1. KAPITEL:
DAS MITHRÄUM
IM OSTEN VON MARGIANA, WINTER 53/52 V. CHR.
Etwa eine Meile vom Lager entfernt machten die Parther schließlich halt. Als das Knirschen der Sandalen und Stiefel auf dem gefrorenen Boden verklungen war, senkte sich tiefes Schweigen herab. Das gelegentliche leise Husten und das Klirren der Kettenpanzer verloren sich in der frostigen Luft. Die Abenddämmerung kündigte sich an, und noch hatte Romulus Gelegenheit, das Marschziel näher in Augenschein zu nehmen: einen eher unscheinbaren Steilhang aus verwittertem, grau-braunem Gestein, der das Ende einer niedrigen Hügelkette bildete. Der junge, kräftige Soldat spähte in die beginnende Dämmerung und versuchte zu ergründen, was die Krieger veranlasst haben mochte, diesen Ort aufzusuchen. Nirgends waren Behausungen oder sonstiges von Menschenhand Geschaffenes zu erkennen, und der gewundene Pfad, dem sie bislang gefolgt waren, schien unmittelbar am Fuße des Steilhangs zu enden. Romulus zog erstaunt eine Braue hoch und wandte sich Brennus zu, seinem väterlichen Freund. »Was, in Jupiters Namen, machen wir hier eigentlich?«
»Tarquinius weiß etwas«, erwiderte der Gallier grummelnd und zog sich den dicken Militärumhang enger um die breiten Schultern. »Wie immer.«
»Aber er sagt nicht, was!« Romulus blies auf seine Fäuste, da seine Finger sich schon fast taub anfühlten; seine edel geschwungene Nase spürte er bereits nicht mehr.
»Nun, irgendwann wird er damit herausrücken«, antwortete Brennus mit leisem Lachen.
Romulus hielt sich mit weiterem Protest zurück; mit ungebremstem Eifer würde er nichts bewirken. Geduld, dachte er bei sich. Beide Männer trugen Wämser aus grobem Stoff, darüber römische Kettenhemden. Die eng geknüpften Eisenringe boten zwar Schutz gegen Klingen, warm wurde es einem darunter aber nicht. Wollene Umhänge, Halstücher und Futterale aus Filz unterhalb der bronzenen Helme halfen ein wenig gegen die Kälte, aber die wadenlangen rostroten Hosen und schweren, mit Eisennägeln beschlagenen Sandalen - die Caligae - ließen zu viel Haut frei, die bei dieser Kälte sehr schnell wie abgestorben wirkte.
»Geh und frag ihn«, drängte Brennus den jungen Freund und grinste. »Bevor uns die Eier abfrieren.«
Romulus musste lächeln.
Beide hatten von dem etruskischen Haruspex eine Erklärung verlangt, als er kurz zuvor in ihrer schlecht gelüfteten Unterkunft aufgetaucht war. Selten gab Tarquinius etwas preis, aber er hatte erwähnt, ihr Kommandant Pacorus sei mit einer speziellen Bitte an ihn herangetreten. Mit etwas Glück, so der Etrusker, fänden sie eine Möglichkeit, Margiana verlassen zu können. Romulus und Brennus wollten ihren Freund nicht allein gehen lassen und horchten auf, da es offenbar endlich Neuigkeiten gab.
Die zurückliegenden Monate hatten für eine willkommene Unterbrechung der ständigen Kämpfe der letzten beiden Jahre gesorgt. Allmählich jedoch war das Leben in dem römisch geprägten Lager zu einer lähmenden Routine geworden. Körperliche Ertüchtigungen folgten auf den Wachdienst; die Reparatur der Ausrüstung und Waffen ersetzte den Drill auf dem Exerzierplatz. Gelegentlich schlossen sich die Freunde Patrouillen an, aber auch das bot wenig Aufregendes. Selbst die Steppenkrieger, die immer wieder plündernd in Margiana einfielen, führten während des Winters keine Beutezüge durch. Daher erschien Romulus und Brennus das Angebot ihres Freundes wie ein Geschenk des Himmels.
Romulus hingegen verfolgte an diesem Abend eigene Absichten. Es ging ihm nicht allein um den Kitzel des Abenteuers; er war vielmehr darauf aus, irgendetwas über Rom in Erfahrung zu bringen, und sei es auch nur die kleinste Andeutung. Die Stadt, in der er geboren war, lag auf der anderen Seite des Erdkreises, und zwischen Margiana und Italia lagen weit mehr als tausend Meilen unwirtliche Gegend und feindselige Völker. Wiederholt fragte er sich, ob er eines Tages nach Rom zurückkehren würde. Wie fast alle Kameraden träumte auch Romulus Tag und Nacht von der Heimat. Hier, am Ende der Welt, gab es nichts, was einem Halt geben konnte, und daher kam ihm die unerwartete Expedition wie ein Hoffnungsschimmer vor.
»Ich warte lieber hier«, antwortete Romulus schließlich. »Immerhin haben wir uns ja freiwillig gemeldet.« Ernüchtert stampfte er abwechselnd mit den Füßen auf. Der ovale Schild - das Scutum -, den er sich mit einem Lederriemen über die Schulter gebunden hatte, hüpfte auf und ab. »Du weißt ja, in was für einer Stimmung Pacorus ist. Wahrscheinlich schneidet er mir die Eier ab, wenn ich ihn frage. Da lasse ich sie mir lieber abfrieren.«
Brennus ließ ein raues Lachen folgen.
