Schweitzer Fachinformationen
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Ich bin ein Kellerkind. Die ersten Jahre meines Lebens wohnten meine Mutter, meine große Schwester und ich in einem dunklen Keller. Unser Kellerabschnitt bestand aus zwei Räumen - einem Wohnzimmer mit einem Bollerofen, einer weichen uralten Couch mit einem Bastbezug, einem Tisch, einem Hochstühlchen für mich und einem schwarzen gebrauchten Büfett. Im winzigen Schlafzimmer stand ein Bett für meine Mutter, mein Babybettchen und ein alter Kleiderschrank. Nachts schlief meine Schwester auf der Couch, tagsüber tollten wir darauf herum. Für mich war der warme Keller ein Ort der Geborgenheit, durch das kleine Kellerfenster direkt unter der Decke schien sogar die Sonne herein.
In diesem Keller im beschaulichen Heidenheim an der Brenz lebten wir, weil meine mit mir hochschwangere Mutter aus Düsseldorf evakuiert worden war. In Düsseldorf heulten nachts die Sirenen, Bomben explodierten, ganze Stadtviertel lagen in Schutt und Asche. Werdende Mütter wurden in Kleinstädte gebracht, um den Nachwuchs für den Führer in halbwegs sicherer Umgebung gebären zu können.
Mein Vater war zu dieser Zeit nicht bei uns. Er war Soldat, einer der sich freiwillig gemeldet hatte. Er war von Hitlers Ideen überzeugt, so überzeugt, dass er dafür sein Leben gegeben hätte. Vielleicht fühlte sich mein Vater aber auch an der Ostfront mit seinen Kameraden wohler als zu Hause bei seiner Frau. Mein Vater liebte meine Mutter sehr, sie hingegen ließ ihn immer wieder deutlich spüren, dass diese Liebe schon lange nicht mehr auf Gegenseitigkeit beruhte. Wäre er nicht in den Krieg gezogen, hätten sich meine Eltern schon lange vor meiner Zeugung scheiden lassen. So aber waren sie 1943 noch verheiratet und Vater wurde wegen seiner erfrorenen Beine für ein paar Wochen zum Genesungsurlaub nach Hause geschickt. Seine körperliche Versehrtheit hielt ihn nicht davon ab, von seiner Gattin sein eheliches Recht einzufordern. Ein paar Wochen später zog der Obergefreite Kammann mit abgeheilten Beinen und in seiner Manneskraft bestätigt für seinen geliebten Führer wieder in den Krieg. Diesmal an die Westfront. Nach der Kapitulation geriet er in amerikanische Gefangenschaft, vier Jahre später kam er mit neuen Zähnen zurück. Auch Mutter hatte Adolf gewählt, obwohl sie jüdisch erzogen worden war. Als ich sie viele Jahre später fragte, warum sie das getan hat, antwortete sie nur: »Man wählte einfach Hitler. Das taten schließlich alle.«
Für meinen Vater gab es keinen Zweifel, dass er einen Sohn gezeugt hatte. Der Name stand schon fest, er sollte Bernd heißen. Vielleicht war mir schon damals klar, dass das Leben nicht leicht werden würde, denn ich wollte das Licht der Welt partout nicht erblicken. Stattdessen bescherte ich meiner Mutter qualvolle Stunden. Ich drehte mich in eine Steißlage, ein Bein nach oben, eines nach unten. In dieser Stellung blieb ich und bewegte mich keinen Zentimeter. Irgendwann wussten sich die Ärzte nicht mehr anders zu helfen, drehten mich und holten mich mit einer Zange. Ohne Betäubung, wie es damals üblich war. Die Abdrücke der Greifbacken sieht man noch heute auf meiner Stirn.
Nach Stunden, in denen meine Mutter unglaublich gelitten haben muss, sah sie mich zum ersten Mal und war zutiefst enttäuscht. Anstatt eines properen Bernd, auf den sie sich mittlerweile auch schon ein bisschen gefreut hatte und der die Schmerzen wert gewesen wäre, wurde ihr an diesem 22. 3. 1944 ein Mädchen mit dichtem feuerrotem Haarschopf in den Arm gelegt.
Diese ersten Stunden waren symptomatisch für unser gesamtes gemeinsames Leben. Wir hatten es nie leicht miteinander.
Ein halbes Jahr später muss die Enttäuschung halbwegs verflogen gewesen sein. An einem Spätsommertag saß meine Mutter auf einer Bank, mich hatte sie auf dem Schoß, meine Schwester spielte neben uns im Gras. Die sommerliche Idylle nahm ein Ende, als ein Mann hinter der Bank auftauchte und mir ein Messer an die Kehle hielt. »Uhr oder Baby!« Seine Stimme klang bedrohlich, sein polnischer Akzent überzeugte Mutter restlos davon, dass es sich um keinen Scherz handelte. Mutter zitterten die Hände, als sie versuchte, den Verschluss ihrer Armbanduhr zu öffnen. Der Mann nahm die Uhr und verschwand im Wald. Noch heute bin ich ihr dankbar dafür, dass sie sich für mich und nicht für ihre Armbanduhr entschieden hat. Mutter erstattete Anzeige und kurz darauf wurde der Mann auch gefasst. Es handelte sich um einen polnischen Zwangsarbeiter aus der nahegelegenen Turbinenfabrik Voith. Der Mann bekam eine Strafe, Mutter die Uhr dennoch nicht zuru¨ck. Im Nachhinein kann man es ihm nicht einmal verdenken, dass er für sein eigenes gestohlenes Leben etwas zurückhaben wollte.
