Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Und plötzlich gibt es keine Frage, die ich meinem Vater dringender stellen möchte. »Papa, warst du eigentlich schon mal in Israel?«
»Nein.«
»Möchtest du denn nach Israel?«
»Ja, das wäre eigentlich gut.«
»Eigentlich gut?«
»Eigentlich gut.«
»Wieso wäre das eigentlich gut?«
»Ich habe dort noch eine Briefmarkensammlung.«
Das Leben meines Vaters ist vom Selbstverständnis geprägt, ein Jude zu sein. So stellt er sich jedenfalls dar. Die entscheidenden Wendungen in seinem Leben führt er darauf zurück. Geht es ihm prächtig, lobt er sein Judenglück. Fängt er sich eine Erkältung ein, beklagt er es. Wenn er Dustin Hoffman als Rain Man (einer von Papas Lieblingsfilmen) brillieren sieht, vergisst er nie mit stolzem Grinsen anzumerken, dass Dustin Hoffman auch ein Jude sei. Mit dem religiösen Judentum hat er dagegen abgeschlossen. Traditionen befolgt er keine. Schweinefleisch isst Papa am liebsten mit Schweinefleischsoße. Allerdings soll sein Begräbnis auf einem jüdischen Friedhof stattfinden.
Was genau es also für meinen nichtreligiösen Vater bedeutet, Jude zu sein, das blieb für mich bis heute unsichtbar.
Die Wahrheit ist: Mein Vater, Leonid Kapitelman, ist unsichtbar. Und deshalb möchte ich nach Israel mit ihm. Weil ich die Vorstellung habe, dass er sich in Israel offenbart.
Und anscheinend hat er dort sogar Besitztümer.
»Eine Briefmarkensammlung?«
»Eine Briefmarkensammlung. Ich habe sie 1993 weggegeben.«
»Es wäre also eigentlich gut, Israel zu besuchen, weil du dort noch eine Briefmarkensammlung hast?«
»Ja.«
»Gibt es denn sonst noch Gründe?«
Mein Vater überlegt.
»Ein Teeservice mit Rubinen habe ich auch noch in Israel.«
»Ein Teeservice mit Rubinen?«
»Es ist ein sehr schönes Service.«
»Ein Teeservice mit Rubinen und eine Briefmarkensammlung. Sonst gibt es keinen Grund für dich, nach Israel zu fahren?«
»Und weil es gut ist, sich mit vielen Juden zu umgeben.«
Zu dem »gut« muss angemerkt werden, dass Papa das Wort polesna verwendet. Wir sprechen russisch miteinander. Die direkte Übersetzung von polesna wäre »heilsam«. Oder »wohltuend«. Es ist also gut/heilsam/wohltuend, sich mit Juden zu umgeben.
»Und wir könnten meine Freunde besuchen. Ich habe sehr viele Freunde in Israel. Sie sind damals aus der Ukraine nach Israel ausgewandert. Ich würde sie sehr gern wiedersehen.«
Beinahe wären wir damals auch nach Israel ausgewandert. Die Visa waren schon bewilligt, die Koffer gepackt. Doch dann kam Deutschland. Die Einreisegenehmigung in die BRD erhielt unsere Familie wiederum nur, weil mein Vater als Jude galt. Wir waren willkommene Wiedergutmachungsjuden. Das war 1994, seitdem sind wir hier, dennoch hat Papa Deutschland nie als neue Heimat akzeptiert. Ich glaube, weil er diesem Land den Holocaust nicht verziehen hat. Das sagt er so nicht. Aber wenn ich es ausspreche, verneint er es auch nicht. Oder begnügt sich mit einem säuerlichen »Na ja, das stimmt so nicht unbedingt«. So als würde er versuchen zu versichern, dass ihm das versalzene Essen schmeckt. Während er Löffel um Löffel unter dem Tisch auskippt. Angenommen, ich irre mich und mein Vater hat Deutschland den Holocaust tatsächlich vergeben - vergessen, wie Menschen mit einem Stern unsichtbar gemacht wurden, hat er ganz gewiss nicht. Doch manchmal gibt es Momente, in denen er ganz frei von allem zu sein scheint. Dann erlebe ich plötzlich einen überschwänglichen, irgendwie sozial euphorischen Vater, der jeden Menschen für seinen Freund hält. Aber diese Momente sind sehr selten geworden.
Ich betrachte Papa, wie er hinter der Wursttheke seines Russische-Spezialitäten-Geschäftes in Leipzig steht und etwas ungeschickt in eine Krakauer beißt, so dass sie ihm fast aus dem Kürbiskernbrötchen plumpst. Grau, beim Kauen krümelnd, unkonzentriert, so steht er vor mir, eingetönt in das teilnahmslose Surren der Kühltruhen. Käufer sind gerade keine zugegen, und ohne Kundschaft wirkt Papas »Magazin« zurückgelassen. So ähnlich wie er selbst in Deutschland.
In der Ukraine war das anders, glaube ich. Ja, er hat dieses Land gehasst, weil es ihn wie schon seine Vorfahren schlecht behandelt hat. Es war sein Zuhause, aber keine Heimat. Die akademische Karriere als Mathematiker blieb ihm dort verwehrt, weil das Sowjetsystem keine Juden an der Spitze sehen wollte. Aber soweit ich mich erinnern kann, lebte mein Vater in Kiew ein selbstbestimmteres und erfüllteres Leben. Er winkte Taxis mit Dollarnoten herbei. (Ein Mann mit einem Dollarbündel in der Hand war im Kiew der frühen neunziger Jahre quasi unübersehbar. Aber Papa und die Dollars, das ist noch mal eine eigene Geschichte.) Er zog mit meiner schönen moldawischen Mutter durch die Theater, Restaurants und Kinos der Stadt. Einmal sah ich ihn auf dem größten rinak der Stadt um ein Kilo salo feilschen. Mit kritischer Miene zutschte Papa am Probefetzen Speck und wechselte dann aus dem Russischen, das wir im östlichen Teil Kiews sprachen, ins Ukrainische, die Sprache der einfachen Händler. Um sie wissen zu lassen, dass ihr Fleisch die fünftausend Griwna nicht wert war, die sie dafür verlangten. Die Händler verzogen ihre goldenen Plombengebisse, klammerten sich hilflos an ihre Metzgermesser und jaulten »Batjko, paimij sche sirdze« (Väterchen, hab doch ein Herz). Aber Papa erhandelte unbeirrt seinen Wunschpreis. Das beindruckte mich sehr.
