Schweitzer Fachinformationen
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DIE AVOCADO
»Hallo?«
Eine Frau mit einem ausladenden Hut steckt ihren Kopf durch die Tür von Yu-hees Laden, und die Türglocke klingelt fröhlich. Yu-hee, die gerade mit dem Rücken zur Eingangstür kniet, richtet sich langsam auf und ruft:
»Bitte treten Sie ein.«
Vorsichtig betritt die Frau den Raum und lässt ihren Blick unauffällig über die Auslagen schweifen. Yu-hee zieht ihre Handschuhe aus und begrüßt die Kundin mit dem beigen Shopper, die weiße Pumps und dazu passend ein weißes Kleid trägt. Ihr Erscheinungsbild wirkt inmitten des von sattem Grün dominierten Ladens beinahe deplatziert.
»Suchen Sie etwas Bestimmtes?«
Die Frau schaut sich noch einen Moment weiter um, bevor sie antwortet:
»Ich bin auf der Suche nach außergewöhnlichen Pflanzen - pflegeleicht, aber mit einem gewissen Etwas. Früher hatte ich mal Spargel. Etwas ähnlich Ausgefallenes wäre schön. Oh, das hier hat wundervolle Muster!«
Sie bleibt vor dem Gummibaum am Fenster stehen und streckt die Hand aus, um das neue, breite Blatt an der Spitze zu berühren. Doch hält Yu-hee sie hastig zurück.
»Oh, bitte seien Sie vorsichtig mit den Blättern. Das ist ein Ficus elastica Tineke, der ist ein bisschen schwierig zu handhaben. Spargel gehört übrigens auch zu den eher anspruchsvollen Arten. Aber es gibt auch viele andere dankbare Pflanzen, vor allem pflegeleichte und schnell wachsende Kräuter. Soll ich Ihnen welche zeigen?«
Yu-hee deutet auf die Töpfe im hinteren Teil des Ladens. Doch die Frau schüttelt stirnrunzelnd den Kopf.
»Nein, danke. Das sind ja ganz normale Pflanzen. Da ist nichts Außergewöhnliches dabei.«
Ihre Hand verharrt noch einen Moment zögernd in der Luft, bevor sie sie schließlich zurückzieht. Dann fügt sie hinzu:
»Wenn man sagt: Ich habe Sukkulenten, klingt das sehr gewöhnlich. Aber wenn man erzählt, man hätte Spargel zu Hause, fragen die Leute erstaunt, ob man den überhaupt im Haus anbauen kann, weil sie denken, das ginge nur auf dem Bauernhof. Solche Reaktionen gefallen mir.«
Yu-hee lässt sie ausreden und zieht dabei leicht genervt ihre Handschuhe aus der Jackentasche. Währenddessen durchquert die Frau mit großen Schritten den Laden und lässt ihren Blick schweifen, bis sie in der Ecke eine Topfpflanze entdeckt. Schwungvoll hebt sie den kleinen Topf hoch und fragt Yu-hee:
»Wie nennt man die? Sieht ungewöhnlich aus.«
Es ist eine Peperomia. Aus der Ferne sehen die hübschen Blätter aus wie glänzende, übereinandergeschichtete Matcha-Mochis. Solange man sie vor direkter Sonne schützt und für eine angemessene Luftfeuchtigkeit sorgt, ist sie recht unkompliziert zu halten. Yu-hee hat für sie einen schönen Tontopf ausgesucht, in dem die einzigartigen Blätter gut zur Geltung kommen, und kümmert sich mit großer Sorgfalt um sie.
»Das ist eine Peperomia«, erklärt sie. »Sie ist etwas empfindlich. Am besten sie steht draußen, nicht im Haus, und man muss morgens und abends die Temperatur im Auge behalten. Auch die Luftfeuchtigkeit sollte konstant bleiben. Außerdem .«
Obwohl die Pflanze eigentlich nicht zum Verkauf bestimmt ist, könnte man sie problemlos anbieten. Normalerweise hätte sie sie für einen fairen Preis abgegeben. Doch während sie spricht, betont sie immer stärker die Empfindlichkeit der Peperomia - nicht, weil ihr diese Pflanze besonders am Herzen läge, sondern, weil sie sicher ist: Diese Pflanze wäre nichts für die Frau. Irgendetwas in Yu-hee drängt sie dazu, deren Interesse rasch zu zerstreuen.
Die Frau hört sich alles schweigend an, stellt den Topf schließlich vorsichtig zurück und klopft sich die Hände ab. Ihr Blick schweift noch einmal durch den Laden, dann verlässt sie ihn, ohne ein Wort zu sagen. Sie bleibt aber noch eine Weile vor dem Laden stehen und sieht durch das Schaufenster hinein. Sie scheint der Peperomia nachzutrauern. Als Yu-hee den Blick der Frau bemerkt, greift sie nach dem Topf und stellt ihn außer Sichtweite. Die Frau zuckt nur leicht mit den Schultern, dreht sich um und geht davon. Das Klackern ihrer weißen Pumps verhallt bald auf dem Pflaster.
Yu-hees Geschäft befindet sich in einem umgebauten alten Wohnhaus im Stadtteil Dosan. Als sie zum ersten Mal hierher kam, um sich nach Ladenflächen umzusehen, war sie überrascht, dass es in der Stadt Sejin ein solches Viertel gab. Es war eine ruhige, beinahe verschlafene Gegend ohne Cafés oder Restaurants, ohne jeglichen Trubel. In Dosan gab es neben den Wohnquartieren viele unbebaute Grundstücke. Kleinere Fabriken und Druckereien hatten ihren Betrieb aufgegeben und standen leer. Irgendwo mittendrin entdeckte Yu-hee die heruntergekommene Adresse.
