1 Sehr früh
Das war kein gewöhnliches Gitarrespielen, mehr göttlich. Der Franz träumte sich eine Halle - riesig. Ihm war nicht ganz klar, ob er Gitarre spielte oder ob er vielleicht selber die Gitarre war. Er hätte genauso gut die Band sein können, die Boxentürme, die Bühne, sogar die Musik, alles war eins im Scheinwerferlicht. Genau zu erkennen war nur die Begeisterung der Menge. Sie schwitzte, hüpfte auf und ab, streckte ihm tausend Hände entgegen und rief seinen Namen: »Franz! Franz! Franz! Franz! Franz!«
Eine Singdrossel begann zu zwitschern. Den Franz, vorn an der Rampe, wunderte das überhaupt nicht. Alles war genau so, wie es schon immer hatte sein sollen. Er breitete die Arme aus und ließ sich fallen. Fallen. Fallen. Fallen. Fallen.
Die Linn, neben ihm, wachte davon auf, dass sie strampeln konnte, soviel sie wollte, es half nichts. Sie kriegte die Bettdecke einfach nicht über ihre Füße gezogen, weil etwas Schweres darauf lag. Das war der Franz.
Die Arme quer über das ganze Bett gebreitet lag er da, aber einen Ausdruck im Gesicht, dass sie ihre kalten Füße vergaß und sich diesen Ausdruck genauer anschaute, weil wach hatte die Linn den Franz schon lang nicht mehr so glücklich gesehen. Sie beugte sich zu ihm, um ihn zu küssen.
Er drehte sich weg.
»Lass mich in Ruh, ich träum grad.«
Mit einem gezielten Schlag brachte die Linn die Singdrossel zum Schweigen. Sie fiel zurück in ihre Polster und griff nach dem Buch auf ihrem Nachttisch, aber zum Lesen war es zu dunkel. Draußen vor dem Fenster war Dezember. Von Singdrosseln weit und breit keine Spur. Der Regen tropfte von der Straßenlaterne, die durch den kahlen Birnbaum genau in ihr Schlafzimmer schien. Das Zwitschern kam von einem Wecker, der in verschiedenen Vogelstimmen zwitschert, damit man leichter aufwacht, mehr im Einklang mit der Natur. Solche Sachen waren der Linn wichtig. Trotzdem schaffte sie es jeden Tag, eine Minute vor dem armen Vogel wach zu werden und ihm beim ersten Mucks den Garaus zu machen.
Sie stand auf und ging hinüber in die Küche. Dabei hielt sie die Bettdecke vom Franz fest, gerade lang genug, dass er abgedeckt und aufgeweckt liegen blieb, in seiner zerschlissenen Boxershort und dem Smashing-Pumpkins-T-Shirt. Ein Außenstehender hätte das leicht für ein Versehen halten können, aber es war halt gerade kein Außenstehender dabei.
Der Franz schnappte sich ihre Decke, zog sie sich über den Kopf und versuchte, unten die Füße hineinzukriegen, dann oben wieder den Kopf, was sich auch deshalb nur schwer bewerkstelligen ließ, weil er immer noch halb drauflag. Wie sollte er denn so zurückfinden in einen Traum, an den er sich jetzt schon nicht mehr richtig erinnern konnte?
Heute war Dienstag. Am Dienstag musste der Franz erst in der sechsten Stunde unterrichten, und die Linn wusste das genau. Folglich gab es nicht den geringsten Grund, ihn um sieben Uhr früh um einen Traum zu bringen.
Aus der Küche klapperte sie mit der Kaffeedose herüber, und gleich im Anschluss auch noch das Radio.
»Geht das vielleicht auch ein bissl leiser?«, schrie der Franz gegen die Wand.
Mehrmals.
Vergeblich.
Drüben hörten sie ihn nicht. Die Linn hatte zum Radio noch den Wasserkocher eingeschaltet, und die Julie, die gerade fröstelnd in ihrer Pyjamahose und einem Kapuzensweatshirt in die Küche kam, war vierzehn und verschwendete möglichst wenig Aufmerksamkeit an Informationen, die ihr nicht auf elektronischem Weg zugetragen wurden. Es kostete sie genug Anstrengung, ein zernudeltes Lateinheft auf den Tisch zu legen und sich vor dem Orangensaft, den die Linn ihr hingestellt hatte, auf die Bank plumpsen zu lassen. Ihr verschlafener Blick fiel auf das Buch, das umgedreht aufgeschlagen auf der Tischdecke lag: Wünschen Sie sich Sex?
Die Julie wurde munter. Aus den Augenwinkeln schaute sie zu ihrer Mutter, die gerade dabei war, acht Löffel Kaffee in die Bistrokanne zu zählen. Wie überhaupt alles, nahm die Linn auch das Kaffeekochen ausgesprochen ernst. Sie bedeckte das Pulver knapp mit kochendem Wasser und schwenkte das Gemisch andächtig eine von ihr festgelegte Zeit, aus Gründen, die nur sie selbst kannte, womöglich religiös.
Das Buch hieß Der Fahrstuhl zum Glück. Außer Sex stand neben dem Wünschen Sie sich auf der Rückseite noch Spiritualität, Selbstverwirklichung, Anerkennung, Liebe, Erfolg und Geld, also ein Rundumschlag an allem, was man sich wünschen konnte. Die Liste war untereinandergeschrieben, um die Anfangsbuchstaben jeweils so ein orangener Punkt, der wohl einen Druckknopf im Fahrstuhl darstellen sollte. Vorn auf dem Umschlag ging über ein paar Wolkenkratzern die Sonne auf, hinten lächelte der Autor von einem geschickt ein wenig untersichtig aufgenommenen Schwarz-Weiß-Foto auf die Welt hernieder.
