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Von den blutigen Fußspuren vor der Tür war kaum noch etwas zu sehen.
Der Regen peitschte wütend gegen die Fassaden der uralten Steinhäuser. Die Nacht war vorüber, und doch konnte sich die Sonne nicht gegen die Wolken behaupten. Alles war grau. Ein Martinshorn ertönte in der Ferne. Vielleicht war es auch das Jaulen des Windes. Die Straßen waren leer. Nicht nur wegen des Unwetters. Um diese Zeit waren fast alle Bewohner des kleinen Örtchens im Norden des Großherzogtums zur Arbeit aufgebrochen. Trotz der Dunkelheit brannte kein Licht in den Fenstern.
Nur Maison Quinze bot eine Ausnahme. Das Haus Nummer Fünfzehn lag hinter einem kleinen Hügel ein Stück abseits, weder neben Nummer Vierzehn noch Sechzehn.
Die Tür stand offen und gab den Blick auf die erleuchtete Eingangshalle frei. Der Regen hatte die Steinplatten im Eingangsbereich überschwemmt.
Ein Wandtelefon war aus den Angeln gehoben, baumelte an seiner Schnur und schlug mit dumpfem Pochen gegen die elfenbeinfarbene Tapete. Lediglich die dunkelroten Spritzer darauf zeugten von dem, was sich soeben ereignet hatte.
Zudem war die nackte Leiche, die bäuchlings am Ende des Kieswegs im Vorgarten lag, nicht wegzudiskutieren. Das schmiedeeiserne Tor schlug in unregelmäßigem Rhythmus gegen einen leblosen Fuß. Das andere Bein des Toten war angewinkelt, als wäre er mitten im Lauf niedergestreckt geworden. Der Körper war athletisch, ein weißer Hautstreifen zeugte von frühjährlichen Ausflügen in die Sonne. Nur das grau melierte Haar ließ Rückschlüsse auf das Alter des Verstorbenen zu. Die Arme von sich gestreckt, den Kopf zur Seite gewandt, lag er dort im strömenden Regen. Den ewig leeren Blick auf das gerichtet, was er mit der rechten Hand umklammert hielt: eine blutverschmierte Spiegelscherbe, die wenige Momente vor seinem gewaltsamen Tod in der nun klaffenden Wunde an seinem Hals gesteckt hatte. Fichtennadeln klebten wie trauriges Konfetti auf der Haut.
Ein fremder Mann kniete am Kopf der Leiche. Deutlich jünger war er, mit schlankem Körper. Sein Gesicht zeigte trotz des sich nähernden Martinshorns keine Regung.
Langsam richtete er sich auf, streifte sich den übergroßen Regenmantel ab, breitete ihn behutsam über dem Leichnam aus und beschwerte ihn mit Steinen.
Er bückte sich und griff nach dem Stapel durchnässter Briefe neben dem Toten. Die blaue Tinte auf dem obersten Umschlag war bereits verlaufen, der Adressat kaum zu entziffern. Nass bis auf die Haut reckte sich der Mann in Richtung des Briefkastens neben dem Gartentor, wobei er aufpassen musste, den reglosen Fuß nicht zu berühren. Er öffnete die Klappe und ließ den Stapel Briefe hineingleiten. Ein Seufzen. Aber Pflicht war eben Pflicht.
Das Martinshorn verstummte einige Meter hinter ihm. Er zuckte nicht zusammen. Reifen schleppten sich über den Kies. Die Szenerie wurde in blaues Licht getaucht. Die Regentropfen blinkten gespenstisch. Das Quietschen des Scheibenwischers erzählte von einem unerbittlichen Kampf gegen die Wassermassen.
Autotüren wurden hektisch geöffnet und geschlossen. Notarzt und Rettungssanitäter sprangen mit schwerem Gepäck aus dem Wagen.
