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Ein Schwarm Mücken tanzte über dem Tümpel, als ich das Gartentor öffnete, die Kröten begannen träge ihr knarzendes Konzert. Die Sonne verschwand langsam hinter den hohen Eichen in der Ferne.
Als ich an die Terrassentür klopfte, antwortete keiner. Einen Schlüssel hatte ich nicht. Ich hätte in die Praxis gehen können, aber ich war nicht bereit. Insbesondere nach diesen Neuigkeiten.
Also setzte ich mich an den großen Holztisch unter dem Vordach und öffnete einen Roman, den ich mir vor Ewigkeiten gekauft und aus unerfindlichen Gründen in meine Reisetasche gesteckt hatte, auch wenn ich wusste, dass ich mich jetzt nicht darauf würde konzentrieren können.
Hoffentlich würde Papa bald seinen letzten Patienten verarztet haben, sodass ich ein paar Worte mit ihm wechseln konnte, bevor Margitta oder Kitty nach Hause kämen. In ihrer Gegenwart war er anders. Oder vielleicht war er auch nicht anders, vielleicht war es nur fremd für mich, seine Zuneigung und seine Güte teilen zu müssen.
Papa und Margitta hatten geheiratet, als ich bereits ausgezogen war. Da war Kitty fünf gewesen. Ein aufgewecktes Mädchen, zu dem ich keinen Zugang fand. Es nicht einmal versuchte. Ich hatte nie mit dieser neuen Familie unter einem Dach gelebt, sondern sie nur zu besonderen Anlässen besucht. Ich wusste, dass es mir schwerfallen würde, meinen Platz in ihrem Alltag zu finden. In Papas anderer Familie. So fühlte es sich an, wenn ich die drei sah. Als gehörte ich nicht dazu.
Schließlich waren es immer nur er und ich gewesen, solange ich denken konnte. Seit meine Mutter von diesem Reitunfall nicht zurückgekommen war.
Ich hörte Schritte näher kommen und wusste, dass aus meinem Wunsch, allein mit Papa zu sein, nichts werden würde.
Eine Woge warmen Lavendeldufts stieg mir in die Nase, als Margitta auf mich zukam. Sie sah aus, als wäre sie einem Film aus den Siebzigerjahren entsprungen: Ihre dunkelbraunen Locken waren zu zwei Zöpfen geflochten, die von einem dezent gemusterten Tuch aus dem Gesicht gehalten wurden. Ein künstlerisch auf ihrem Scheitel gebundener Knoten rundete das Bild ab. Sie trug eine schmutzige Latzhose, darunter lediglich ein Top, sodass ihre naturgebräunten, definierten Arme zum Vorschein kamen. Durch ihre chilenischen Wurzeln wirkte sie jugendlicher, als sie mit ihren siebenundvierzig Jahren war.
Heute wirkten ihre sonst tänzerischen Schritte eher schlurfend. Sie blickte zu Boden und schien mich nicht bemerkt zu haben. Als ich mich räusperte, um behutsam auf mich aufmerksam zu machen, zuckte sie kaum merklich zusammen und setzte ein Lächeln auf, das ungezwungen wirken sollte.
Schnell schlug ich mein Buch irgendwo in der Mitte auf, in der Hoffnung, unsere Unterhaltung auf das Notwendigste zu beschränken.
»Nina, ja richtig! Dein Vater hat gesagt, dass du heute kommst. Schön, dich zu sehen.« Sie ging an mir vorbei, legte mir ihre Hand kurz, aber liebevoll auf die Schulter und verschwand im Haus. Die Tür ließ sie offen.
Ich hörte, wie unsere Promenadenmischung Lisa von ihrem Platz unter der Treppe träge mit dem Schwanz wedelte, ohne sich die Mühe zu machen aufzustehen. Sie war inzwischen sechzehn und fast taub. Mein Vater hatte sie, um nicht allein zu sein, zu sich geholt, kurz bevor ich das Dorf für mein Studium verlassen hatte.
Was war mit Margitta los? Keine überschwängliche Begrüßung? Kein Festmahl und drei Torten, die zur Feier der Rückkehr der »verlorenen Tochter« warteten? Sollte ich ihr hinterhergehen? Aber wir hatten uns noch nie einfach unterhalten können.
Also entschied ich, sitzen zu bleiben. Lisa würde ich später begrüßen, Hundefell war der beste Trost, den die Welt zu bieten hatte. Ich zwang meine Augen, sich auf die tanzenden Buchstaben auf der Seite zu konzentrieren. Ich muss endlich ., stand dort. Ich muss endlich .
Dann wurde mir klar, was Margittas Latzhosenauftritt zu bedeuten hatte. Sie hatte vor einigen Jahren die Leitung des Theaters übernommen. Natürlich war sie heute dabei gewesen, als das Tagebuch bei den Bühnenarbeiten gefunden wurde. Ich klappte mein Buch zu und richtete mich auf. Vielleicht hatte sie etwas aufgeschnappt? Aber sie kannte die ganzen Verstrickungen von damals ja gar nicht. Gerade als ich mich erheben wollte, hörte ich leises Gemurmel im Wohnzimmer, das Klirren von Eiswürfeln, Schritte, die sich der Terrassentür näherten.
Die Fliegentür wurde geöffnet und Margitta kam herausgeschlürft, hinter ihr mein Vater. In den Händen drei Gläser und eine Flasche Single Malt. Eigentlich hielt mein Vater nichts davon, seinen Whisky mit Eis zu verwässern, aber heute schien er eine Ausnahme zu machen.
