Schweitzer Fachinformationen
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Damit fängt es an.
Ich bin meines Lebens überdrüssig. Ich langweile mich so sehr, dass ich sterbe. Ich langweile mich so sehr, dass ich sterben könnte, wenn ich es über mich brächte und die Kraft dazu hätte.
Ich bin mittelalt, männerlos und kinderlos. Ich lebe allein. Ich mache seit zehn Jahren dieselbe Arbeit. Ich stehe morgens um 6.15 Uhr auf. Ich frühstücke, immer das Gleiche. Ich lese die Zeitung. Gehe unter die Dusche. Fahre zur Arbeit im Zentrum von Helsinki. Ich arbeite, sitze in Besprechungen. Ich nehme die Umstrukturierungen und die Unternehmensberater, die für mehr Effizienz sorgen sollen, von Jahr zu Jahr frustrierter zur Kenntnis. Ich fahre wieder nach Hause zurück. Ich sehe fern, zu viel. Ich gehe zum Yoga, manchmal. Aus Angst vor Kopfschmerzen vermeide ich es, Wein zu trinken. Ich gehe zeitig schlafen. Den größten Teil der Nacht liege ich wach. Am nächsten Morgen stehe ich um 6.15 auf.
Ich sterbe vor Langeweile. Ich sterbe vor Beklemmung. Ich sterbe, weil mich alles ankotzt. Ich muss mir etwas einfallen lassen.
Von einer Freundin ermuntert, lege ich eine Tafel der Träume an, obwohl ich den Verdacht habe, dass es Humbug ist. Ich nehme ein Stück Pappe, das im Ikebana-Kurs übriggeblieben ist, und klebe gelbe Post-it-Zettel darauf, auf die ich Dinge schreibe, die ich will. Ein Auto, das funktioniert. Eine Safari. Einen Mann (eventuell). Irgendein inspirierendes Projekt. Einen Grund, für einige Zeit in Japan zu leben.
Es ist überraschend schwer, sich Dinge auszudenken, die man will, wenn man seines Lebens überdrüssig ist. Das Ganze kommt mir immerhin idiotisch genug vor, dass ich die Tafel jedes Mal verstecke, wenn jemand zu Besuch kommt. Was nicht sehr oft der Fall ist.
An meinem Arbeitsplatz werden Verhandlungen über Stellenabbau angekündigt. Oder nein, es wird irgendwie anders ausgedrückt: Es wird davon gesprochen, dass man sich für die Zukunft präparieren, das Kerngeschäft stärken wolle. Das Resultat ist jedenfalls das gleiche: Fünfundzwanzig Menschen müssen gehen. Ich bin keine von ihnen, aber mein Arbeitsplatz ist nicht mehr der alte. Ich will hier nicht mehr sein. Ich beschließe zu gehen. Obwohl ich überhaupt nicht weiß, wohin, fühle ich mich sofort leichter.
Vor mehr als zehn Jahren fing ich an, Gedanken mit der japanischen Hofdame Sei Shonagon, die im 10. Jahrhundert gelebt hat, auszutauschen. Ich las ihr Werk Makura no Soshi, also Das Kopfkissenbuch, in einem Kurs über japanische Literatur an der Universität und verliebte mich sofort. (Also gut: Ich habe es nicht ganz gelesen, weil es stellenweise ziemlich schwer zu verstehen ist, aber ich vertiefte mich in ausgewählte Passagen der englischen Übersetzung.) Im Lauf der Jahre ließ ich mich dazu inspirieren, auf der Grundlage von Seis berühmten Listen mal dieses und mal jenes zu planen, manchmal mit mehr, oft mit weniger Erfolg. Einmal schickte ich ein zehnseitiges Manuskript an eine meiner Kolleginnen, die Lektorin war. Ihr Kommentar lautete: »Ganz spannend, aber was ist das?« Ich wusste es nicht.
Ach Sei, dich (mich) versteht man auch im 21. Jahrhundert noch nicht.
Ich komme auf die Idee, Jobsharing zu machen und mich für ein Jahr freistellen zu lassen. Ich komme auf die Idee, nach Japan zu gehen, um mich mit Sei Shonagon zu beschäftigen, über sie und über mich zu schreiben, und was das Aberwitzigste ist, ich fange an, nach diesem vorerst fiktiven Dokumentationsprojekt zu leben. Ich habe keine Ahnung, ob die Möglichkeit besteht, mich für ein Jahr freistellen zu lassen, oder wovon ich leben soll, falls es gelingt. Ganz zu schweigen davon, ob ich ein Buch schreiben könnte, auch wenn ich jahrelang mit den Texten anderer gearbeitet habe.
Ich schlage das Notizbuch auf, das ich ein Jahr zuvor in Tokio gekauft habe und dessen Umschlag ein kleines wütendes Mädchen von Yoshitomo Naran zeigt. Dann schreibe ich - sicherheitshalber in Barbiesprache - die ersten Sätze:
Die da würde jetzt ein Jahr freinehmen. Sie würde nach Japan gehen und sich mit Sei Shonagon beschäftigen. Sie würde irgendeine irre Geldsendung bekommen und davon das ganze Jahr leben. Danach würde sie, wer weiß wohin, reisen. Sie hätte ein tolles und spannendes Jahr, über das sie ein Buch schreiben würde. Dann wäre sie bis zum Ende ihres Lebens glücklich und würde sich überlegen, was für fantastische Sachen sie als Nächstes machen würde.
Es ist der 5.10.2009, ich bin 38 Jahre alt. Damit fängt es an. Ich weiß es.
