1
Am Abend nach der Hochzeit des attraktivsten Mannes der Insel betrank sich Regina Barone.
Sich flachlegen zu lassen wäre allerdings noch besser gewesen.
Regina sah von dem Mechaniker Bobby Kincaid, dessen Blick den feuchten Glanz seiner Bierflasche angenommen hatte, zu dem dreiundfünfzigjährigen Henry Tibbetts, der nach Hering roch, und dachte: Fette Beute. Aber auf einer Insel mit einer Ganzjahresbevölkerung von elfhundert Einwohnern hätte ein Schäferstündchen im Vollrausch auf einer Hochzeitsfeier ohnehin gravierende Konsequenzen haben können.
Und mit Konsequenzen kannte sich Regina aus. Schließlich hatte sie Nick, oder?
Die Zugbänder des Hochzeitszeltes flatterten im Wind. Da es zur Seite hin offen war, konnte Regina zum Strand hinabsehen, wo sich das glückliche Paar das Jawort gegeben hatte - ein schmaler Geröllstreifen, ein Gewirr aus Felsen, ein sichelförmiges Stück Sand am Rand des ruhelosen Ozeans.
Nicht gerade der klassische Ort zum Heiraten. Maine, selbst im August, war eben nicht Barbados.
Regina hievte ein Tablett mit schmutzigen Gläsern hoch; dabei entdeckte sie ihren Sohn, der neben ihrer Mutter an der Tanzfläche stand und von einem Fuß auf den anderen hüpfte.
Sie spürte, wie ihr Mund und ihre Schultern sich entspannten. Die Gläser konnten warten.
Sie stellte das Tablett wieder ab und ging quer durch das große weiße Zelt. »Hey, schöner Mann.«
Als sich der achtjährige Nick umdrehte, sah sie sich selbst in Miniaturausgabe: dunkle italienische Augen, ein schmales, ausdrucksvolles Gesicht und einen großen Mund.
Regina streckte beide Hände aus. »Willst du mir zeigen, was du drauf hast?«
Nicks anfängliche Skepsis wurde von einem Grinsen abgelöst.
Antonia Barone nahm seine Hand. Reginas Mutter war in vollem Bürgermeisterinnenornat - sie trug grellroten Lippenstift und ein zweiteiliges marineblaues Kleid. »Wir wollten gerade gehen«, sagte sie.
Mutter und Tochter starrten sich an.
»Ma. Nur ein Tanz.«
»Ich dachte, du hast zu tun«, erwiderte Antonia spitz.
Seitdem Regina angeboten hatte, das Catering für diese Hochzeit zu übernehmen, hörte ihre Mutter nicht auf zu sticheln. »Ich habe alles im Griff.«
»Soll ich immer noch heute Nacht auf ihn aufpassen?«
Regina unterdrückte ein Seufzen. »Ja. Danke. Aber ich möchte trotzdem vorher noch einen Augenblick mit meinem Sohn haben.«
»Bitte, Nonna«, bettelte Nick.
»Darüber habe nicht ich zu entscheiden«, sagte Antonia mit einer Stimme, die das Gegenteil nahelegte. »Mach, was du willst. Das tust du sowieso immer.«
»Schon lange nicht mehr«, murmelte Regina, während sie rasch mit Nick Richtung Tanzfläche ging.
Doch in den nächsten zehn Minuten freute sie sich einfach nur, wie Nick über die Tanzfläche hüpfte und schlitterte, sich klatschend drehte und wendete, lachte und sich wie jeder andere Achtjährige verhielt.
Dann wurde die Musik langsamer, und Pärchen eroberten die Tanzfläche.
Regina, der die Riemchen ihrer Sandalen in die Zehen schnitten, brachte Nick zu ihrer Mutter zurück.
»Zapfenstreich, Süßer. Du fährst jetzt mit Nonna in der Kürbiskutsche nach Hause.«
Er hob den Kopf und sah sie an. »Und was ist mit dir?«
Regina strich ihm das dunkle Haar aus dem Gesicht, wobei sie ihre Hand einen Moment auf seiner weichen Wange ruhen ließ. »Ich muss noch arbeiten.«
Er nickte. »Hab dich lieb.«
Sie spürte Mutterliebe unter ihrem Brustbein explodieren. »Ich hab dich lieb.«
Sie sah ihnen nach, wie sie das weiße Mietzelt verließen und den Hügel Richtung Parkplatz hinaufgingen; ihre füllige Mutter und ihr magerer Sohn warfen lange Schatten auf den Rasen. Die untergehende Sonne beschien den Hügelkamm und ließ die Sträucher dort fuchsien- und goldfarben aufleuchten wie verzauberte Rosen aus einem Märchen.
Es war einer jener Sommerabende, einer jener Tage, die Regina fast glauben machten, dass es so etwas wie ein Happyend tatsächlich geben konnte.
Aber nicht für sie. Niemals für sie.
Sie seufzte und drehte sich um. Ihre Füße schmerzten.
Bobby Kincaid hatte den Bardienst übernommen - für Freibier und um Cal einen Gefallen zu tun. Bobby verdiente gutes Geld in der Werkstatt seines Vaters. Heutzutage musste jeder Sechzehnjährige auf der Insel, dem das Geld aus den Hummerjobs ein Loch in die Tasche brannte, ein Auto haben. Oder einen Pick-up.
Regina wich aus, als Bobby versuchte, ihr an den Hintern zu fassen. Zu schade, dass er so ein Idiot war.
