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»Ah, sieh mal einer an. Déi verluere Schwëster, da ist sie ja.«
Serge löste seinen Arm von einer großen, braunhaarigen Schönheit, entfernte sich von einer Gruppe Gleichaltriger und kam auf Sully und Jou zu.
Das ist also Marie, dachte Sully. Er konnte kaum glauben, dass er sie tatsächlich einmal zu Gesicht bekam.
»Wenn das nicht mein kleiner Bruder mit der zu vielen Freizeit ist!«
Jou zog ihn mit diesem ständigen Scherz zwischen den beiden auf, seit Serge als Chemielehrer arbeitete. Sie schlossen sich in die Arme.
»Und immer noch die gleichen dreckigen Pranken wie eh und je«, stellte Jou bei dem Anblick von Serges Händen fest, auf denen sich eine Schicht Motoröl und Schmiere seiner Oldtimer festgefressen hatte. »Heute ist ein Fest, konntest du nicht duschen?«
Er zuckte mit den Achseln. »So sehen die Hände eines hart arbeitenden Mannes eben aus. Und jetzt kommt, lasst uns ein bisschen feiern.«
Der Abend war noch nicht hereingebrochen, und doch war das Fest bereits voll im Gange. Der Flammang'sche Garten war auf das Feinste herausgeputzt worden. Lichterketten mit großen Glühbirnen hingen zwischen Werkstatt, Haus und Hühnerstall und würden für Stimmung sorgen, wenn die Sonne untergegangen war. Weiße Lampions baumelten von den großen Linden im Sommerwind. Das gepflasterte Karree vor Serges Werkstatt war mit unzähligen Stehtischen gesäumt, die mit schnatternden, gut gelaunten Menschen bevölkert waren.
Alle waren sie da, um das fünfhundertjährige Bestehen des Anwesens zu feiern. Fünfhundert Jahre, Sully konnte diesen Zeitraum kaum fassen. Na klar, er liebte das alte Gemäuer, und er wusste, dass es vermutlich mehr Geschichten als ein Märchenbuch erzählen könnte, allerdings hatte er sich bisher noch keine Gedanken darüber gemacht, wie viele Generationen vor ihm tatsächlich über die knarzenden Holzdielen gelaufen waren.
»Kommt mit«, sagte Serge und schleppte die beiden zu der kleinen Gruppe Menschen um seine Freundin Marie.
Sully setzte sich in Bewegung und drehte sich zu allen Seiten um. Er war etwa zwei Stunden weg gewesen, um Jou abzuholen. In der Zwischenzeit hatte sich die Anzahl der Besucher eindeutig verdoppelt.
Er fragte sich, ob Claire mittlerweile aufgekreuzt war. Doch noch konnte er die junge Polizistin, die sein Leben in den letzten Monaten in mehr als einer Hinsicht umgekrempelt hatte, in der Menge nicht ausmachen. Im Gegensatz zu seiner Patentante Rose, die trotz ihrer siebzig Jahre in ihrem lindgrünen Kleid und ihrer Ausstrahlung in der Menge auffiel, als wäre ein Scheinwerfer auf sie gerichtet. Fernand, ihr Mann, stand neben ihr, während sie sich mit Premier Commissaire Ernie Thill unterhielten, und hatte die Hand auf den Rücken seiner Frau gelegt.
»Ah, da sind Mama und Papa. Ich komme gleich nach«, sagte Jou an Serge gewandt und entfernte sich.
Sully blickte ihr nach und konnte das freudige Gesicht seiner Patentante sehen, als sie ihre Tochter erblickte.
Ja, es war tatsächlich schön, dass Jou es sich anders überlegt hatte und vor ihrer Familie angekommen war.
»So, Sully«, meinte Serge, als sie die Gruppe um Marie erreicht hatten. »Darf ich vorstellen? Um all deinen Sprüchen den Wind aus den Segeln zu nehmen: Das ist Marie.«
»Sprüche?«
Die große Schöne lächelte schüchtern und begrüßte Sully anschließend mit Küsschen auf beide Wangen.
»Nun, da wir uns in all der Zeit noch nicht begegnet sind, hatte ich schon die Befürchtung, Serge hätte sich seine schöne Freundin nur ausgedacht. Ich muss sagen, es ist unwahrscheinlich schön, dich endlich kennenzulernen, Marie.«
Sully grinste Serge an, der ihm wiederum die Zunge herausstreckte.
Marie schien sich zu einem Lächeln zu zwingen. »Nun, wenn ich mir schon einen Partner ausgesucht habe, der so viel um die Ohren hat wie Serge, dann sollten mich solche Sprüche vermutlich nicht wundern. Wir haben beide viel zu tun, schätze ich. Da kann ich mich glücklich schätzen, dass er mich heute zu der Feier mitgenommen hat, richtig?«
»Äh«, sagte Sully, weil ihm die Worte fehlten.
Ui, da stand der Haussegen aber tatsächlich schief, dachte Sully. Er fand Marie eindeutig hübsch, ein wenig erinnerte sie ihn sogar an Jou mit ihren dunklen Locken, aber auch ein wenig farblos. Vielleicht musste sie ja erst auftauen. Oder die beiden hatten kurz zuvor gestritten.
»Traurige Geschichte spannend erzählt«, schloss Serge mit einem Lachen und war wie meist so einfühlsam wie ein Amboss. »Und Pol und Romain kennst du ja natürlich.«
»Klar, moien, ihr beiden«, sagte Sully an Serges Freunde gewandt.
Er hatte sie in den letzten Wochen bereits kennengelernt, weil sie Serge gelegentlich dabei halfen, an seinen Oldtimern zu schrauben. Sie waren Kollegen, arbeiteten an derselben Schule und kannten sich seit der eigenen Schulzeit, wobei Romain und Pol eher in Jous Alter waren.
