1. KAPITEL:
TARQUINIUS
DER NORDEN ITALIAS, 70 V. CHR.
Der Rabe hüpfte auf den Schädel des toten Lamms und starrte Tarquinius an. Noch war der junge Mann mehr als fünfzig Schritte von dem schwarzen Vogel entfernt, der höhnisch krächzte und mit seinem kräftigen Schnabel an den reglosen Augäpfeln des Lamms pickte. Das Lamm war gerade einmal drei Tage alt gewesen, und das bisschen Fleisch, das es auf den Rippen gehabt hatte, hatten längst die Wölfe aus den Bergen gefressen.
Tarquinius bückte sich, hob einen Stein auf und legte ihn in seine Schleuder. Er war von schlanker Erscheinung, hatte blondes Haar und trug eine locker fallende, knielange Tunika, die auf Taillenhöhe von einem Gürtel gehalten wurde; seine Füße steckten in robusten Sandalen.
»Lass den Vogel, er hat das Lamm nicht getötet.« Olenus Aesar rückte den abgenutzten Lederhut auf seinem Kopf zurecht. »Corvus nimmt sich nur das, was übrig blieb.«
»Aber ich mag es nicht, wenn er die Augen herauspickt.« Langsam schwang Tarquinius den ledernen Streifen seiner Schleuder, wohl mit der Absicht, das Geschoss abzufeuern.
Der alte Mann verfiel in Schweigen und schirmte seine Augen gegen die grelle Sonne ab. Eine ganze Weile hatte er schon die Bussarde beobachtet, die hoch oben in den warmen Aufwinden mit breiten Schwingen ihre Kreise zogen.
Tarquinius wartete gespannt ab und hielt dabei das Geschoss bereit. Seitdem der Haruspex, der Wahrsager, ihn vor Jahren zu seinem Schüler erkoren hatte, hatte der junge Etrusker gelernt, auf jedes Wort und jede Geste seines Lehrers und Meisters zu achten.
Olenus zuckte die knochigen Schultern unter dem Umhang aus grob gesponnenem Stoff. »Kein guter Tag, einen heiligen Vogel zu töten«, teilte er seinem Schüler mit.
»Warum nicht?« Mit einem Seufzer ließ er die Schleuder sinken. »Was ist nun wieder?«
»Mach nur, Junge.« Olenus lächelte nachsichtig, was Tarquinius jedes Mal zur Weißglut brachte. »Tu, was du nicht lassen kannst.« Mit ausladender Geste deutete er auf den Vogel. »Du bestimmst deinen Weg selbst.«
»Ich bin kein Junge mehr.« Tarquinius' Miene verfinsterte sich. Verstimmt ließ er den Stein zu Boden fallen. »Ich bin fünfundzwanzig!«
Kurz bedachte er seinen Lehrer mit einem düsteren Blick, stieß dann einen durchdringenden Pfiff aus und hob den rechten Arm. Ein schwarz-weißer Hund, der in der Nähe gewartet hatte, sprang auf und lief los, wobei er auf der steilen Anhöhe einen weiten Bogen beschrieb und die Schafe und Ziegen im Blick behielt, die das kurze Gras fraßen. Die Tiere spürten die Absicht des Hütehundes und trabten die Anhöhe weiter hinauf.
Unterdessen hatte der Rabe sein Mahl beendet und flog mit kräftigem Flügelschlag davon.
Fast wehmütig schaute Tarquinius dem Vogel nach. »Wieso durfte ich dieses verdammte Vieh nicht töten?«
»Wir stehen hier auf dem Boden, auf dem sich einst der Tempel des Tinia erhob. Er war der mächtigste unserer Götter .« Olenus unterbrach sich, um die Spannung zu erhöhen.
Tarquinius schaute zu Boden und entdeckte einen roten Tonziegel, der aus dem Boden ragte.
»Und die Zahl der Bussarde dort oben beläuft sich auf zwölf.«
Tarquinius richtete den Blick zum Himmel, blinzelte gegen die Sonne und begann zu zählen. »Warum sprecht Ihr immer in Rätseln?«
Olenus klopfte leicht mit seinem Lituus, einem kleinen gebogenen Stab, auf den zerbrochenen Ziegel. »Das ist nicht das erste Mal heute, oder?«
»Ich weiß, dass die Zahl Zwölf für unser Volk heilig ist, aber .«, Tarquinius schaute dem Hund nach, der inzwischen die Herde zusammengetrieben hatte, ganz nach dem Wunsch des jungen Etruskers, ». was hat das mit dem Raben zu tun?«
»Das Lamm war das zwölfte an diesem Morgen.«
Tarquinius überlegte kurz und zählte im Stillen. »Aber von dem Lamm, das in der Senke lag, habe ich Euch noch gar nicht erzählt«, stellte er voller Erstaunen fest.
»Und Corvus gedachte genau an der Stelle zu speisen, an der früher Opferzeremonien abgehalten wurden«, fügte der Wahrsager in rätselhaftem Ton hinzu. »Sollten wir ihn dann nicht besser in Frieden lassen?«
Tarquinius runzelte die Stirn und ärgerte sich, dass ihm die Bussarde nicht selbst aufgefallen waren. Auch den Bezug zu dem geheiligten Boden hatte er übersehen. Mit seinen Gedanken war er bereits zu sehr mit der Jagd auf die Wölfe beschäftigt.
Es war tatsächlich an der Zeit, einige dieser Räuber zu stellen. Rufus Caelius, sein übellauniger Herr, tolerierte diese Ausflüge in die Berge nur, weil er Tarquinius dann später über Olenus und den Zustand der Herden ausfragen konnte. Dem Patrizier würde es gewiss missfallen, dass schon wieder Tiere fehlten. Tarquinius hatte bereits ein ungutes Gefühl, wenn er nur daran dachte, zu den großen Besitztümern seines Herrn am Fuße des Berges zurückzukehren - dem Latifundium.