Der Mann drehte sich um. »Ihr kommt zu spät.« Seine Stimme war ruhig und verlangsamte die Schritte der Ankömmlinge. »Der Bürgermeister ist tot.«
Es dauerte nur wenige Minuten, bis ein Polizeiauto eintraf.
»En Accident«, sagte der Notarzt von der trockenen Fahrerkabine des Krankenwagens aus, als eine junge Frau in Uniform aus dem Polizeiwagen stieg.
»Sie haben uns gerufen?« Sie versuchte, die blonden Haare unter die Kapuze zu stopfen.
Der Notarzt nickte.
Die Polizistin ließ den Blick über das Gelände gleiten und entdeckte den fremden Mann, der einige Meter im Abseits neben einem Mountainbike mit vollbepackten Satteltaschen stand. »Und er hat den Toten gefunden?«
»Ja, aber der Notruf stammte vom Opfer selbst«, erwiderte einer der Sanitäter.
»Zu Ihnen komme ich gleich noch«, rief sie dem Radfahrer forsch zu. »Bleiben Sie dort am Zaun stehen und passen Sie auf, dass sie nichts mehr anfassen, ja?« Sie nahm Einmalhandschuhe aus der Jackentasche und hatte Schwierigkeiten, die klammen Finger hineinzuzwängen. »Vermutlich hat er ohnehin schon alle Spuren vernichtet«, murmelte sie finster.
Den amüsiert zuckenden Mundwinkel des Fremden konnte sie nicht sehen.
»Sie haben den Leichnam abgedeckt.« Die Polizistin sah die Sanitäter an. Es war eine Feststellung, keine Frage. »Das war eine kluge Entscheidung. Der Regen .« Sie kniete sich an die gleiche Stelle, an der sich vor wenigen Minuten noch der Mann befunden hatte, und lupfte einen Zipfel des Regenmantels. Bei dem Anblick des Toten verzog sie keine Miene.
»Ist es wirklich Jacques?«, ertönte die Stimme ihres Kollegen, der auf dem Fahrersitz versuchte, dem Unwetter zu entgehen.
»Ja, das ist er.« Sie richtete sich auf. »Jacques Eichner.«
»Bist du sicher?«, fragte der Kollege.
Sie ließ den Regenmantel zurückgleiten und richtete sich auf. »Er sieht aus wie der Bürgermeister, und er liegt vor dem Haus des Bürgermeisters. Einen Ausweis hat er nicht dabei. Weißt du, er ist nicht bekleidet. Aber komm doch einfach raus und überzeug dich selbst.« Ihre Stimme blieb sachlich.
Keine Reaktion aus dem Streifenwagen. Der Kollege schien nicht erpicht darauf zu sein, eine Leiche zu sehen. Vielleicht war er an diesem beschaulichen Fleckchen Erde bisher davon verschont geblieben. Das wäre durchaus denkbar.
»Wann ist der Notruf eingetroffen?«, fragte die Polizistin.
»Vor etwa einer halben Stunde.« Der Fahrer des Krankenwagens hatte den Blick auf seinen Schuh gerichtet, der in einer Pfütze auf dem Kies stand. Der Regen hatte inzwischen nachgelassen.
»Vor einer halben Stunde? Das ist eine lange Zeit.« Sie hob skeptisch eine Augenbraue, senkte sie dann wieder, als Regentropfen ihre Augen trafen.
»Nun ja, wir . Also wir haben uns verfahren. Es war nicht einfach, das Haus zu finden. So versteckt hier hinten im Wald und dann die fehlende Beschilderung . Wir sind nicht so oft hier in der Gegend.«
»Verstehe.« Sie wandte sich an ihren Kollegen, der noch immer auf dem Fahrersitz wartete. »Dann informieren wir mal die Spurensicherung aus der Stadt. Könnte eine Weile dauern, bis die Kollegen kommen. Bei dem Wetter.«
»Spurensicherung? Claire, du hast doch gehört, dass er selbst den Rettungswagen gerufen hat. Es war ein Unfall. Meinst du echt, das ist nötig?«
Claire. Der nun regenmantellose Mann am Fahrrad speicherte ihren Namen ab.
