Schweitzer Fachinformationen
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Als ich nach Hause komme, liegt Sebastian Crow, mein ehemaliger Chef und derzeitiger Mitbewohner, auf dem Sofa und schläft.
Ich strecke die Hand aus, um ihn zu streicheln, ziehe sie aber zurück, noch ehe meine Finger seine Schläfe berührt haben. Ich möchte ihn nicht aufwecken. Ich möchte, dass er ewig so weiterschläft. Friedlich. Entspannt. An einem Ort, an dem das K-Wort keine Macht über ihn hat. Mit jedem Tag scheint sein Körper ein wenig mehr zu schrumpfen, und sein Geist wird immer größer, wie um den Raumverlust auszugleichen. Er ist krank, und es gibt nichts, was ich dagegen tun könnte, weil es Krebs im Endstadium ist. Meine Hündin Whisper und ich sind bei ihm eingezogen, damit er Gesellschaft hat und um aufzupassen, dass er nicht die Treppe hinunterfällt, aber mehr können wir nicht tun. Es besteht keine Hoffnung für ihn. Auch in ihm tobt ein Brand. Sein Körper hat sich gegen ihn gestellt, aber sein Verstand ist noch nicht bereit loszulassen.
Nicht ehe sein Buch fertig ist.
Als er mich bat, ihm bei der Organisation und den Faktenchecks zu helfen, konnte ich nicht Nein sagen. Nicht zu Sebastian Crow, dem berühmten Journalisten, der nun, am Ende seines Lebens angelangt, seine Memoiren verfasst. Sie sind ein Liebesbrief an seine verstorbene Mutter und eine Entschuldigung an seinen Sohn, zu dem er keinen Kontakt mehr hat. Und sie sind eine Erklärung für den Geliebten, den er verlassen hat. Was ich bisher daraus gelesen habe, ist wunderschön, auch wenn es bedeutet, dass Seb seine letzten Tage in der Vergangenheit verbringt. Aber eine Zukunft gibt es eh nicht für ihn.
Whisper stupst mit der Schnauze meine Hand an. Sie ist unruhig. Nervös. Sie spürt es auch.
Weil ich ihre Stimmung nicht einschätzen kann, nehme ich sie an die Leine, und gemeinsam gehen wir in den Park gegenüber. Dort ist ein Mann, der schon mehrmals versucht hat, sie zu streicheln, aber weil uns die Unversehrtheit seiner Gliedmaßen am Herzen liegt, machen wir einen großen Bogen um ihn. Auf der anderen Seite führt ein Fußweg am Strand entlang. Selbst hier hängt der Qualm unsichtbarer Feuer in der Luft. Nicht einmal die Meeresbrise kann ihn vertreiben. Unbehaglich gehen wir weiter und drehen eine Runde, bis wir schließlich wieder beim Park ankommen. Dort setze ich mich auf eine Bank und ziehe Whisper neben mich.
Der Mann, der mich seit geraumer Zeit heimlich beobachtet, geht an uns vorbei, als wäre nichts.
»Schöner Abend für eine leichte Stalking-Einheit«, sage ich zu ihm. »Finden Sie nicht?«
Der Mann bleibt stehen. Dreht sich zu mir um. Er öffnet den Mund - vielleicht überlegt er, ob er mir eine Lüge auftischen soll. Dann macht er ihn wieder zu. Ich sitze mit dem Rücken zu der trüben Straßenlaterne, die diesen Teil des Parks ausleuchtet. Whisper und ich sind für ihn nur dunkle Silhouetten, er hingegen steht voll im Licht. Er trägt seine Jacke offen, und seitlich an seinem Hals ist eine große Fläche vernarbten Gewebes zu sehen, das vom Kiefergelenk bis zum Schlüsselbein reicht. Das Ganze sieht irgendwie unfertig aus, als hätte sich zwar stellenweise die Haut neu gebildet, jedoch den Heilungsprozess mittendrin abgebrochen. Er ist schon älter, allerdings fällt es mir schwer zu sagen, wie alt. Jedenfalls hat er die Jahre dazu genutzt, sich einen guten Kleidungsstil zuzulegen. Schicke Jacke, teure Schuhe. Ein Mann, der so viel Wert auf sein Äußeres legt, verbringt seine Abende damit, in Parks herumzuschleichen und Frauen nachzustellen, die mit ihrem Hund spazieren gehen? Das passt nicht zusammen.
Wir drei verharren in angespanntem Schweigen. Um die Angelegenheit zu beschleunigen, gähnt Whisper und fährt sich mit der Zunge über ihre scharfen Eckzähne. Der Mann interpretiert dies als Drohung, und als solche ist es zweifellos auch gemeint.
»Ihre Schwester hat mir gesagt, wo ich Sie finden kann«, verrät er mir schließlich.
Wenn er glaubt, dass mich das beruhigt, dann hat er vergessen, seine Pillen zu nehmen. Letztes Jahr habe ich das Auto von Loreleis Ehemann gestohlen und in einer Schlucht versenkt. Seitdem hat sie kein Wort mehr mit mir gesprochen.
Trotzdem beschließe ich, vorerst mitzuspielen. »Was wollen Sie?«
»Scheiße. Keine Ahnung«, sagt er mit einem schiefen Lächeln. »Auf meine alten Tage noch mal eine Reise in die Vergangenheit antreten, nehme ich an.«
»Und was hat das mit mir zu tun?«
»Ich hab Ihren Vater gekannt.« Gut, dass er so leise redet. Wäre seine Stimme auch nur ein Dezibel lauter, hätte mich dieser Satz vor Schreck umgehauen - wenn ich nicht schon sitzen würde.