»Hi, Bobby.« Sie schnappte sich eine Sektflasche aus der eisgefüllten Kühlbox und drehte die Agraffe um den Korken auf. »Lass uns rasch noch eine Runde Sekt nachschenken, und dann räumen wir die Kuchenteller von den Tischen.«
»Hey«, polterte eine tiefe Männerstimme hinter ihr. »Du hast jetzt frei.«
Reginas Herz schlug schneller. Sie drehte sich um. Starke, gebräunte Hände, ruhiger Blick aus grünen Augen und ein verletztes Bein, das er aus dem Irak mitgebracht hatte. Polizeichef Caleb Hunter.
Der Bräutigam.
Er nahm ihr die Proseccoflasche aus der Hand, schenkte eine Sektflöte voll und reichte sie ihr. »Du bist hier Gast. Wir möchten, dass du dich heute Abend amüsierst.«
»Ich amüsiere mich ja. Jede Gelegenheit, mal etwas anderes als rote Sauce und Hummerrollen zu servieren .«
»Das Menü ist köstlich. Alles ist hervorragend. Diese Krabbenpastetchen .«
»Mini-Landkrabben-Plätzchen mit Jalapeño-Aioli und Sauce von geröstetem rotem Pfeffer«, rasselte Regina herunter.
». sind wirklich der Hit. Du hast das toll gemacht.« Sein Blick war warm.
Regina errötete bei seinem Kompliment. Sie hatte es toll gemacht. Bei weniger als einem Monat Planungs- und Vorbereitungszeit und mit der völlig ahnungslosen Braut und der ungeschickten Schwester des Bräutigams als einziger Unterstützung hatte Regina die Hochzeit auf die Beine gestellt, die sie nie gehabt hatte. Warmes Laternenlicht erhellte das gemietete Zelt, das mit Rittersporn, Gänseblümchen und Sonnenblumen geschmückt war. Frisch gestärkte weiße Tischwäsche bedeckte die Picknicktische, und die Klappstühle aus dem Gemeindehaus hatte sie mit wallenden Bändern verziert.
Ein großer Erfolg war das Essen - ihr Essen: Muscheln in Knoblauch und Weißwein gedämpft, Basilikum-Tomaten-Bruschetta, geräucherter Wildlachs an einer Dill-Crème-fraîche.
»Danke«, erwiderte sie. »Ich habe schon daran gedacht, Ma dazu zu überreden, ein paar von den Vorspeisen in unsere Speisekarte zu übernehmen. Die Muscheln vielleicht oder .«
»Toll«, wiederholte Cal, aber er hörte schon nicht mehr zu. Sein Blick war über sie hinweg zu seiner Braut Maggie geglitten, die gerade mit seinem Vater tanzte.
Margreds dunkles Haar hatte sich aus der Steckfrisur gelöst und floss nun ihren Nacken herab. Sie hatte die Schuhe abgestreift, so dass der Saum ihres weißen Kleides auf dem Boden schleifte. Sie sah zu Calebs Vater auf und lachte, als er auf der Tanzfläche eine unbeholfene Drehung vollführte.
Die unverhohlene Intensität, mit der Cal seine Frau beobachtete, schnürte Regina die Kehle zu.
In ihrem ganzen Leben hatte noch kein Mann sie so angesehen, als wäre sie die Sonne und der Mond und sein gesamtes Universum in einem. Wenn das jemals einer täte, würde sie ihn nie wieder loslassen.
Wenn Cal es je getan hätte .
Aber das hatte er nicht. Würde er nicht. Niemals.
»Geh tanzen«, sagte Regina. »Es ist deine Hochzeit.«
»Stimmt«, entgegnete Cal und wollte schon weggehen.
Doch er drehte sich noch einmal kurz um und befahl lächelnd: »Und jetzt Schluss mit der Arbeit. Wir haben die Jugendgruppe angeheuert, damit du dich ausruhen kannst.«
»Du weißt doch, dass man diese Kirchenkids mit Argusaugen beaufsichtigen muss«, rief ihm Regina nach.
Aber das war nur eine Ausrede.
Die Wahrheit lautete, dass sie lieber Gläser schleppen und Platten abkratzen würde, als dieselben Gespräche zu führen, die sie schon früher geführt hatte, mit denselben Menschen, die sie schon ihr ganzes Leben lang kannte. Wie ist das Wetter? Wie geht es deiner Mutter? Und wann heiratest du endlich?
O Gott.
Sie sah zu, wie Cal mit seiner neuen Frau die Tanzfläche umrundete - langsam wegen seines Beins -, und Leere machte sich in ihr breit, heftig wie ein Krampf.
Sie griff sich ihr Glas und die offene Proseccoflasche und ging weg von alldem, von der Musik, den Lichtern und den Tänzern. Weg von Bobby hinter der Bar und Caleb, der Maggie im Arm hielt.
Reginas Absätze stachen Löcher in den zertretenen Rasen. Angezogen vom Brausen des Wassers bei den Felsen, stakste sie unsicher über den Schiefer. Schaumige Gischt leckte an ihren Füßen. Sie setzte sich auf einen Granitbrocken, um die Sandalen auszuziehen. Ihre nackten Zehen krümmten sich im kühlen, groben Sand.
Ah. Das war besser.
Sie schenkte sich noch ein Glas ein.
Der Pegel in der Flasche sank, während der Mond flach und hell aufging. Der Himmel nahm ein intensives Grau und Lila an, das sie an das Innere einer Muschel erinnerte. Regina legte den Kopf in den Nacken und sah zu den Sternen empor. Sie hatte das Gefühl, als würde sich die Erde um sie drehen.
»Vorsicht.« Die tiefe Männerstimme klang belustigt.
Regina fuhr zusammen. Der Prosecco in ihrem Glas schwappte über. »Cal?«
»Nein. Enttäuscht?«
Der Alkohol war auf ihr Kleid getropft. Mist.
Reginas Blick flog zum Zelt zurück und wanderte dann auf der Suche nach dem Besitzer dieser Stimme über den Strand.
Da stand...