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Kai erkannte ihn auf der Stelle, wagte aber nicht ihn anzusprechen. Es war eine kalte Nacht Anfang Dezember. Schnee lag in Köln. Die neonbeleuchteten Straßen waren matschig. Der Laster, mit dem er von Frankfurt bis hierher getrampt war, hatte ihn irgendwo an der Aachener Straße abgesetzt. Brinkmann, so wie er da stand, in einem hellen Staubmantel, den Kragen hochgeschlagen, wirkte unnahbar. Er war mit einem Gerät beschäftigt, einem Tonbandgerät und Zetteln, die er aus einer Tasche kramte, las und wieder einsteckte, zugange mit einem Mikrofon, das er offensichtlich testete, und einigen Aufnahmen, die er kurz anspielte. Die Situation, die Vorgehensweise Brinkmanns war mysteriös, Kai selbst nicht in der Lage, ganz genau zu erfassen, was hier in einem Abstand von etwa zwei Metern vor sich ging. Ob Brinkmann überhaupt Notiz von ihm nahm zu diesem Zeitpunkt und wie diese Zufallsbegegnung im Detail ablief, würde er Stunden später kaum rekonstruieren können, so überrumpelt fühlte er sich von der Erscheinung, aber auch übermüdet und noch nicht in dieser Stadt angekommen, in der er noch nie gewesen war. Im Gedächtnis blieben ihm eine Reihe von Wörtern, die Brinkmann von Band spielte oder einsprach oder die er als Hörer hinzu fantasierte oder falsch verstand oder später richtig erinnerte: kleine matschige Flocken, durch dunkle Schatten, Zeitverknappung, Unsinn der Gegenwart, Unsinn der Vergangenheit, vollgefüllte deutliche Begriffe, Zeitentzug, das Ende aller Dinge, trockene Lippen, Atemgeräusche, Wellpappe, Körperempfindung, Bewusstsein, Lebensgeräusche, Menschenlarven, verbranntes Zelluloid, ein unbekanntes Licht, erstorbene Fantasie, Wichtelmännchen, in Schlachtordnung, Gefühl der Kleinheit, Dreckshaufen, Hundeblicke, Dogmatik, bloßes Denken, schmieriger Alltag, verfluchte Gegenwart, verfluchte Realität, Staaten und Kriegsheere, technische Geräte, Schrecken und Angstschweiß, analerotische Signale überall, überall Grimassen, Fahndungsbücher, Backsteinkanten. Auch Autowracks kamen vor, an die Wand geklebte Stücke, blutige Striemen, in welchem Zusammenhang auch immer, Schwarzer Afghan. Hier war die zugenagelte Bretterwand, dort fiel das Wort Versteinerungen oder Bauchnabel, immer wieder Felle, Körper mit dem Gefühl von Nässe und Kälte, immer wieder schmierige Typen, immer wieder schmierige Straßen, Hungerszenen. Es wimmelte von Abfällen, toten Blättern, jeder Menge Mufftypen. Mehrfach wurde eine Texaco-Tankstelle erwähnt. Menschenmasken, doofe Nüsse und abgetakelte Häuser waren da, von einem Verlieren in der Menge war die Rede, von Aufmerksamkeit immer an das Momentane.