Pol, der blonde Mann mit charismatisch-kantigem Kinn, lehnte an einem Stehtisch, eine Bierflasche in der Hand.
»Und, wie geht es Jou?«, fragte er Sully, was dessen Vermutung bezüglich des Alters bestätigte.
»Äh, gut, denke ich.«
Irgendwie fand Sully es seltsam, nach Jou befragt zu werden. Oder zu jemand halb Fremdem irgendetwas über sie zu sagen.
»Wieso?«, fragte der dunkelhaarige Romain, der Zurückhaltendere der beiden. »Hast du Angst, dass sie die Sache noch nicht überwunden hat und dir gleich die Augen auskratzt? Hast sie ja lange nicht gesehen, oder?«
»Ha, ha«, entgegnete Pol und trank einen Schluck Bier. »Ist doch eine alte Geschichte.«
». die dir keine Frau der Welt so schnell verzeihen würde«, fügte Marie hinzu.
»Serge, sag du auch mal was«, meinte Pol.
»Pardon, mein Freund. Sie ist meine Schwester, da bin ich ganz auf Maries Seite.«
»Das ist ja mal was Neues«, neckte sie Serge, der den Einwand überging.
»Pass also auf, Pol, dass sie dir nicht gleich etwas in deinen Drink mischt, einfach nur, um Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Oder du suchst schon einmal die nächste Toilette auf.« Serge grinste. Halbherzig.
Sully verstand nur Bahnhof und sah Serge fragend an.
»Ach, alte Kamelle«, meinte Serge, »und nur Teenager-Blödsinn. Oh, seht mal, da ist ja Claire!«
Sully fuhr herum und meinte aus dem Augenwinkel erkennen zu können, dass sich Maries Miene verfinsterte. Im Gegensatz zu der Serges. Vielleicht kam Sully dies auch nur so vor.
»Morland, Serge«, sagte sie, ihr immer schiefes Lächeln auf den Lippen. »Salut, Marie.«
Sie stellte sich zu der Gruppe, als gehörte sie seit Ewigkeiten dazu. Vielleicht tat sie das auch. »Und moien, ihr anderen natürlich.«
Sully kam sich ein wenig seltsam vor, denn er wusste, dass sie alle eine gemeinsame Jugend miteinander verband. Er selbst war damals eher so eine Art regelmäßiger Sommerbesucher gewesen. Ein Beobachter von außen, der einen Teil des Jahres dazugehörte. Aber eben nie so richtig. Vielleicht fühlte er sich auch noch immer so.
»Was ein Fest«, sagte Claire. »Aber mir fehlt eindeutig ein Drink.«
»Ich schätze, das ist mein Stichwort«, sagte Serge. »Einen Moment.«
Er entfernte sich von der Gruppe, und Sully meinte, ein Augenrollen bei Marie zu sehen.
Kurze Zeit später kam Serge wieder, einen Stapel Schnapsgläser in der einen, eine Glasflasche mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit in der anderen Hand. Er schob Jou vor sich her, die sich nur widerwillig zu nähern schien.
»Was zur .?«, sagte sie. »Serge, was ist denn .? Moien«, sagte sie schließlich schüchtern an die anderen gewandt.
Ein verstohlener Blick in Richtung Pol. Oder bildete Sully sich das nur ein?
»Na, was muss ich mir hier so Dringendes angucken?«, fragte sie dann.
»Wirst du gleich sehen.«
Serge schenkte großzügig in die Gläschen ein und verteilte sie anschließend.
»Also, darf ich vorstellen?«, sagte er, als er allen eingeschüttet hatte, und hob sein Glas. »Pommes de Gréngdall. Der neue Stern des luxemburgischen Spirituosenmarkts.«
Er trank sein Glas leer, die anderen taten es ihm gleich, sahen ihn verwundert an. Außer Sully, denn er wusste natürlich schon von Serges Plan. Schließlich war die letzten Wochen zu Hause von kaum etwas anderem die Rede gewesen. Nun, bis auf die heutige Veranstaltung natürlich. Und auch Marie schien nicht überrascht, denn Sully schätzte, dass auch sie Serges ungebremsten Enthusiasmus abbekommen hatte.
Die Flüssigkeit lief Sullys Kehle herunter und hinterließ einen angenehm trocken, fruchtigen Nachgeschmack. Dann wurde ihm warm ums Herz. Er schaute zu Claire. Sie sah fantastisch aus in ihrem hellblauen Sommerkleid, das ihre Augen zum Strahlen brachte. Alle Achtung, so hatte er sie noch nie gesehen. Schnell schaute er wieder weg.
»Was meinst du damit, Stern am Himmel?« Romain stellte sein Glas zuerst ab. »Schmeckt jedenfalls . Es schmeckt hervorragend.«
»Findest du? Das bedeutet mir viel, schließlich bist du ja der einzige Experimentierfreudige hier, der auch gern mal selbst etwas braut.« Serge hob geheimnisvoll eine Augenbraue. »Das hier ist nur eine Kostprobe für Auserwählte. Den Rest hebe ich für Wichtigeres auf. Er schlummert wohlverwahrt in einem Eichenfass im Keller. Müsste noch gerade genug sein, dann muss erst nachproduziert werden.«
»Genug für was?«, fragte Pol.
»Oh!«, rief Romain aus, als er sein Glas auf dem Stehtisch abstellte. »Du meinst doch nicht etwa .?«
»Wir alle wissen, dass du hervorragenden Schnaps brennst, Serge, was ist denn nun los?«, wollte Jou wissen.
Sie fühlte sich sichtlich...