nicht mehr zu haben. Die Mutter steht an der Seite Putins. Und ihr Sohn, der keine Sprache mehr als die russische liebt, keinen Menschen mehr als seine Mutter, aber auch keine Stadt mehr als Kyjiw, verzweifelt. Klug ist es nicht von ihm, mitten im Krieg in die Ukraine zurückzufahren. Aber was soll er tun, wenn es nun einmal keinen anderen Weg gibt, um Mama vom Faschismus und den irren russischen Fernsehlügen zurückzuholen?
Ein Buch, wie nur Dmitrij Kapitelman es schreiben kann: tragisch, zärtlich und komisch zugleich.
"Kapitelman schreibt mit zärtlichem Blick über die, denen er politisch hart entgegentreten muss. Ein Buch über die Unmöglichkeit der Verständigung, das Verständnis ermöglicht." Tobias Becker, Der Spiegel, 22.02.25"Gerade darin entfaltet der Roman seine Qualität - wenn der Held zwischen seiner ukrainisch-jüdisch-moldawischen Familie und der bröselnden eigenen Identität nach Gewissheiten sucht." Ruth Bender, Saarländischer Rundfunk, 2.4.25"Ein höchst seltenes Leseglück." Erhard Schütz, Das Magazin, 29.03.2025"Ich war von diesem Buch begeistert! Es ist eine wahnsinnig berührende und traurige und manchmal auch verzweifelte Geschichte." Anne-Cathrin Simon, Podcast 'Die Bücherei', 23.03.25"Man weiß nie genau, wo das Autobiografische aufhört und das Fiktionale beginnt. Aber letztlich ist das einerlei, denn es geht um universelle Themen: wie man für immer in seiner Sprache beheimatet ist und wie schwierig es ist, ein liebender Sohn zu bleiben." Sabine Frank, MDR Kultur, 17.03.25"Ein autobiografischer Roman über Identitätsfragen in identitätspolitisch hochtoxischen Zeiten." Alex Rühle, SZ Online, 27.02.25"Das ist witzig, brillant witzig." Judith von Sternburg, Frankfurter Rundschau, 21.02.25"Den Mutter-Sohn-Konflikt erzählt Kapitelman auf tiefgründige, zärtliche Weise und immer mit einem großartigen Gespür für Situationskomik, obwohl die Lage todernst ist. 'Russische Spezialitäten' ist ganz große Literatur." Björn Hayer, Der Freitag, 20.02.25"In 'Russische Spezialitäten' erforscht Dmitrij Kapitelman die Beziehung zu seinen Eltern, vor allem zur Mutter; die politischen Kräfte, auch jene in Deutschland, immer im Blick. Er tut dies verzweifelt und zugewandt; liebevoll und verständnislos. Was nach Schwere klingt, liest sich bei Kapitelman dennoch leicht. Weil er ein empathischer Beobachter und Erzähler ist. Weil er sich Worte, Sätze und Szenen ausdenkt, die von liebenswertem Sarkasmus und poetischer Luftigkeit getränkt sind." Andrea Schwyzer, NDR Kultur, 17.02.25"Es ist ein sanftes Buch, sehr humorvoll, sehr liebenswert, obwohl es doch ein düsteres Thema hat, aber Kapitelman zaubert aus diesem düsteren Thema ein leichtes, sehr schönes und gleichzeitig auch sehr bewegendes Buch." Irene Binal, Ö1 ex libris, 16.02.25
Der russische Wetterreporter warnt das russische Fernsehvolk. Und somit auch meine russisch fernsehvölkische Mutter. Die seit Jahrzehnten vom sichersten aller Ostdeutschlands aus an der russischen Welt teilnimmt, Leipzig.
»Im sibirischen Atschinsk wüten für diese Jahreszeit ungewöhnlich heftige Schneestürme und Eisregen, bei bis zu minus 30 Grad. Einwohner sind aufgerufen, möglichst zu Hause zu bleiben.« Die Fernsehbilder zeigen indes Bewohner von Atschinsk, wie sie seelenruhig ihrer schneegepeitschten Frühlingswege gehen. Rentner schleppen ihre russischen Einkäufe in Richtung russischer Wohnblöcke aus der Sowjetzeit. Rechts russischer Schnee, der ihnen über den Kopf ragt, links russischer Schnee, der ihnen über den Kopf ragt. Ein geteiltes russisches Schneemeer, als hätte Moses kurz in Atschinsk Hand angelegt. Damit die Leute sich weiterhin gelobte Flusskrebskonserven und in Russland eingelegte Tomaten kaufen gehen können. Im heutigen Russland würde Moses (mit väterlich russischem Namen Moses Amramowitsch) sicher trotzdem nach russischem Recht verhaftet werden - wegen Spaltung.
