Schweitzer Fachinformationen
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»In den fünfziger Jahren verfing sich etwas seltsam Schweres in den Netzen der Fischer von Borstö. Als ein Helmtaucher auf den Meeresgrund hinabstieg, fand er ein fast unversehrtes Schiffswrack, dessen Geheimnis erst nach jahrelanger Forschungsarbeit gelüftet werden konnte.
Amsterdam 1794: Kapitän Karl P. Amiel bereitet seine dreimastige Galiot St. Mikael für die letzte Fahrt des Herbstes vor. Das Ziel ist Sankt Petersburg. Zur Reisegesellschaft gehört auch die Tochter eines Geschäftsfreundes. Das Mädchen soll den Lebensstil der Petersburger Oberschicht kennenlernen, von dem man bis nach Amsterdam spricht. Kapitän Amiel hat die Verantwortung für eine außerordentlich wertvolle Fracht: Man hat bereits einen Pferdewagen auf das Schiff verladen, eine Kariole, die er der russischen Großfürstin Elisabeth persönlich überbringen soll. Zu dieser Fracht kommt eine große Anzahl von Schätzen hinzu, die einem berühmten Goldschmied in Petersburg geliefert werden sollen.«
Am Sonntagmorgen steht Katariina neben ihrem Schreibtisch im oberen Stockwerk des Hauses. Sie ist auf die übliche Art nach oben entwischt - oder nicht entwischt, das klingt jetzt zu listig und geheimnisvoll. Katariina ist einfach nach oben in ihr Zimmer gegangen, als hätte sie nichts Besonderes vor, und hätte sofort die Richtung ändern können, wenn Olli oder Elina sie gerufen hätten. An der Tür hat sie einen Blick über die Schulter geworfen, gelassen, als hätte sie nur einen Laut gehört und sich umgedreht, um nachzusehen.
Das blasse Märzlicht dringt durch die Holzjalousien. In der Sonne tanzen Staubflocken. Katariina öffnet das Fenster einen Spaltbreit und steckt die Nase hinaus. Nachts friert es noch, gewaltige Eiszapfen hängen morgens von den Dächern (sie können bis zu einem Meter lang werden, richtige Mörderzapfen), und die Regenrinnen der alten Häuser sind von einer dicken milchigweißen Eisschicht umgeben. Am Tag riecht man die Wärme in der Luft, die Erde ist mit schlammigem Dreck überzogen. Auf der Wurzel der Esche im Hof ist ein zerfetzter schwarzer Pilz zu sehen, wie der Flügel einer Fledermaus. Der Frühling deckt die Kampfspuren des Winters auf, die festgefrorene Schwimmhaut einer Wildente, den kompletten Flügel eines Spatzen, Baumstümpfe wie Oktopusse mit ihren Gliedmaßen, Höhlungen und merkwürdigen neuen Bewüchsen. Der Beginn neuen Lebens ist faszinierend, aber hässlich. In der Ferne zeichnen sich die geometrischen Umrisse von Frachtschiffen ab, rote, gelbe und blaue Container übereinander, majestätisch und proletarisch zugleich.
Es ist still. Das bedeutet nicht, dass man gar nichts hört, denkt Katariina. Stille ist wie die Farbe Weiß, sie enthält unendlich viele Abstufungen. So ist auch die typische Stille auf Suomenlinna. Auf einer Baustelle läuft das Radio, man hört gedämpfte finnische Rockmusik, derart monoton, dass sie aus der Entfernung wie die Litanei eines orthodoxen Priesters klingt. Vor dem Fenster singt ein Vogel. Wie ein Geigenspieler, dem der Komponist nur zwei Noten zu spielen gegeben hat, die er auf und ab sägen muss, aber dazwischen improvisiert er, wie um zu zeigen, dass er natürlich darüber gebrütet hat. Auch Helsinki ist ein Laut, ein fernes Dröhnen. So klingt es im Mutterleib, denkt Katariina, der Blutkreislauf der Welt ist nur ein undeutliches Rauschen. Das pochende Herz der Mutter und die anderen Organe, jedes lebenswichtig, verrichten irgendwo weit entfernt ihre einzigartige Aufgabe, während man sich selbst sorgenfrei auf einer kleinen Insel in Sicherheit befindet.
Katariina und Olli wohnen in einer sanierten Wohnung eines zweigeschossigen ehemaligen Kasernengebäudes. Sie leben bescheiden, obwohl das Wohnen auf Suomenlinna im Vergleich zu anderen Gegenden in Helsinkis Süden ohnehin günstig ist. Mittlerweile haben sie ein recht gutes und auch fast regelmäßiges Einkommen, auch wenn sie beide freiberuflich arbeiten. Zusätzlich zu seinen üblichen Fotoaufträgen konnte Olli mehrere seiner Natur- und Landschaftsaufnahmen an eine Bildagentur verkaufen, wofür er Tantiemen bekommt. Olli selbst schätzt diese Fotos nicht besonders, gleitende Möwen, Sonnenuntergänge und Regenbögen, aber er nimmt das Geld, das sie einbringen. Schon seit Elinas Geburt vor sieben Jahren wohnen sie hier auf diesen Inseln, auf die die Schweden vor zweihundert Jahren eine Festung gebaut haben und auf der heute Militär und Boheme Seite an Seite leben. Auf den Höfen und in den Parks spielen die Kinder von Mustasaari und Susisaari in meist zu großen oder zu kleinen, geerbten oder auf dem Flohmarkt erstandenen Kleidern. Im Winter haben sie wettergegerbte Haut und eine hohe Erkältungsschwelle, denn Wind und Regen peitschen sie ununterbrochen. Von den Müttern, die in den Parks sitzen, sieht man nur die Augen; Mützen, Schals und Steppjacken bedecken wie arktische Burkas alles andere. Die jungen Frauen tragen Rastas, die Bärte der Männer sind zu Zöpfchen geflochten, in den Ohrläppchen haben sie fingerdicke Löcher, die mit Silberringen gesäumt sind; wie Insignien uralter Stämme, die dieselbe Funktion erfüllen wie ein Orden auf einer Uniformbrust oder die petrolfarbenen Federn von Erpeln.