»Spitzes Penetrationstrauma, offenbar vom Opfer selbst gemeldet«, teilte der Arzt mit, wobei er nicht von dem Papier auf seinem Schoß aufblickte. »Sieht aus, als wäre er an der Stichwunde am Hals verblutet. Die Frage, wie er zu der Wunde kam, müsst ihr beantworten. Ich weiß nur, dass dies ein nicht natürlicher Tod ist und wie ich da meine Kreuze auf dem Totenschein zu setzen habe.« Achselzucken und weiter unbeeindrucktes Kritzeln auf seinem Formular.
Claire fasste zusammen: »Also Spurensicherung, Paul. Und noch einmal danke für die Abdeckung der Leiche, Jungs. Vielleicht finden wir dann doch noch irgendetwas Brauchbares. Habt ihr sonst noch etwas verändert?«
»Also eigentlich .«, meldete sich der Fahrer des Krankenwagens wieder zu Wort, nicht weniger kleinlaut, ». war das er, nicht wir.« Er nickte in Richtung des Fahrradmannes.
Claire blickte verwundert auf und fixierte den Fremden argwöhnisch. Man konnte es ihr nicht verübeln. Durchnässt mit schwarzen Sporthandschuhen und dem im Blaulicht fahl schimmernden Gesicht mit den dunklen Strähnen in den Augen war er ein suspekter Anblick. Zumal sie eigentlich geglaubt hatte, die meisten Bewohner der Gemeinde zu kennen.
»Ich erzähle Ihnen gleich alles«, meldete sich der Mann zu Wort. »Aber vielleicht informieren Sie wirklich erst die Spurensicherung, bevor der Dauerregen alles verwischt. Ich habe mit dem Handy ein paar Fotos gemacht, die ich Ihnen selbstverständlich zur Verfügung stelle.«
»Sie haben was? Und wer bitte schön sind Sie überhaupt?« Claire näherte sich dem Mann. Dabei sprach sie »wer« mit einem langgezogenen Ä aus.
Er zuckte ob der Feindseligkeit in den Worten der Polizistin zusammen. Niemand, wollte er gerade auf ihre Frage antworten, und ärgerte sich nicht das erste Mal, dass ausgerechnet er die Leiche hatte finden müssen. Ich bin hier doch eigentlich ein Niemand.
Doch Paul kam ihm zuvor. Er erhob sich aus dem Streifenwagen, der bedrohlich wankte, ging einige Schritte auf die Gruppe zu und schirmte die Augen gegen den Regen ab. Seine Miene hellte sich auf, als er den Mann erkannte. Mit einer geschmeidigen Bewegung des dicken Armes deutete er auf den Fremden und glich dabei einem Zirkusdompteur, der seine nächste Attraktion ankündigte. »Das ist doch unser neuer Briefträger!«, rief er aus. »Das ist Sully. Sully Morland!« Pauls französischer Akzent war nicht zu verkennen.
»Sully-Morland?« Wieder hob Claire eine Augenbraue. »Wie die Pariser Métro-Station?«
Sully seufzte. »Also eigentlich .«
»Sie haben das Opfer also zufällig bei der Arbeit gefunden, Monsieur Bréifdréier Sully-Morland?«, unterbrach ihn Claire.
Sully war sich nicht sicher, ob sie ihn damit aufziehen wollte, dass sie ihn als Herr Briefträger ansprach, aber er ignorierte es.
Für Außenstehende mochte dies eine seltsame Unterhaltung sein, die fließend zwischen drei Sprachen hin und her sprang. Für alle Beteiligten sowie den Rest dieses kleinen Landes eine Normalität.
»Einfach Sully genügt.« Er hätte ihr erklären...