In der Nacht schlafe ich seit Langem einmal gut und sehe im Traum mein neues Leben vor mir. Mit meiner Kampfesgenossin Ulla entdecke ich in der Granitburg, in der sich mein Arbeitsplatz befindet, einen neuen Flügel. Er besteht aus einem großen, fabrikhallenartigen Saal mit wandgroßen Fenstern, durch die man auf paradiesische Wiesen sieht, die bis zum Horizont reichen. Wildpferde weiden darauf.
So kann das Leben sein, denke ich.
. . .
[Sei Shonagon schreibt]
Was angenehm ist
Wenn man einen großen Haufen Geschichten findet, die man noch nicht gelesen hat. Oder wenn man den zweiten Teil einer Geschichte in die Hände bekommt, deren erster Teil einem gefallen hat. Aber oft erweist sie sich als Enttäuschung.
Jemand hat einen Brief zerrissen und weggeworfen. Beim Einsammeln der Teile merkt man, dass man viele davon wieder zusammenfügen kann.
Ich freue mich sehr, wenn ich Michinoku-Papier in die Hände bekomme, oder weißes, verziertes Papier, oder auch ganz gewöhnliches Papier, wenn es schön und weiß ist.
Dinge, die ich über Sei Shonagon weiß:
Ich weiß, dass Sei Shonagon (ca. 966-1017) eine japanische Hofdame war, die vor tausend Jahren in der Heian-Zeit am Hof diente. Sie schrieb ein Buch namens Makura no Soshi, in dem sie in tagebuchartigem Stil Anmerkungen zum Leben am Hof macht. Das Werk ist eine Sammlung von Listen, Gerüchten, Gedichten, ästhetischen Bewertungen und vermischten Beobachtungen, unter anderem über zwischenmenschliche Beziehungen und über die Natur - über alles, was die Verfasserin der Niederschrift wert fand. Ihr Stil bildet den Anfang einer Literaturgattung, die man Zuihitsu nennt (wörtlich »dem Pinsel folgend«), und in diesem Stil setzt sich das Buch aus den zufälligen, persönlichen Gedanken der Verfasserin zusammen. Über Sei Shonagons Leben weiß man nicht viel mehr, als das, was sich aus ihren Texten schließen lässt, aber zur gleichen Zeit waren am Hof von Heian-kyo, dem heutigen Kyoto, auch viele andere schreibende Frauen tätig. So ist zum Beispiel das Buch Die Geschichte vom Prinzen Genji von Sei Shonagons Konkurrentin Murasaki Shikibu als erster Roman der Welt in die Geschichte eingegangen und gilt immer noch als wichtigstes Werk der japanischen Literatur.
Ich weiß, dass Makura no Shoshi in der Übersetzung von Ivan Morris unter dem Titel The Pillow Book of Sei Shonagon auf Englisch erschienen ist, denn diese Version habe ich mir, inspiriert von einem Kurs über japanische Literatur, im Dezember 1995 für mein Bücherregal angeschafft. Das Buch kennt hier so gut wie niemand, weil es nicht ins Finnische übersetzt worden ist, und man nennt es einfach das Kopfkissenbuch.
Sei, ich habe im Hinblick auf dich zwei undeutliche Gedanken. Erstens: Viele deiner vor tausend Jahren gemachten Anmerkungen sind mir erstaunlich nah und kommen mir so aktuell vor, als würdest du speziell zu mir sprechen. Zweitens: Die Gattung Zuihitsu erscheint mir irgendwie sehr modern und in ihrem persönlichen und fragmentarischen Charakter fast wie eine Vorfahrin des Blogs.
Ich weiß, dass ich dich, den Gedanken an dich, fast fünfzehn Jahre mit mir herumgetragen habe. Ich habe dich als Geheimnis gehütet, als Quelle meiner Inspiration, die mir aus der Vergangenheit von Jahrhunderten heraus im Beruf wie in der Freizeit beim Verfassen von Texten mit Rat und Tat zur Seite gestanden hat. Inspiriert von dir habe ich ein Manuskript für die Schublade geschrieben. Inspiriert von deinen Listen habe ich Bücher zum Ausfüllen erfunden, denn es ist erstaunlich, wie viel interessante Erkenntnisse über die Persönlichkeit eines Menschen in Listen verdichtet werden können. Ich habe (für irgendein anderes Leben) eine kunsthandwerkliche Post-it-Zettel-Ausstellung auf der Grundlage deiner Schriften geplant.
Schon immer habe ich gewusst, dass ich eines Tages für dich Verwendung finden werde, und da nun der Augenblick gekommen ist, erscheint es mir ganz selbstverständlich, für ein Jahr wegzugehen, um nach dir zu suchen und darüber zu schreiben. Ich stelle mir vor, in dein Heimatland Japan zu reisen, mich in die unpraktischen Gewänder der Heian-Zeit zu kleiden, mein Gesicht weiß anzumalen, in der Winterkälte Gedichte im Mondlicht zu schreiben, dich und mich zu finden.
Ich denke, dass ich der einzige Mensch auf der Welt bin, zu dem du sprichst. Ich bilde mir ein, erwählt zu sein, etwas zu sehen, was die anderen nicht sehen. Ich glaube, dass nur ich eine Verbindung zu dir habe, eine mindestens mystische, und dass darum nur ich etwas von dir verstehen kann, was niemand sonst je verstanden hat.
Dieses spärliche und falsche Wissen schreibe ich ohne die geringste Hemmung in einen Antrag auf ein Stipendium, das mir das Verfassen eines Sachbuchs...
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