Ein mit Dutzenden Schals vermummter Junge schaukelt im Schneesturm. Milizionäre und Feuerwehrleute klopfen an Dächern hängende Eiszapfen auf Volksfeindlichkeit ab. Immerhin, die Straßenhunde von Atschinsk sieht man fiepend nach einem Unterschlupf suchen. Komisch, dass sie die Hunde mit reingeschnitten haben beim russischen Propagandasender. Russische Realitäten, selbst die der russischen Köter, sind normalerweise nichts für die Russen da draußen.
»Na und?! In Atschinsk sind es auch schon mal minus 50 Grad!«, ruft meine Mutter, dem Wetterreporter irgendwie recht und doch eine kältekulturelle Korrektur gebend. In symbiotischer Dissonanz zur russischen Sendung. Stolz schwingt dabei in ihrer Stimme. Worauf eigentlich? Die mächtige russische Kälte? Die Fähigkeit der sibirischen Shopper und Schaukler, diese unerbittliche Kälte wegzurussen?
Durch das Küchenfenster fällt etwas sächsisches Sonnenlicht auf das graugelb gewordene Haar meiner Mutter. Sie raucht zu viel und altert zu viel. Das Zigarettenstopfgerät musste sie aus Abnutzungsgründen ersetzen. Auf dem Esstisch sind wie immer Hunderte Dinge, die nichts mit Essen zu tun haben. Tabakeimer, Ladekabel, Tabletten, Katzenkämme, Briefe, ausgerissene Kalenderseiten. Und auch gebratene Auberginen, irgendwo unter alldem begraben, mit Walnusspaste nach georgischer Art. Die beherrscht meine Mutter inzwischen meisterhaft russisch. Seit unser eigener Russische-Spezialitäten-Laden, der ???????, geschlossen wurde, ist sie Rentnerin. Und runder geworden, ohne die Kanten zu verlieren. Im Gegenteil. Sie wird Großmutter Kante um Kante ähnlicher.
Großmutter bestand wiederum täglich darauf, die deutschen Wetterberichte zu sehen. Je öfter am Tag, desto besser. Und blieb doch die meiste Zeit in der deutschen Wohnung. Denn da draußen verstand kaum jemand meine russisch sprechende Großmutter. Ihre Tochter schaut nun im unpogromigsten aller Ostdeutschlands jeden Tag etliche Wetterberichte für Russland. Ich gezwungenermaßen manchmal mit, wenn ich sie und Papa besuche. Und denke dabei öfter, dass sich die Atmosphäre eines Landes recht genau daran messen lässt, wie politisiert seine Wetterberichte sind. Auf den Übersichtskarten mit allen großen russischen Städten tauchen neuerdings militärisch geraubte ukrainische Städte auf, als wären sie schon immer genau da verzeichnet gewesen: Russisch-Donezk, drei Grad und Schneeregen beispielsweise.
In Russland selbst hat meine Mutter paradoxerweise kaum je Zeit verbracht. Geboren wurde sie in Sibirien, doch mit drei Jahren brachte Großmutter ihr Töchterchen ins wärmere Moldawien - die kleine Lara vertrug die russische Kälte nicht. Ihr russischer Vater war da schon über alle Berge und ließ die beiden zurück. In Moldawien wuchs meine Mutter zur Frau heran. Und diese Frau beschloss, einmal volljährig, in das große Kyjiw zu gehen. 1986 war sie ein zweites Mal in Russland, und auch das lediglich für einen Kurztrip nach Moskau. Dorthin trug sie mich mit in ihrem Bauch. Vielleicht, damit ich die sprachgewaltigste Stadt aller sprachgewaltigen russischen Städte schon einmal durch ihren Körper hindurch hören konnte. »Moskau, das ist eine Stadt, wie es sie nicht noch einmal gibt«, schwärmt sie noch heute. Entbunden und erzogen hat sie mich dann aber natürlich wieder zu Hause, in Kyjiw. In der Hauptstadt der Ukraine. Außer ihrer Sprache und ihrem sprechenden Fernseher verbindet meine Mutter also fast nichts mit dem russischen Staat.