Für Sekunden drangen Fetzen von Songs und Improvisationen aus dem Lautsprecher des Rekorders, von Velvet Underground, Sam & Dave, Rolling Stones, Soft Machine, Traffic und möglicherweise Dizzie Gillespie. Sowie andere, dem Zuhörer unbekannte Musikstücke. Partylärm, übersteuerte wilde Klänge. Einzelne Wörter wurden flüsternd ins Mikro gesprochen, Glotzgesichter, vergorene Gefühle. Dann ganze Sätze, von denen Kai später aber nur mehr einen gehört zu haben glaubte: Die auffallenden Unterschiede verschwinden, die Erde wird überall gleich. Eine weitere Satzhälfte immerhin meinte er in Erinnerung behalten zu haben, über den übrig gebliebenen und in der Luft umherfliegenden Verstand eines Menschen, der bald in seiner Vorstellungskraft zerflatterte. Manches war absolut unverständlich, etwa wenn von Fragmenten, die an den Leichnamen hingen, geredet wurde und, wie zu hören war, andren Materialien. Auch einzelne Laute wie Brrrr oder Bäh Bäh Bäh waren zu vernehmen, dann wieder gesprochene Wörter vom Band oder der ins Mikro sprechenden Stimme, über vertrocknete Platanenblätter, die einsamsten und abgelegensten Gegenden der Stadt, erloschene Buchstaben, kleine Schwirrvögel, irgendeine Widerwärtigkeit, graues Fleisch, gelbsandige Wege. Manche Wörter klangen rau, hart, angewidert, andere zugewandt, zärtlich, weich, traurig: Sex, Schnitte, Titten, tote Flüsse, Kinderknarren, Chillums. Einzelne Vornamen wurden genannt, Maleen, Robert, Henning, in Verbindung gebracht mit Schlangenleder, Verhören, schwarzen Beeren, Wortjauche und Rocky Mountains Musik Dreck.
Erst fröstelnd, dann zitternd vor Kälte hörte Kai zu. Seine Füße waren eiskalt, die Nase lief ununterbrochen. Er verlor sich im uferlosen Fluss der Wörter und ihrer Bedeutungen. Es gab Augenblicke der Stille. Er traute sich nicht, sie zu durchbrechen. Dann hantierte Brinkmann wieder mit seinem Mikro, seinem Gerät und seinen Zetteln, spulte das Band vor und zurück, und machte kurze Aufnahmen. Endlich wandte er sich ihm zu: »Na und, na und.«
»Entschuldigung«, stammelte Kai, »ich kenne mich nicht aus hier, aber Sie sind – da war ein Artikel in der Zeitung, den ich ausgeschnitten habe, mit einem Foto. Sie sind Brinkmann, Rolf Dieter Brinkmann oder nicht?«
»Brinkmann, Brinkmann, wer ist schon Brinkmann«, sagte Brinkmann, »na und, na und, na schön. Wer bist du? Wie heißt du? Wo kommst du her? Sag, wer du bist. Wer bist du, na sag schon.«
Er fühlte sich von den knappen, klaren, in gleichbleibendem Klang wiederholt gestellten Fragen hart bedrängt, und brachte, so in die Defensive gekommen, nur mühselig einige Sätze hervor.
Er hatte nicht den Eindruck, dass Brinkmann seinem Gerede folgte. »Was für ein Aufzug, wie ihr euch ausstaffiert, Parka, lange Haare. Öde Typen, genauso öde wie die Popmufftypen, die jetzt überall rumhängen. Bleibt mir bloß mit eurer verschimmelten Ideologie vom Leib, Jungs, mit euren dämlichen Wörtern, mit euren endlosen Bandwurmsätzen in den verfluchten Seminaren.«
Er sei kein Student, erwiderte Kai. Er sei ausgerissen, abgehauen, vor sechs Wochen. Er habe die Schule hingeschmissen, ein Jahr vor dem Abi. Jetzt würde er herumtrampen und so. Mit dieser Antwort schien Brinkmann einigermaßen zufrieden zu sein. »Kannst du mal nehmen.