»Woher wusstet Ihr von dem Lamm in der Senke?«
»Habe ich dir nicht in all den Jahren beigebracht, stets die Augen offen zu halten?« Olenus drehte sich um und schien Dinge zu sehen, die schon lange nicht mehr existierten. »Dies hier bildete einst das Zentrum der mächtigen Stadt Falerii. Tarquin, der Gründer von Etrurien, markierte die heiligen Grenzen der Stadt mit einem bronzenen Pflug im Umkreis von einer Meile. Vor vierhundert Jahren drängten sich an der Stelle, an der wir jetzt stehen, deine Volksgenossen, die alten Etrusker, und kamen ihren Geschäften nach.«
Tarquinius versuchte sich das Treiben vorzustellen, das der Seher ihm schon so oft beschrieben hatte - die herrlichen Gebäude und Tempel, die den Vestalinnen geweiht waren, dazu die breiten, mit Lavagestein gepflasterten Straßen. Der junge Mann malte sich aus, wie die Menge bei Faustkämpfen, Wagenrennen oder Gladiatorenkämpfen jubelte. Die Edlen verliehen den siegreichen Wettkämpfern Kränze und veranstalteten üppige Bankette in großen Marmorhallen.
Die Bilder alter Pracht verblassten, und Tarquinius kehrte in die Wirklichkeit zurück. Alles, was von Falerii - der Perle des alten Etrurien - übrig geblieben war, waren einige umgestürzte Säulen und zahllose Stücke zerbrochener Tonziegel. Erneut vergegenwärtigte er sich das Ausmaß des Verfalls. Die Geschichte seines Volkes war schmerzvoll, das hatte Tarquinius in all den Jahren in Gegenwart des Haruspex begriffen. »Sie haben unsere ganze Art zu leben übernommen, nicht wahr?«, stieß der junge Mann wütend hervor. »Die römische Zivilisation hat die etruskische nachgeahmt.«
»Bis hin zu den Fanfarenklängen, mit denen Zeremonien und Truppenbewegungen in der Schlacht eingeleitet werden«, fügte Olenus trocken hinzu. »Ja, sie haben uns alles gestohlen. Nachdem sie uns vernichtet hatten.«
»Diese Hurensöhne! Was gibt ihnen das Recht dazu?«
»Es war im Himmel vorherbestimmt, Tarquinius. Das weißt du doch.« Olenus sah den jungen Mann forschend an, ehe er den Blick über die Landschaft schweifen ließ, die sich in südöstlicher Richtung erstreckte. Am Fuße des Berges glitzerte ein See und reflektierte das Licht der Sonne. »Hier stehen wir genau im Herzen des alten Etrurien.« Ein Lächeln schlich sich in Olenus' Züge. »Der See Vadimon dort in der Ferne, und die Grundpfeiler der heiligen Stadt unter unseren Füßen.«
»Wir sind fast die letzten echten Etrusker auf Erden«, sagte Tarquinius verbittert. Nachdem das Volk seiner Vorväter sich an die römische Lebensweise hatte anpassen müssen, hatten nur wenige Familien die Tradition aufrechterhalten, nur innerhalb der eigenen Kultur zu heiraten. Seine Familie hatte sich indes daran orientiert. Und über Generationen hinweg waren die alten Geheimnisse und Rituale von einem Haruspex zum nächsten weitergegeben worden. Olenus entstammte einer altehrwürdigen Familie von Wahrsagern, die ihre Wurzeln in der Blütezeit der etruskischen Kultur hatte.
»Es war unser Schicksal, erobert zu werden«, antwortete Olenus. »Vergiss nicht: Als der Grundstein des Tempels vor vielen Jahrhunderten gelegt wurde .«
». fand man ein blutendes Haupt im Boden«, vervollständigte der junge Mann den Satz.
»Mein Vorfahr, Calenus Olenus Aesar, behauptete, dieses Zeichen sage voraus, dass das Volk über ganz Italia herrschen würde.«
»Aber er irrte sich! Sieh uns doch nur an!«, rief Tarquinius aus. »Wir sind kaum besser gestellt als Sklaven.« Tatsächlich verfügte so gut wie kein Etrusker über politischen Einfluss. Die meisten waren inzwischen verarmte Bauern oder - wie Tarquinius und dessen Familie - Arbeiter auf den großen Latifundien.
»Calenus war der beste Wahrsager in unserer Geschichte. Wie kein Zweiter war er der Leberschau mächtig!« Olenus gestikulierte mit seinen knochigen Händen. »Schon damals wusste dieser Mann, was die Etrusker in jenen Tagen nicht begreifen konnten oder wollten. Unsere Städte schlossen sich nie zusammen, und als Rom später mächtig genug geworden war, fiel eine Stadt nach der anderen. Obwohl dieser Prozess über hundertfünfzig Jahre dauerte, sollte sich Calenus' Vorhersage als richtig erweisen.«
»Mit jenem Volk meinte er also diejenigen, die uns bezwangen.«
Olenus nickte.
»Alles Bastarde, diese Römer.« Tarquinius warf einen Stein nach dem Raben, der längst fortgeflogen war.
Er konnte nicht ahnen, dass der Wahrsager insgeheim die Schnelligkeit und Kraft des jungen Mannes bewunderte. Der Stein flog so schnell, er hätte glatt einen Menschen töten können.
»Wahrlich schwer hinzunehmen, mein Junge, selbst für mich«, sagte Olenus und seufzte.
»Wenn ich nur daran denke, wie sie...