Wenn meine Eltern Freunde einluden, riss Papa Witz um Witz und genoss es sichtlich, im Mittelpunkt zu stehen. Nicht immer verstand ich seine doppelsinnigen Pointen, aber ich sah, dass alle über sie lachten, und war sehr stolz auf Papa. Mit großem Vergnügen schaute ich in die Gesichter unserer Gäste, die meinen Vater erwartungsfroh, gütig und voller Achtung anstrahlten. Und in sein glückliches Gesicht schaute ich, aus dem silbergrüne Augen funkelten, unter seinen lustigen schwarzen Locken, in die ich immer greifen und in denen ich wuscheln wollte. Ich war sieben Jahre alt und wusste nicht, dass es so etwas wie unsichtbare Väter gibt.
In Deutschland geht Papa nicht mal an Silvester vor die Tür. Und wenn doch, dann ist er eigentlich fortwährend damit befasst, die Verpackungen der Raketen aufzusammeln, die meine Mutter zigarettenrauchend abfeuert. Wohlgemerkt vor dem eigenen Haus, damit die Tür, vor die er getreten ist, nicht zu weit aus dem Sichtfeld gerät und der Fluchtweg nicht zu lang wird. Gebückt und mit einem undefinierbaren Grinsen hastet er mit seinem Abfallbeutel von Häufchen zu Häufchen. Die Augen starr auf den Boden geheftet, blind für die Farbströme, die sich ekstatisch am Himmel ergießen. Sein Leben spielt sich ab zwischen dem Magazin und der Wohnung, im Herbst geht er im Wald Pilze suchen - dort, wo ihn auch keiner sieht. Und seit er weiß, dass jeden Montag Legida gegen alles demonstriert, was nicht nach Sauerkraut riecht, meidet er auch die Innenstadt. Warum dieser Rückzug ins Kleine und Enge? Woher all die Verstörtheit, der Kleinmut?
Der von mir meistgeliebte Mensch ist ein Enigma. Es ist sehr schwer, einem Enigma wirklich nahezukommen. Vielleicht ist mein Vater einfach ein irreführender und widersprüchlicher Charakter, der auch unter anderen Umständen nirgends dazugehören würde. Oder er ist unsichtbar geworden, weil das Leben als Jude in der Ukraine und im Ostdeutschland der Neonazis ganz viel von ihm ausgelöscht hat. Ich weiß es nicht. Ich hege lediglich Vermutungen. Ist mein Vater so, wie er ist, weil er ein Jude ist? Oder hält ihn diese Selbstdefinition davon ab, der übersprudelnd warmherzige Allerweltsfreund zu sein, der er eigentlich gern wäre?
Deshalb Israel. Ich sehne mich nach einem unverstellten Blick auf meinen unsichtbaren Vater und hoffe, ihn dort zu bekommen. Und es eilt. Papa verträgt schon die deutsche Hitze schlecht, wogegen er Blutdruck senkende Tabletten einnimmt. Wie soll es erst mit der nahöstlichen Sonne werden? Ich unterschreibe bald vielleicht einen richtigen Redakteursvertrag. Mit festen Bürozeiten und der ganzen reiseverderbenden Pest. Vielleicht bleibt mir nicht mehr viel Zeit, um meinen unsichtbaren Vater zu Gesicht zu bekommen.
Ich freue mich, dass er die Idee »eigentlich gut« findet, auch wenn ich weiß, dass weder das Teeservice noch die Briefmarkensammlung ausschlaggebend dafür sind. Aber was dann? Wie wird Leonid Kapitelman wohl reagieren, wenn er vor der Klagemauer steht? Wenn er weinen darf? Weinen über die Ukraine, die er dafür hasst, dass er sie nie lieben durfte. Weil sie von ihm nicht geliebt werden wollte. In der er aber dennoch zwei Drittel seines Lebens verbrachte. In deren Dnjepr er so viele Sommer badete. Auf deren Hinterhof-Märkten er verbotene ausländische Briefmarken verhökerte, bis sein Vater, David Kapitelman, sie fand - Papa versteckte die heiße Ware ausgerechnet im Parteibuch der Kommunisten - und konfiszierte. Und weinen über Deutschland, das er nie verstanden hat und das ihn vielleicht nie verstehen wird. Deutschland, wo er aufgehört hat, im Sommer zu baden oder mit meiner Mutter ins Kino zu gehen, und wo er den wilden rinak gegen das öde Kaufland eintauschte. Weinen über das Deutschland, das er nicht lieben will. Und dem auch relativ egal ist, ob Leonid Kapitelman noch auf die Idee kommt, es zu lieben.
Jetzt rede ich hier die ganze Zeit über Unsichtbarkeit und stelle mich selbst nicht mal vor. Verzeihung. Mein Name ist Dmitrij Kapitelman. Oder einfach Dima. Ich nehme an, Sie haben bereits bemerkt, dass ich eine besondere Beziehung zu meinem Vater hege. Zu meiner...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.