Olli ist ein weniger vorsätzlicher Bohemien, passt aber gut dazu, und wegen seines Hintergrunds irgendwie auch zu den Leuten aus der Marineschule. Katariina findet es lustig, neben Karen Blixen zu den wenigen Frauen auf der Welt zu gehören, die einen Mann haben, der deutlich schöner ist als sie selbst. Olli ist objektiv betrachtet ein gutaussehender Mann: Er hat lange, aber kräftige Gliedmaßen, eine wohlgeformte große Nase, dickes, braunes, lockiges Haar, das aussieht, als wäre es von jemandes Balkon auf seinen Kopf gefallen. Olli ist der Typ Mensch, dessen Schönheit durch einen nachlässigen Haarschnitt (im eigenen Badezimmer mit einer Schere von Fiskars produziert) und durch mottenzerfressene Pullover noch betont wird, nicht gemindert. In der Doisneau-Ausstellung vor neun Jahren hatte Katariina bemerkt, dass Olli sie ansah, und plötzlich redete sie mit voller Stimme mit ihm; schon vorher hatte sie eine Weile in Gedanken mit ihm gesprochen. Olli drehte sich zu ihr um, den Aufkleber des Museums Tennispalatsi auf der Stirn.
Es gibt nichts, wofür es nicht den entscheidenden Moment gibt.
Nie kann ich ihn besser kennen als jetzt, hatte Katariina über Olli am nächsten Abend gedacht. Ich kenne ihn durch und durch.
Was für eine kindische Einbildung, dachte sie zwei Jahre später. Ich glaubte im Ernst, jemanden zu kennen, den ich am Vortag getroffen hatte. Seine Geschichte, die Wege auf seiner Karte. Seine Lügen.
Wie perfekt sie Olli doch damals gefunden hat. Katariina konnte es nicht glauben, dass Olli wirklich am nächsten Tag zurückkam, um sie zu suchen. Sie hatten nicht vereinbart, dass sie sich wiedersehen würden. Sie hatten überhaupt nichts vereinbart. Sie selbst ging erneut zum Tennispalatsi, als hätte sie bereits Wochen zuvor ein Zugticket gekauft und nicht mehr weiter darüber nachgedacht, ob sie den Zug nun nehmen würde oder nicht. Sie würde zur selben Stelle gehen, an der sie sich getroffen hatten, sich auf dieselbe Bank setzen, auf der sie einen Moment zusammen verbracht hatten, würde in ihrem Kopf ihr Gespräch wiederholen, Ollis Sprüche, intelligent, verschmitzt, ein wenig boshaft. Sie ging hin, und Olli kam.
Der Moment, als sie sich an der Tür des geschlossenen Tennispalatsi trafen, hätte Katariina für den Rest ihres Lebens genügen können. Es ist ein Augenblick, mit dem sie sich immer und immer wieder selbst behandelt, den sie bei Bedarf stets hervorholt wie ein braunes Glasgefäß aus dem Apothekenregal, auf dessen weißem Etikett mit Tinte ein lateinischer Name geschrieben steht. Ein heilsamer Moment, als alles vollkommen war, als sie selbst mehr war. Würden Olli und sie sich trennen, so würde Katariina sich, zumindest in ihrer Vorstellung, mit dem Glasgefäß behandeln und die Trennung ertragen. Eines Tages würde sie jemand anderen kennenlernen, und immer wenn es schwierig werden würde, würde sie das Gefäß hervorholen. Manchmal wendet Katariina es gegen Olli selbst an, so als wäre der Olli jenes Karfreitags ein anderer Mann und es deshalb möglich, ihn als Serum zu benutzen. In diesem Moment vor dem Tennispalatsi war Katariina restlos glücklich. Als sie Olli einmal davon erzählt hat, antwortete er: »Von da an ging ja auch alles bergab.« Er sagte es in scherzhaftem Ton, durch den eine Frage hindurchschimmerte und Erwartung (Ist das so? Das stimmt doch nicht?).
Der heiße Kaffee dampft in Katariinas Hand und verbreitet die unsichtbaren Ranken seines Dufts wie eine merkwürdige, etwas hässliche Blume. Stille ist Zärtlichkeit. Mit der anderen Hand betastet Katariina die Blätter, auf denen der Text steht, den sie sprechen muss. Sie schaltet den DVD-Spieler ein, und auf dem Bildschirm erscheint tonlos der erste Teil der Dokumentation über das Wrack. Sie liest die Texte auf dem Papier wie beiläufig, über die Schulter hinweg, den Kopf geneigt, als wäre sie gerade am Weggehen. Wenn nur keiner merkt, dass sie genau hier sein will und wie sehr sie das will, wird sie es schaffen, sich diesen Moment zu stehlen. Je mehr man etwas will, desto stärker muss man so tun, als würde es gar nicht existieren oder als hätte es keine Bedeutung. Dann wollen es die anderen nicht für sich haben. Das gilt für die goldene Wachsmalkreide in der Farbenkiste des Kindergartens. Es gilt für den Jungen in der letzten Reihe im Vorlesungssaal, einen Amethyst, der im Versteck einer grauen Tweedhülse wartet und dessen durchdringende...
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