« Er hielt ihm den Bandrekorder hin. Es war keine Frage, es klang eher nach einer Anweisung, wie sie Assistenten gegeben werden. Er nahm das Gerät, das in einer schwarzen Ledertasche an einem Riemen baumelte. Brinkmann holte einen kleinen Schreibblock aus der linken Innentasche seines Staubmantels und einen Stift. Er kritzelte zwei oder drei Wörter auf ein Blatt, steckte den Block wieder ein, und sagte, nachdem er mit einer Handbewegung das Tonbandgerät zurückverlangt und wieder umgehängt hatte, ins Mikro: »Das Wirkliche war nun da, nur durch Zeit und Zufälle verdunkelt. Die Erdstöße, die Tiefflieger, die Granatsplitter. Mangel an Gegenwart, die wilde Lust, Zustand der Gleichgültigkeit, Gefühle abgestumpft, aufgerissener Asphalt, die leere Wirklichkeit, nichts als die leere Wirklichkeit, die kahle Wirklichkeit, Schrecken und Grauen vor der Zukunft, keine Zukunft mehr, zurückgebliebene Aschenhaufen. Schuldgefühle, Ordnung, fleißig sein, alles wieder gut machen. Dumpfheit der Empfindung, menschliche Larven, Zerstörung und Zerstückelung des Körpers. Die tägliche Gewohnheit« – Brinkmann hielt inne und blickte suchend noch oben – »durch die tägliche Gewohnheit vergisst man, vergisst man am Ende, dass man einen Körper hat. Dass man einen Körper hat, der allen Gesetzen der Zerstörung unterworfen ist. Einen Körper hat, der allen Gesetzen der Zerstörung in der Körperwelt unterworfen ist, als« – Brinkmann lachte auf – »als ein Stück Holz, das wir zersägen oder zerschneiden, also dass sich der Körper nach eben den Gesetzen bewegt wie jede andere von Menschen zusammengesetzte körperliche Maschine.«
»Das Wichtigste im Leben spielt sich 85 Zentimeter über dem Boden ab«, flüsterte er, das Mikro nah an den Lippen. Er fasse sich an seinen Schwanz, seinen Sack. Hier unter diesen Winterbäumen rollten so viele Gedanken und Empfindungen unaufhörlich durch seinen Kopf. Misstrauisch mache ihn die ungeheure Verketzerung von Onanie bei den linken Theorieheinis. Immer würden sie sagen, das sei doch Onanie. Woher bloß diese Wut über eine sexuelle Betätigung komme. Überall gebe es Schwierigkeiten mit Frauen und mit Sexualität. Alles sei zugestopft von dieser alltäglichen Realität, jede Empfindung, jedes gute Gefühl, jede Lust durch den Druck von außen beinahe erloschen. Der Staat hetze Männer und Frauen gegeneinander auf. Elende Berufsarbeiten! Es gehe nur noch um Arbeit und Fleiß, ein Arbeitslager sei Westdeutschland. Diese ganze miese schimmernde Gesellschaft, in der er wie ein Gespenst täglich herumwandere, diese Gestalten, die leeren Phantomen nachjagten, alle Glieder zitterten mit konvulsivischer Bewegung, die Muskeln des Gesichts verzerrten sich in schreckliche Mienen – »und immer diese Raserei nach dem Geld! Jeder hat das Papier vom Staat in der Tasche!«, schimpfte Brinkmann jetzt und schaltete auf Stopp. Dann spulte er das Band zurück, hörte sich einige Sekunden an und drückte nach zwei oder drei Wörtern wieder die Aufnahmetaste. Er löschte eine Sequenz der Aufnahme, ersetzte oder unterbrach alte Wörter für neue, die er jetzt ins Mikro sprach.
Kai ging neben dem ununterbrochen Sprechenden, manchmal Schimpfenden oder Schreienden her, schaute, hörte zu, fasziniert, beklemmt von der hohen Emotionalität des von ihm bewunderten Dichters in der kalten Winternacht. Brinkmann nahm von ihm weiter keine Notiz, duldete aber den jungen Begleiter. Das Mikro nah an den Lippen flüsterte er: »Ich trete aus dem Haus, aus der Haustür.« Das letzte Wort hing in der Luft, der Satz war noch nicht abgeschlossen. Er machte eine Pause, in der nur seine Schritte zu hören waren, um dann stehen zu bleiben und mit lauter Stimme fortzufahren, »und trete zuerst mal in Hundescheiße, zuerst trete ich mal in Hundescheiße. Verdammte...
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