Nachdem er alles auf dem Tisch abgestellt hatte, trat er mit einem schiefen Lächeln und ausgebreiteten Armen auf mich zu. Seine weißen Bartstoppeln verrieten mir, dass er zu viel arbeitete. Ich stand auf, fast zwei Köpfe kleiner als er, und sank in seine Arme. Der tröstliche Geruch von Limette und Zeder drang mir in die Nase und ich musste meine Tränen wegblinzeln.
»Wie schön, dass du da bist, meine Kleine.« Er gab mir einen Kuss auf den Scheitel, wir lösten uns aus unserer Umarmung und setzten uns an den Tisch.
Margitta seufzte und starrte in ihr Glas, wo das Eis schmolz.
Über den goldenen Rand seiner Brille sah mein Vater mich ernst an. »Nina, entschuldige unsere Stimmung, aber . Also heute wurde .«
»Ich habe es schon gehört. Sie haben es gefunden.« Anscheinend hatte mich niemand bemerkt, als ich sensationslüstern unter dem Praxisfenster gelauscht hatte.
Er nickte, schenkte jedem großzügig ein, reichte uns die Gläser und prostete wortlos in die Runde. Dann trank er einen Schluck. Ich tat es ihm gleich. Margittas Hand zitterte, als sie ihren Whisky an den Mund führte.
Papa setzte sein Glas ab und räusperte sich. »Margitta ist fertig. Der ganze See ist abgeriegelt, Spurensicherung, Spürhunde, Kriminalpolizei. Alle anwesenden Arbeiter wurden befragt, was sie die letzten Tage gesehen hätten, ob sie Frederika kannten, ob jemand gesehen wurde, der das Buch dort deponierte . Es hat sie mitgenommen.« Er legte seine große Hand auf Margittas, die noch zerbrechlicher als sonst wirkte.
Daher wehte der Wind. Wahrscheinlich war der lebensfrohen Margitta in ihrem Leben noch nie etwas Düsteres widerfahren und sie hatte heute lernen müssen, dass selbst dieser Ort nicht davor gefeit war.
»Entschuldige.« Margittas Stimme war ein leises Krächzen. »Ich stelle mich ziemlich an, das Ganze kam einfach so überraschend. Gerade jetzt, wo wir kurz vor der Aufführung stehen. Und auch noch genau von dem Stück, das Ingrid Johanning damals .« Sie brach ab.
Wut kochte in mir auf. Es ging ihr tatsächlich um ein dämliches Theaterstück? Ich erinnerte mich an Plots mit immergleichen Wendungen und Amateurschauspieler, die sich am Plattdeutschen versuchten. Gefolgt von großem Feuerwerk, Tanz und Alkohol. Auch bekannt als »Der Flammensee«.
Und in jenem Sommer, als Ingrid Johanning und Frederika zu Tode gekommen waren, hätte dieses neue Theaterstück seine Uraufführung haben sollen. Es stammte aus Ingrid Johannings Feder. Mit niemand anders als Frederika in der Hauptrolle.
Bloß zur Aufführung war es nie gekommen. In der Nacht zuvor brach ein Feuer aus und verbrannte Bühnenbild samt Requisiten bis auf den Betongrund der Bühne. Die Leute zerrissen sich die Mäuler über interne Intrigen, Kabelbrände, Neider aus anderen Orten bis hin zur Mafia, russisch, italienisch, egal welche. Aber das allgemeine Interesse wurde bald von einem weit größeren Skandal in Anspruch genommen, als ausgerechnet die beiden wichtigsten Personen dieses Stückes eine Woche später tot aufgefunden wurden.
Das Theater. Der anscheinend einzige Berührungspunkt der beiden Toten.
Seitdem hatte das Manuskript in Frau Johannings Schreibtischschublade geruht, bis ihr Mann es nun zwanzig Jahre später herausgeholt hatte, um seiner verstorbenen Frau den ihr gebührenden Ruhm posthum zu ermöglichen. Mein Vater hatte mich diesbezüglich auf dem Laufenden gehalten, ob ich wollte oder nicht.
Margitta hatte ihre Sprache wiedergefunden. »Ich habe solche Angst, dass wir das Stück nicht aufführen können! Ich meine, abgesehen davon, wie schlimm das für die Mutter des armen Mädchens ist. Und für Albert .« Albert Johanning. Mein ehemaliger Lehrer, mein alter Freund. Der Tod seiner Frau würde ebenfalls erneut unter die Lupe genommen werden.
Margitta seufzte. »Wenn das nun alles wieder hochkocht . Es ist, als wäre das Stück verflucht. Schrecklich.« Sie schüttelte betrübt den Kopf.
Ich nahm einen großen Schluck. War sprachlos.
Einen Moment lang hingen wir alle unseren Gedanken nach. An tote Provinzschönheiten, an verfluchte Theaterstücke, an die schwierigsten Jahre eines alleinerziehenden Vaters, schätzte ich. Plötzlich klapperte das Gartentor so laut, das selbst Lisa im Inneren des Hauses träge wuffte, um halbherzig auf den Eindringling aufmerksam zu machen.
Kitty erschien wie eine Naturgewalt, als sie über den Rasen auf uns zufegte. Ihre langen Beine legten die Distanz in Windeseile zurück, die dunklen Haare wehten offen um ihr Gesicht. Sie trug ein gelbes Top und viel zu kurze Jeans. Für eine Sekunde dachte ich verwundert, sie wollte mich überschwänglich begrüßen, aber dann nahm sie Kurs auf ihre Mutter. Wie eine sensationslüsterne Reporterin, die gerade einen wichtigen Kronzeugen erspäht hatte. »Mama, ist das wahr? Das ist ja Wahnsinn. Erzähl, wo war es? Und...
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