»Darf ich?« Er deutet auf die Bank. Er klingt irgendwie seltsam. Sein Tonfall ist zu ruhig, zu gemessen für jemanden, der sich einem unberechenbaren Tier gegenübersieht. Ich frage mich, ob die alte Wunde an seinem Hals womöglich etwas mit dieser Ruhe zu tun hat. Ob er einer dieser Männer ist, die sich so sehr an die Gefahr gewöhnt haben, dass sie praktisch nichts mehr aus der Ruhe bringt.
»Nein. Woher kannten Sie meinen Vater?«
Er hält mitten in der Bewegung inne und betrachtet Whispers gebleckte Zähne. »Aus dem Libanon. Sie wissen doch, dass er mit den Marines da unten stationiert war, oder?«
Ich ignoriere seine Frage. In Wahrheit wusste ich es nicht, aber das geht ihn nichts an. »Das erklärt noch lange nicht, weshalb Sie mich verfolgen.«
Er reibt sich mit der Hand über das Gesicht. An der Narbe halten seine Fingerspitzen inne. Er merkt, wie mein Blick unwillkürlich der Bewegung folgt. »Ein Andenken aus dem Libanon. Von einer Explosion.« Er wägt sorgfältig ab, ehe er weiterspricht. »Ich hab ihm gesagt, dass ich mich um Sie kümmere, falls ihm was zustößt.«
Ich lache. »Da kommen Sie aber ein paar Jahrzehnte zu spät.«
»Ich war kein besonders guter Freund. Jetzt bin ich in Rente und musste sowieso nach Kanada, da dachte ich mir, ich schaue mal bei Ihnen vorbei. Ich wollte Sie und Ihre Schwester schon damals besuchen, nachdem ich gehört hab, dass er gestorben ist. Aber Sie waren bei Ihrer Tante untergekommen, und es schien Ihnen gut zu gehen. Vor ein paar Tagen hab ich Ihre Schwester ausfindig gemacht. Sie war ein bisschen kurz angebunden, wollte mir zuerst nichts über Sie sagen .«
»Kann ich mir vorstellen.« Lorelei und ich sind nicht im Guten auseinandergegangen. Aber sie hat nach der Heirat ihren Mädchennamen behalten und ist darüber hinaus im Internet sehr aktiv. Es kann nicht schwer gewesen sein, sie aufzuspüren. Jedenfalls nicht für jemanden, dem es damit ernst ist.
»Ich musste sie erst ein bisschen bearbeiten, aber dann hat sie mir gesagt, dass ich Sie über Sebastian Crow finden kann. Tja. Und hier bin ich nun.«
»Aber wieso?«
Er wird unruhig, fischt eine Zigarette aus seiner Jackentasche und zündet sie an. Sein Blick ruht auf dem kleinen, dünnen Flämmchen des Feuerzeugs. »Haben Sie schon mal jemandem ein Versprechen gegeben, das Sie dann nicht eingehalten haben? Ich hab viel falsch gemacht in meinem Leben, aber wie das am Ende alles mit Ihrem Vater gekommen ist . Ich fand schon immer, dass er das nicht verdient hat ., was damals passiert ist. Ich wusste, dass er es schwer hatte nach den Problemen im Libanon, aber verdammt noch mal . Was für eine Schande.«
Er blickt auf meine Hand, die Whispers Leine so fest umklammert hält, dass sich meine Fingernägel in meine Handfläche graben und dort halbmondförmige Kerben hinterlassen.
»Ich weiß auch nicht, was ich eigentlich hier will«, sagt er hilflos. Noch hat er nicht an seiner Zigarette gezogen. Er scheint nicht die Absicht zu haben, sie zu rauchen.
Letztes Jahr wäre ich um ein Haar ertrunken. An das meiste kann ich mich nicht mehr erinnern, ich weiß nur noch, dass ich irgendwann das Bewusstsein verloren habe. Jeder Taucher wird Ihnen sagen können, dass im finalen Stadium der Stickstoffnarkose eine akute Hypoxie im Gehirn eintritt, die neurologische Schäden verursachen kann und, wenigstens im betreffenden Moment, rationales Denken und Urteilsvermögen außer Kraft setzt. Allerdings kann der Sauerstoffmangel auch sehr angenehme Empfindungen auslösen. Wärme. Sogar ein Gefühl von Geborgenheit.
Und er kann Wahnvorstellungen zur Folge haben.
Ich frage mich, ob ich es hier womöglich mit einem Langzeitschaden meines Beinahe-Ertrinkens zu tun habe. Denn früher wusste ich immer ganz genau, wenn jemand lügt. Aber jetzt bin ich auf einmal unsicher. Nach den Ereignissen des letzten Jahres, insbesondere dem Verschwinden meiner Tochter, die ich gleich nach ihrer Geburt weggegeben habe, ohne auch nur einen Gedanken an sie zu verschwenden, sehe ich die Menschen anders. Vielleicht sind das meine Mutterinstinkte, die mit deutlicher Verspätung zum Leben erwacht sind und mir nun den Verstand vernebeln. Oder vielleicht habe ich auch meine ganz spezielle Magie verloren. Denn als er sagt, dass er nicht weiß, warum er zu mir gekommen ist, glaube ich ihm. Ich glaube, dass wir bisweilen Dinge tun, die keinen Sinn ergeben, nicht einmal für uns selbst.
Es könnte aber auch sein, dass ich meinen eigenen...
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