Es war ein kleines Einfamilienhaus. Der Makler erklärte ihr, dass es hier kaum größere Gebäude gebe, nur wenige Passanten unterwegs seien und sich deshalb nie ein richtiges Geschäftsviertel habe entwickeln können. Die Gegend galt als wenig attraktiv, so stand das Haus bereits seit über einem Jahr leer und war ein Sorgenkind, weshalb die Miete niedrig war und keine Verwaltungskosten anfielen. Der Eigentümer lebte nicht in Sejin.
Yu-hee musste einen Kredit aufnehmen und mehr als die Hälfte ihrer Abfindung von der Firma, bei der sie über sechs Jahre gearbeitet hatte, für die Inneneinrichtung ausgeben. Aber diese Belastung glich sich durch die geringe Miete wieder ein wenig aus. Nach zwei Monaten Umbau meldete sie ihr Gewerbe an. Am Tag der Eröffnung fühlte sie sich sehr erleichtert und überglücklich, an einem neuen Ort mit einer neuen Arbeit beginnen zu können. Pünktlich zur Eröffnung war sie, auch wegen der günstigen Mietkaution, nach Dosan gezogen.
Trotz aller Motivation und sorgfältiger Planung, die der Schritt in die Selbstständigkeit erfordert hatte, lief es natürlich nicht von Anfang an gut. Etwa zwei Monate nach der Eröffnung hatte Yu-hee noch immer keine nennenswerten Einnahmen. Die meiste Zeit verbrachte sie schweigend im Laden, sprach nur, wenn sie auf dem morgendlichen Blumenmarkt um Preise für Blumen und Töpfe feilschte.
In dieser Zeit kamen ihre ehemaligen Kollegen und Kommilitoninnen vorbei, um ihr ihre Meinung mitzuteilen. Einige meinten, die Inneneinrichtung sei zu modern für die Leute aus der Nachbarschaft. Andere fanden, die Preise seien angesichts des fehlenden Einkaufsviertels in der Umgebung etwas hoch. Manche Bekannte schlugen sogar vor, den Namen des Ladens zu ändern. Pflanzen-Shop klang zu schlicht, damit wären zwei einfache Wörter lediglich durch einen Bindestrich verbunden. Ein auffälliger, eleganter Name sei besser, sagten sie. Doch genau das wollte Yu-hee nicht. Sie glaubte daran, dass sich die Menschen gerade wegen dieser schlichten Worte an ihr Geschäft erinnern würden. Diese klare, einfache Assoziation würde sie eines Tages in ihren Laden führen.
Sie machte sich viele Gedanken über den Geschmack der Allgemeinheit und stellte etliche kleine Gegenstände und Möbel um. Vereinzelt senkte sie die Preise und organisierte eine Eröffnungsveranstaltung als Marketingmaßnahme. Um zu lernen, wie man Kundschaft anlockt, recherchierte sie auf Websites und Social-Media-Accounts erfolgreicher Blumenläden und Gärtnereien im ganzen Land. Sie stellte allerdings schnell fest, dass sich die dort gesammelten Informationen bestenfalls als grobe Orientierung eigneten. Auf ihr eigenes Geschäft ließen sie sich nur schwer übertragen.
Doch schon kurz nach der Eröffnung setzte im Stadtteil Dosan ein Wandel ein, der sich als Glücksfall für Yu-hee erwies. Nicht einmal die Alteingesessenen hatten damit gerechnet, geschweige denn die Immobilienmakler. Das lebhafte Geschäftsviertel, das sich rund um die zahlreichen Wolkenkratzer auf der anderen Seite des Dosan-Marktes erstreckte, war inzwischen völlig ausgelastet und begann sich auszudehnen. Die Menschen erkundeten zunehmend die Umgebung rund um die U-Bahn-Station, und einige Händlerinnen und Händler entschieden sich bewusst dafür, ihre Geschäfte in abgelegeneren Gegenden, fernab des Trubels, zu eröffnen. So fanden immer mehr Besucher den Weg in Yu-hees Laden am Rand des Viertels. Der Pflanzen-Shop war der einzige Pflanzenladen in Dosan und erstreckte sich über ein ganzes Haus. Diese Einzigartigkeit erregte Aufmerksamkeit. Bloggende, die ständig auf der Suche nach neuen, besonderen Orten waren, strömten herbei, und auch Influencer und Influencerinnen verschiedener Social-Media-Kanäle interessierten sich für das Geschäft. Langsam, aber stetig begann sich der Pflanzen-Shop als Geheimtipp und Hotspot zu etablieren.
Yu-hee ist der Ansicht, dass nichts von Geburt an schlecht ist. Pflanzen gehen ein, wenn der Boden nicht gut ist und die Temperatur nicht stimmt. Ihre Aufgabe sieht sie darin, die Umgebung für die Pflanzen so zu verändern, dass sie gedeihen können. Wenn die Wurzeln wegen zu hoher Feuchtigkeit faulen oder die Blätter wegen Lichtmangels über einen längeren Zeitraum verkümmern, kann sie diese Probleme relativ schnell und leicht lösen. Sie weiß genau, was in solchen Fällen zu tun ist.
Sie glaubt, dass Menschen Pflanzen ähnlich sind und dass auch sie geheilt werden können, wenn man sie ebenso sorgsam behandelt. Mit der richtigen Pflege, glaubt sie, entwickeln sie sich in die Richtung, die für sie bestimmt ist. Yu-hee hat in ihrem Leben schmerzhafte Erfahrungen gemacht, doch sie hält daran fest, dass die menschliche Natur nicht grundsätzlich böse ist. Sie möchte an diesem Glauben festhalten. Aber irgendwann begann dieser Glaube allmählich zu bröckeln....
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