Aber was heißt schon »außer« Sprache? Seit diesem Krieg weiß ich überhaupt nicht, was Sprache eigentlich ist. Was sie soll. Was sie will. Was sie kann. Ob sie gehört, wem sie gehört, wohin sie gehört. Wie sehr Sprache der Zeit hörig ist.
Mein Verhältnis zur Sprache meiner Mutter, meiner Mutter-Sprache, war nicht immer so entmündigend politisch. Es gab Zeiten, da waren die Wörter zwischen uns treue Boten des Vertrauens. Nicht undurchsichtige Vertreter von Zusammengehörigkeit oder ewiger Trennung. Von Unschuld und Kriegsverbrechen, Leben und Tod letztlich.
Viele Wetterberichte ist es her, da standen meine noch junge, unabhängig ukrainische Mamochka und ich vor unserem sowjetischen Wohnblock in Kyjiw. Ein märchenhafter Winterabend Anfang der Neunzigerjahre, an dem fast alle ukrainischen Nachbarn unabhängig voneinander beschlossen hatten, spazieren zu gehen. Über den knackend kichernden Schnee. Kinder der unabhängigen Ukraine fuhren Schlitten auf der jüngeren Geschichte, schaukelten und sangen Lieder von Eisbären. Gleich neben dem Spielplatz verteilte Moses Flusskrebse am Stiel. Die störenden Schalen spaltete er natürlich für jeden und schenkte den unabhängigen ukrainischen Straßenhunden die Reste. Und als Milizionäre kamen, um die Papiere von Moses Amramowitsch zu kontrollieren, zeigte er ihnen seinen Heiligenschein. Also sind sie wieder davongestampft, jeder fröhlich mit einem Flusskrebs am Stiel. Gut, seien wir ehrlich, sie haben jeder zwei Krebse für sich einverlangt. Ja selbst die unabhängig ukrainischen Alkoholiker ringsherum schütteten die grünlichen Parfümfläschchen, die sie notgedrungen soffen, beseelt in den blütenweißen Schnee. Und marschierten, wenn auch schlängelnd, zum Kiosk, um sich entgiftenden Birkensaft zu bestellen. Bis auf Yashka, dem war herzlich egal, was er noch soff. Weil Yashka eh angefangen hatte, seine Organe zu verkaufen. Die nicht länger vom Weltkrieg, von stalinistischen Säuberungen, Gulagsystem, Aufbruch, Umbruch und Abbruch des sowjetischen Systems verbitterten Senioren saßen nun auf unabhängigen ukrainischen Bänkchen. Und erzählten ihren Mitmenschen Wintermärchen. Wobei sie nicht gern hörten, wenn man ihre Geschichten als Märchen bezeichnete. Nein, sie bestanden darauf, dass es Legenden seien. Denn jeder weiß doch, dass Legenden nichts anderes als eine glückliche Familie vieler Erzählungen sind. Und unabhängige ukrainische Erzählungen, die kommen von den unabhängig ukrainischen Leuten, die kann man als nahezu gesichert annehmen. Was unabhängig ukrainische Erzählungen fast so zuverlässig macht wie Wetterberichte.
Viele schier elektrisierte Zuhörer lauschten also andächtig den Ältesten im Wohnblock. Deren von Weisheit honigweich gewordene Stimmen in Eintracht mit den Schneeflocken durch die Nacht schwangen. Manche alten Legendenwetterberichter erzählten auf Russisch, andere auf Ukrainisch: »Ja, dorogije Ljudi (russisch), ja, dorohije Ljudini (ukrainisch), es ist wahr. Wer es schafft, bis zu den Eiszapfen an den Dächern der höchsten Chruschtschowkas im Viertel zu klettern, und für jedes Mitglied einen der magischen Eiszapfen abbricht, dem wird die Familie ewig gesund bleiben!« Unter dem Jubel der Leute in unserem Wohnblock warfen die jungen, kräftigen ukrainischen Männer ihre Mützen in den Schnee, rannten los und kletterten an den höchsten sowjetischen Chruschtschowkas hoch. Damit nichts in der Welt ihren Familien je wieder Leid zufügen können würde. Die Feuerwehr stand anfeuernd bei und breitete für...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.