Pacorus, ihr stämmiger, dunkelhäutiger Kommandant, wartete an der Spitze der Truppe. Er trug ein reich verziertes Wams, eine anständige Hose und kurze Stiefel. Seinen Kopf zierte ein konisch zulaufender parthischer Hut, und um die Schultern hatte er sich einen langen, warmen Mantel aus Bärenfell geworfen. Da Pacorus den Mantel offen trug, war sein goldener Gürtel zu sehen, in dem zwei Krummdolche steckten und ein Schwert mit juwelenbesetztem Griff herabhing. Pacorus war ein tapferer, aber unbarmherziger Krieger und führte die Vergessene Legion - jenen Überrest der einst stolzen und riesigen Armee, die im Jahr zuvor vom parthischen Feldherrn Surena besiegt worden war. Seither gehörten Tarquinius, Brennus und Romulus zu den Soldaten unter parthischem Kommando.
Und Romulus war immer noch kein freier Mann, sondern ein Gefangener der Parther.
Was für eine Ironie des Schicksals, dachte er, dass er in seinem bisherigen Leben immer wieder einem anderen Herrn hatte dienen müssen. Seit seiner Geburt hatte er Gemellus gehört, jenem brutalen Kaufmann, der einst über Romulus' Familie bestimmte - die aus seiner Mutter Velvinna und seiner Zwillingsschwester Fabiola bestand. Als Gemellus' Geschäfte schlechter liefen, wurde Romulus im Alter von dreizehn Jahren an Memor verkauft, an den Lanista des Ludus Magnus, der größten Gladiatorenschule in Rom. Memor legte zwar nicht die tägliche Grausamkeit eines Gemellus an den Tag, aber als Lanista ging es ihm in erster Linie darum, Sklaven und verurteilte Verbrecher zum Kämpfen auszubilden: zu Gladiatoren, die eines Tages in der Arena den Tod fanden. Ein Menschenleben bedeutete Memor nichts. Bei diesen unliebsamen Erinnerungen spie Romulus aus. Um im Ludus zu überleben, hatte er einen anderen Menschen töten müssen. Mehr als einmal. Töten oder getötet werden. So lautete seither Brennus' Maxime, die erneut in Romulus' Gedanken nachhallte.
Rasch überprüfte Romulus, ob sein zweischneidiges Schwert, sein Gladius, locker in der Scheide saß und der Dolch an der anderen Seite des Gürtels griffbereit war. Diese Handgriffe waren ihm längst in Fleisch und Blut übergegangen. Er grinste, als er sah, dass Brennus es ihm gleichtat. Wie alle römischen Fußsoldaten führten sie zwei Wurfspieße mit sich, die Pila genannt wurden. Die Krieger, die Pacorus für die Expedition ausgewählt hatte - seine Elitekämpfer -, unterschieden sich auf den ersten Blick von den römisch geprägten Soldaten. Sie waren schlichter gekleidet als ihr Anführer und trugen wollene Umhänge ohne Pelzbesatz. Ihre Bewaffnung bestand aus langen Messern und einem schmalen Köcher, der ihnen rechts über die Hüfte hing. Der Köcher fasste den Hornbogen der Parther und einige Pfeile. Parthische Krieger kämpften mit verschiedenen Waffen, aber bekannt und gefürchtet waren sie in erster Linie für ihren Umgang mit Pfeil und Bogen. Romulus durfte sich glücklich schätzen, nie einem parthischen Bogenschützen in der Arena begegnet zu sein. In der Zeitspanne, in der ein Mann hundert Schritte zurücklegte, feuerte ein geübter Schütze bis zu sechs Pfeile ab. Und nahezu jeder Schuss war ein Treffer.
Aber in der Rückschau hatte Romulus in der Gladiatorenschule Glück im Unglück gehabt, denn dort war er zum ersten Mal Brennus begegnet. Ohne die Hilfe des Galliers wäre er damals vermutlich an der harten Ausbildung zugrunde gegangen. Dafür war Romulus seinem Freund zutiefst dankbar. Nur einmal in zwei langen Jahren hatte Romulus eine lebensgefährliche Verletzung davongetragen - nach einem tödlichen Zweikampf mit einem Rivalen. Als dann später nach einem nächtlichen Ausflug in die Stadt ein Streit auf offener Straße eskaliert war, hatten die beiden Freunde Rom Hals über Kopf verlassen müssen. Nachdem sie sich als Söldner in die Listen eingetragen hatten, war Crassus ihr neuer Herr geworden - ein steinreicher Politiker und Feldherr und damals Mitglied des Triumvirats in Rom. Crassus, von Ehrgeiz und Machthunger zerfressen, strebte nach Anerkennung und versprach sich von dem Feldzug gegen die Parther einen glänzenden militärischen Erfolg, der ihm ewigen Ruhm hätte einbringen sollen. Seine Rivalen, Julius Cäsar und Gnaeus Pompeius Magnus, hatten es ihm im Laufe der Jahre vorgemacht. Was für ein arroganter Narr Crassus doch gewesen war, dachte Romulus. Wäre er so wie Cäsar gewesen, wären alle Soldaten wieder nach Hause zurückgekehrt. Doch anstatt Ruhm zu ernten, führte Crassus 35000 Soldaten leichtsinnig in die Schlacht gegen die Parther, die bei Carrhae in einer blutigen, schändlichen Niederlage endete. Die Überlebenden - etwa ein Drittel der ursprünglichen Truppenstärke - gerieten in parthische Gefangenschaft. Die Parther verhängten drakonische Strafen, sobald sich ein römischer Soldat den Befehlen widersetzte. Nach Crassus' öffentlicher Hinrichtung hatten die Parther die Überlebenden vor die Wahl gestellt: Tod durch...