PROLOG
HERBST 12 N. CHR. · ROM
Centurio Lucius Cominius Tullus unterdrückte einen Fluch. Seit dem Gemetzel in den Wäldern vor nunmehr drei Jahren war sein Leben vollkommen anders verlaufen - erbarmungslos und härter als sonst. Ein geringer Anlass genügte, und schon war er in Gedanken wieder in dem versengenden Chaos jener blutigen Tage, als Tausende germanische Stammeskrieger aus dem Hinterhalt angegriffen und drei Legionen ausgelöscht hatten, darunter auch Tullus' Legion. Diesmal riss ein heftiger Regenschauer in Rom die alten Wunden wieder auf. Der eben noch festgestampfte Boden der nicht gepflasterten Straße verwandelte sich in einen schlammigen Brei, der an Tullus' Waden spritzte und ihm in die Sandalen lief.
Tullus schloss die Augen und vernahm erneut den dröhnenden, volltönenden Barritus der germanischen Krieger, jenen Schlachtruf, der den römischen Legionären bis ins Mark gegangen war. HUUUUMMMMMMMM! HUUUUMMMMMMMM! Bei dem Klang dieser tief anschwellenden Töne, die die Krieger im Schutz der Bäume angestimmt hatten, hatte die Legionäre jeglicher Mut verlassen. Die Stimmung kippte - wie Milch, die in der Mittagssonne sauer wird.
Wäre es nur dieser Barritus gewesen, den Tullus aufs Neue in Gedanken durchleben musste, so hätte er es ertragen, aber im Ohr hatte er immer noch die Schmerzensschreie der Männer, die in ihrer Todesangst nach ihren Müttern riefen, ehe sie den letzten Atemzug taten. Speere gingen wie Hagel auf die Soldaten nieder, durchschlugen Schilde, bohrten sich ins Fleisch und hinterließen verstümmelte und sterbende Legionäre. Das charakteristische Knacken der Schleudern drang aus den Tiefen der Wälder, die Steine prallten gegen Helme, zertrümmerten Schädel. Die Maultiere brüllten vor Angst. Mit heiserer Stimme hatte Tullus inmitten des Tumults versucht, Ordnung in die Reihen zu bringen.
Tullus blinzelte und sah nicht das geschäftige Treiben auf der Straße, sondern nur den matschigen, aufgeweichten Pfad. Schier endlos schlängelte sich der Weg über Meilen durch Wälder, vorbei an sumpfigem Gelände, in dem man bis zu den Knien versank. Der Weg war übersät von Ausrüstungsgegenständen und Leichen. Überall tote Legionäre. Seine Männer.
Vor dem überraschenden Angriff hätte Tullus jedem Mann vehement widersprochen, der die Ansicht vertrat, eine römische Kohorte - mehr als vierhundert kampferprobte Männer - könne von einem Gegner ausgelöscht werden, der größtenteils mit Speeren angriff. Außerdem hätte er jeden für verrückt erklärt, der behauptete, drei Legionen könnten im Verlauf eines Hinterhalts der Germanen vom Erdboden hinweggefegt werden.
Inzwischen war er klüger und weitaus demütiger.
Die brutalen Erlebnisse - und das Nachspiel - hatten aus Tullus einen verbitterten Mann gemacht. Seine Legion hatte ihren Legionsadler verloren, und deshalb hatte man die Legio XXI aufgelöst. Der 17. und 19. Legion war es nicht anders ergangen. Tullus und alle anderen Überlebenden waren auf die übrigen am Rhenus stationierten Legionen verteilt worden. Die endgültige Demütigung für Tullus war seine Degradierung gewesen: Zuvor hatte er in der 1. Centurie der 2. Kohorte den Rang eines Pilus Prior bekleidet. Nach der schmachvollen Niederlage in den germanischen Wäldern hatte man ihn zu einem rangniederen Centurio herabgestuft. Da er durchaus schon mit dem Ruhestand geliebäugelt hatte, war die Degradierung wie ein Schlag in die Magengrube gewesen. Von da an konnte er seine Karriere vergessen.
Zu allem Unglück war ihm auch noch Lucius Seius Tubero in den Rücken gefallen, jener junge, aufstrebende Tribun, der ihm von Anfang an feindlich gesinnt gewesen war. Einem Emporkömmling wie Tubero hatte Tullus es zu verdanken, dass seine zuvor makellosen Dienstjahre in ein schmachvolles Licht gerückt wurden. Wäre Tubero nicht gewesen, wie Tullus sich in diesem Augenblick vergegenwärtigte, so hätte er womöglich immer noch seine alte Kohorte befehligen können.
»TULLUS!«
Er zuckte zusammen und fragte sich, wer ihn hier in dem Gedränge auf den Straßen erkannt haben mochte, Hunderte von Meilen von den Lagern am Rhenus entfernt.
»TULLUS!«
Obwohl die Straße belebt und die Luft von den alltäglichen Geräuschen erfüllt war - von den miteinander wetteifernden Stimmen der Händler, von dem Knurren zweier Hunde, die sich um einen Bissen balgten, von den Gesprächen der vorübergehenden Menschen - war die schrille Stimme der Frau weithin zu hören.
»TULLUS!«
Er hatte alle Mühe, darauf nicht zu reagieren. Keine Seele in ganz Rom kennt mich, redete er sich zum wiederholten Mal ein. Das stimmte nicht ganz, denn einige wenige wussten, dass er sich hier aufhielt, aber es war unwahrscheinlich, dass ihm ausgerechnet diese Leute über den Weg liefen. Ich bin nichts weiter als ein einfacher Bürger Roms in einem Meer aus Leuten und gehe meinen Geschäften nach. Weder Offiziere noch Magistrate wissen, wer ich bin, und geben einen Dreck darauf, was ich hier in der Stadt zu suchen habe. Selbst wenn mich jemand anspräche, könnte ich mich mit Lügen aus der Sache herauswinden. Ich bin ein Veteran, der Händler geworden ist, und halte mich gemeinsam mit einem alten Kameraden in Rom auf, um den Triumphzug des Tiberius zu verfolgen, mehr nicht.