Scott Acton, gefeierter Life-Coach aus den USA, legt sein international erfolgreiches Workshop-Konzept T?he Elevator to HappinessT nun als umfangreiches Hands-on-Workbook vor. Drücken Sie die richtigen Knöpfe und erreichen Sie Ihr persönliches Happiness-Level!
Die Julie drückte auf das S von Sex. Nichts passierte. Nur die Linn kam mit ihrem Kaffee zum Tisch herüber.
»Was für ein Scheiß.« Mit einem verächtlichen Lächeln schubste die Julie den Fahrstuhl zum Glück von sich.
Die Linn atmete tief ein und setzte sich langsam. Nicht zu urteilen war eins der Basics des international erfolgreichen Konzepts. »Es ist gar nicht schlecht«, rechtfertigte sie sich und ärgerte sich noch im gleichen Augenblick darüber. Rechtfertigen war genauso schlecht wie Urteilen, aber ärgern sollte man sich dann auch wieder nicht. Sie war einfach nicht ganz auf der Höhe heute, rein fahrstuhlmäßig. »Es steht zum Beispiel drin, dass du wen anderen nicht dafür verantwortlich machen kannst, wie du dich selber fühlst«, sagte sie.
Die Julie zog mit dem Mund den Stöpsel von ihrer Füllfeder. »Echt?« Trotz des Stöpsels war glasklar zu verstehen, wie wenig es sie interessierte, was die Linn oder der gefeierte Life-Coach aus den USA ihr zu sagen hatten.
»Du entscheidest selber, ob du sauer wirst. Du könntest dich in dem Moment ja auch dagegen entscheiden«, erklärte ihr die Linn, »wart einmal«, sie blätterte ein paar Seiten zurück, »ich les es dir vor, dann verstehst du's leichter.«
Die Julie nickte abwesend, als würde eine alte Frau, die sich im Bus zufällig neben sie gesetzt hatte, auf sie einschwafeln. Sie blätterte durch ihr Lateinheft, und als ein leiser Summton in ihrem Sweatshirt ertönte, holte sie ihr Handy aus der Tasche.
Die Linn ließ das Buch sinken. Die Zeiger der alten Porzellanuhr über der Tür standen auf Viertel nach sieben, und genau zu diesem Zeitpunkt entschied sich die Linn dafür, sauer zu werden, obwohl sie sich ja auch dagegen entscheiden hätte können. Sie schnappte sich das Handy von der Julie und klopfte damit auf das Lateinheft: »Da schau hinein, wennst so obergescheit bist.«
»Du bist -« Die Julie fand kein Wort, das ausdrückte, was die Linn war. Sie schüttelte nur stumm den Kopf, griff hinter sich und drehte das Radio lauter.
Die Linn hatte immer geglaubt, die Pubertät von der Julie würde milde verlaufen, milder wenigstens als ihre eigene, und die Julie schrie auch nicht viel und knallte wenig mit den Türen. Sie verachtete ihre Eltern einfach, ohne viele Worte darüber zu verlieren. Die Linn wäre der Julie gern beigestanden bei den Kämpfen, die sich in ihrem Inneren abspielten, oder hätte wenigstens gern in Erfahrung gebracht, ob sich dort überhaupt welche abspielten, aber das Einzige, was sich mit Sicherheit darüber sagen ließ, war, dass sie nichts gemeinsam hatten mit denen des Julius Caesar. Seit dem Sommer schrieb die Julie in Latein nur Fünfer. Das Angebot, mit der Linn zu lernen, lehnte sie ab, lieber simste sie den ganzen Tag mit der Tamara oder bastelte und saugte die nötigen Kenntnisse für die nächste Schularbeit aus ihrem Pelikano-Stöpsel. Diese stumme, desinteressierte Halberwachsene fraß ihr aufgewecktes, pausbäckiges Mädchen auf und ließ nichts übrig als einen explodierenden Busen und Hintern und ein paar Pickel auf der Stirn. Die Linn drückte das Sieb der Kaffeekanne hinunter. Wenigstens der Kaffee tat, was man von ihm erwartete.
Dem Franz reichte es jetzt endgültig. So vorwurfsvoll wie möglich stapfte er hinüber in die Küche und stellte sich in die Tür.
Sie bemerkten ihn nicht. Da saßen sie, die Linn nippte an ihrem Kaffee, die Julie malte ansatzweise Buchstaben in ein Heft und wippte mit dem Kopf zur Musik. Erst als die abbrach, blickten beide zu ihm auf.
»Vielleicht seids ihr taub, ich nicht!«
Er stand da, den Stecker als Mahnmal in der Hand, und wartete auf eine Entschuldigung, aber alles, was die Julie zu sagen hatte, war: »Das war Wanda?«
Es ging dem Franz so dermaßen auf die Nerven, dass sie jeden Satz mit einem Fragezeichen beendete. »Will ich wissen, wie die Band heißt?«, schrie er.
»Spinnst du?«, fragte ihn die Linn.
Ihn erst aufwecken und dann entgeistert schauen, ja, das konnten sie. »Jetzt hab ich Kopfweh«, gab er bitter zurück. Keine Viertelstunde war der Franz jetzt wach und der Tag im Grunde gelaufen.
Die Julie schaute ihm immer noch nach, als er sich längst wieder ins Bett fallen lassen hatte. Sie nahm sogar den Füllfederstöpsel aus dem Mund, um langsam eine Frage zu formulieren: »Warts ihr eigentlich schon immer...