Der Krieg ging vorbei. Im Haus in der Ernst-Degeler-Straße herrschte eine drangvolle Enge. So wie wir, waren auch andere evakuierte Familien einquartiert worden. Für uns Kinder bedeutete das, dass wir im Haus leise sein mussten. Hinter dem Haus aber gab es einen großen Garten, in dem wir Kinder spielen und lärmen durften. Unser größter Spaß war es, dutzende Maikäfer in eine alte Zigarrenkiste zu sammeln. Die Zigarrenkiste kleideten wir mit Kastanienblättern aus, damit die Käfer nicht verhungern mussten. Ob das den Maikäfern das Leben verlängert hat, sei dahingestellt.
Inzwischen war ich drei Jahre alt, meinen Vater hatte ich bis dahin noch nicht kennengelernt.
Stattdessen hatte Mutter einen Freund, wir nannten ihn Onkel Hans. Hans Blüml war ein Ingenieur aus Bru¨nn in Tschechien. Onkel Hans gehörte schon bald zur Familie. Er ging mit uns Kindern ins Freibad an die Brenz und brachte mir das Schwimmen bei. An Weihnachten lieh er dem Weihnachtsmann seine Stiefel und seine Stimme.
Onkel Hans hatte ein sehr großes Herz und gleich drei große Lieben. Neben seiner Liebe zu meiner Mutter und uns Kindern, hatte er zwei weitere Lieben: die zu einer Horex und die zu einer drallen Blondine.
Seine Liebe zu dem Motorrad teilte er mit uns, die Blondine behielt er für sich. Die Horex war in den 40ern das, was heute für einen echten Easy Rider eine Harley ist. Anstatt einer durchgehenden Sitzbank hatte die Horex zwei Sättel, die wie Fahrradsättel aussahen. Onkel Hans saß auf dem Sattel vorne, Mutter hinten und ich mangels einer Sitzbank mit einem Sofakissen unter dem Hintern dazwischen. Mutter klammerte sich fest an Onkel Hans und klemmte mich dabei ein, damit ich nicht runterfallen konnte. Für kurze Fahrten durch Heidenheim, an die Brenz oder zum Schloss Hellenstein war das sehr aufregend. Irgendwann aber hatten Onkel Hans und Mutter die Idee, einen Ausflug ins Allgäu zu unternehmen, natürlich mit der Horex. Nach einer Stunde wurde ich müde, nach zwei Stunden rutschte ich von einer auf die andere Seite. Ich konnte mich einfach nicht mehr halten. Anfangs schimpfte Mutter nur. »Halt still. Sitz gerade.« Auf das Schimpfen folgten Ohrfeigen. Irgendwann hielt Onkel Hans an und beruhigte die auf dem Sozi sitzende Angebetete. Ich mochte Onkel Hans. Er mochte uns Kinder. Und meine Mutter . Röschen. Noch viel lieber aber mochte Onkel Hans seine üppige Blondine, seine dritte große Liebe. Er verließ sein Röschen und heiratete die Blondine.
Onkel Hans begru¨ndete seine Wahl damit, dass er eine Frau mit zwei Kindern doch nicht heiraten könnte. Für Mutter war der Fall klar: »Ihr Kinder seid schuld. Wegen euch hat er mich sitzen lassen.« Als Kind fühlte ich mich immer schuldig. Ich war sicher, dass ich allein schon durch mein Dasein das Lebensglück meiner Mutter zerstört hatte.
Meine erste eigene schemenhafte Erinnerung hat nichts mit Mutter, dem Keller oder Onkel Hans zu tun, sondern mit dem Marienhospital, in das man mich mit drei Jahren wegen Unterernährung und Asthma brachte.
Ich war klapperdürr und weigerte mich zu essen. Essen war für mich Strafe. Meine Mutter versuchte es mit gut zureden und Ohrfeigen. Tag für Tag saß ich tränenüberströmt am Tisch und versuchte aufzuessen. Es ging einfach nicht. Mit der aufgebrachten Mutter an meiner Seite ging es noch viel weniger. Vor lauter Panik bekam ich Atemnot und erstickte fast.
Schließlich war ich so mager, dass man mich ins Krankenhaus bringen musste.
Ende der 40er-Jahre gab es nur große Krankensäle. Dutzende Betten standen in Reih und Glied. Für mich war alles fremd und bedrohlich, die anderen Kinder, die Schwestern und Ärzte. Voller Angst verkroch ich mich unter der Bettdecke. Während ich mit dem Schlimmsten rechnete, hatten die Schwestern und die anderen Kinder großen Spaß und tollten durch den Saal. Es war Fasching, alle hatten sich kostümiert und tobten durch die Gänge.
Ich war mir sicher, dass Mutter mit ihren Prophezeiungen recht behalten hatte. Sie hatte gesagt, dass mich die Schwestern wie eine Gans stopfen würden. Es kam aber ganz anders. Anstatt mich zu stopfen, waren die Schwestern sehr liebevoll. Sie zogen die Bettdecke vorsichtig zurück, fragten, ob ich nicht auch mitspielen möchte und trugen mich schließlich, als Rotkäppchen verkleidet, auf dem Arm durchs Haus.
Mit drei, vielleicht auch schon vier Jahren lernte ich meinen Vater kennen. Unser erstes Zusammentreffen war keineswegs so, wie man es in rührseligen Nachkriegsfilmen dargestellt hat.
Ich hatte ein Paidi-Kinderbettchen, das quer am Fußende von Mutters Bett stand. Wie jeden Morgen kletterte ich schlaftrunken über die Gitterstäbe, um mich in ihr Bett plumpsen zu lassen und vor dem Aufstehen noch ein bisschen mit ihr zu kuscheln. An diesem Morgen unseres ersten Kennenlernens war ich mit einem Beinchen schon über den Gitterstäben, als ich...
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