Tullus war ein gestandener Mann mittleren Alters, und auch wenn die Geschmeidigkeit der Jugend längst verflogen war, hätte man ihn immer noch als gut aussehend bezeichnet. Er hatte eine kräftige Statur und ein markantes Gesicht, das einige Narben aufwies. Das Haar trug er, wie beim Militär üblich, ganz kurz. Gekleidet war er in eine helle Tunika, die bessere Tage gesehen hatte. Der beschlagene Gürtel wies ihn als Soldat aus - als ehemaligen Soldaten, wie er es sich einredete.
Marcus Crassus Fenestela, sein rothaariger Gefährte, bot einen weitaus hässlicheren Anblick, war dünner, aber durchaus drahtig. Auch Fenestelas Cingulum deutete darauf hin, dass er eine militärische Ausbildung durchlaufen hatte.
»Da bist du ja, Tullus!«, rief die Frau. »Wo, beim Hades, hast du bloß gesteckt?«
Tullus schaute sich beiläufig um und nahm die Gesichter der Leute in unmittelbarer Nähe wahr. Der Tullus, dem das Rufen gegolten hatte - vermutlich hatte seine Frau ihn gesucht -, mochte zwar halb so alt wie Tullus sein, war aber viel kleiner und ziemlich beleibt. Seine bessere Hälfte, eine kräftige, rotwangige Frau mit gehöriger Oberweite, stand neben der Theke einer zur Straße hin offenen Taverne.
Tullus entspannte sich und hörte dicht an seinem Ohr Fenestela flüstern: »Schade, dass sie nicht dich gerufen hat, was? Sieh nur, du hättest was zu essen bekommen, und wer weiß, was für Freuden dir dieses Weib noch bereitet hätte.«
»Ach, verpiss dich, du Hund.« Tullus schob seinen Optio fort, konnte sich aber ein Grinsen nicht verkneifen. Der Rangunterschied der beiden Männer war in all den Dienstjahren, die sie gemeinsam Seite an Seite gekämpft hatten, nahezu bedeutungslos geworden - die Schrecken, die sie überlebt hatten und die sich nur wenige Menschen überhaupt vorstellen konnten, hatten diese beiden so ungleichen Männer noch enger zusammengeschweißt. Fenestela sagte nur dann »Herr« zu Tullus, sobald andere Legionäre in der Nähe waren oder wenn er wieder mal richtig wütend auf seinen alten Gefährten war.
Die beiden Männer setzten ihren Weg ins Zentrum der Stadt fort. Es war zwar noch früh, aber in den schmalen Straßen herrschte bereits großer Andrang. Rom kannte keine Ruhe. Ob Tag oder Nacht, es war immer etwas los auf den Foren und in den Gassen, wie Tullus inzwischen wusste, doch die Aussicht auf einen Triumphzug zu Ehren des erklärten Nachfolgers des Princeps lockte die Menschen aus ihren Häusern - ob man gehen konnte oder humpeln musste. Junge wie Alte, Reiche wie Arme, Gesunde wie Gebrechliche, Lahme und Kranke, sie alle waren erpicht darauf, Zeuge der mit großem Pomp zelebrierten Militärparade zu werden. Zumal die Machthaber und Veranstalter an einem Festtag wie diesem Speisen und reichlich Wein auf eigene Kosten unters Volk brachten.
Tullus und Fenestela kamen an der Gasse der Bäcker vorbei, in der es nach frisch gebackenem Brot duftete. Dann folgte das Viertel der Handwerker, vor allem der Zimmerleute, die schon zu dieser Stunde sägten und hämmerten.
Tullus blieb einen Augenblick an der Abzweigung zur Schmiedegasse stehen und nahm mit wachen und neidischen Blicken die edlen Schwerter wahr, die dort vor den Essen ausgestellt waren. Den Schreibern, die ganz in der Nähe auf einem kleinen Forum ihre Dienste anboten, mit Stilus und Wachstafeln in der Hand, schenkten die beiden keine Aufmerksamkeit. Denn unweigerlich waren ihre Blicke zu jenen wohlgestalteten Frauen in den besseren Etablissements der Dirnengasse gewandert, aber Tullus und Fenestela gingen weiter.
»Es war Irrsinn, hierherzukommen«, raunte ihm Fenestela zu und schüttelte verwundert und staunend den Kopf, als der imposante Eingang zu den prächtigen öffentlichen Bädern in Sichtweite kam. Vor dem Gebäude ragte die riesige, bemalte Statue des Augustus auf. »Aber wenn ich das hier sehe, bin ich doch froh, dass wir uns auf den Weg gemacht haben. Das ist ja unglaublich!«
»Zum Hades mit dem offiziellen Bann, sage ich«, meinte Tullus und zwinkerte seinem Freund zu. »Wenigstens einmal im Leben muss ein Mann die Stadt aus Marmor gesehen haben - und einen großen Triumphzug. Nach allem, was wir beide durchmachen mussten, haben wir ein Recht darauf, die Stadt mit all ihren Vorzügen zu sehen.«
Er sprach in leicht gedämpftem Ton. Seit Tagen waren sie auf der Hut, genauer gesagt, seitdem sie ihre eigentliche Aufgabe...