Schweitzer Fachinformationen
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4 «Tram nam - bald hundert Jahre ist Th?y alt.» Hi?n schob die Puppe vor sich, um sie den Kindern vorzustellen. «Sie kommt aus einem Land, das halb dem Meer gehört und halb der Erde. Es ist ein schönes Land. Es ist ein armes Land. Ein schönes armes Land.»
Ein tiefer Seufzer aus Hi?ns Brust schüttelte die Puppe. Hi?ns und Th?ys Blicke wanderten an den Gesichtern entlang und blieben am geschmückten Baum hängen, der schon für die Weihnachtsfeier in ein paar Tagen bereitstand.
«Bald ist Weihnachten, oder?», fragte Hi?n in das Publikum hinein. Die Kinder nickten eifrig: «Ja!»
Hi?n schaute nachdenklich. «Weihnachten bedeutet Frieden, oder?», fragte sie weiter.
Wieder nickten die Kinder.
«Das ist gut», sagte Hi?n, «Th?y freut sich über den Frieden, denn Th?y hat den Krieg gesehen. Der Krieg hat ihr Land zerschnitten, ihr Zuhause - ritsch, ratsch!»
Hi?n zog das Seidentuch in der Taille der Puppe straff nach zwei Seiten. Die Holzpuppe schwankte. «Der Süden kämpft gegen den Norden, der Norden gegen den Süden.»
Hi?n schüttelte sorgenvoll den Kopf und ließ Th?y erzittern.
«Die Leute im Süden denken, dass im Norden ein großes Gespenst den Menschen die Köpfe verdreht. Denn die Leute im Norden wollen auf einmal die Maschinen, an denen sie arbeiten, selbst besitzen, und den Acker, auf dem sie Gemüse und Reis anpflanzen, auch. Sie wollen die Maschinen und das Land nicht mehr den Reichen überlassen, die ihnen keine Freiheit geben und kein Recht. Die Leute im Süden aber denken, das war schon immer so und soll auch so bleiben, also müssen sie dieses Gespenst jagen und hetzen, bis ihm die Luft ausgeht.»
Um Th?ys Gurgel wurde es eng zwischen Hi?ns Händen. «Und die Leute im Norden finden, dass der Süden, der an Gespenster glaubt, selbst ein Hexenmeister ist, der die Reichen immer reicher macht und die Armen immer ärmer und mit diesem Hexen gar nicht mehr aufhören kann. Er wird noch die ganze Welt verhexen, wenn man ihn nicht verjagt, sagen sie. Also jagen sie ihn.»
Th?ys Arme schnellten nach vorn.
Die Kinder saßen mit geraden Rücken auf ihren Stühlen und lauschten Hi?ns Stimme. Sie waren für den Norden, keine Frage. Dies war ein Märchen, und sie kannten die Logik von Märchen sehr gut. Erst würde es schwer werden für den Norden, dann würde er siegen. Die Blicke der Lehrerinnen wanderten unauffällig an die gegenüberliegende Aulawand. Wie viel Kommunismus durfte in dieses Haus wieder einziehen, vorweihnachtlich und multikulturell? Der Direktor schaute angestrengt nach vorn zur Bühne. Sie muss die Kurve kriegen, dachte er, sie muss. Der Hausmeister war hinzugekommen. Im Blaumann stand er neben der großen Flügeltür, hörte zu und lächelte. Die Aufhängung hatte er zu verantworten und die Beleuchtung; nicht, was darunter geschah. Und das gefiel ihm gut.
«Ein mächtiger Herrscher mit vielen Soldaten half denen, die für die Reichen waren», fuhr Hi?n fort. «Sie wüteten schrecklich, aber der Norden war stärker, und sie vertrieben die Soldaten, die von weit her gekommen waren, mit Schiffen, Flugzeugen und Hubschraubern. Und dann wurde das Land wieder eins, und man lebte so, wie der Norden es gewollt hatte.»
Na also. Man sah den Kindern an, dass sie jetzt jubeln wollten, aber Th?y da vorne auf der Bühne sah gar nicht aus wie eine Siegerin, sondern wendete den Kopf in tiefer Sorge hin und her.
«Der Krieg war zu Ende», hob Hi?ns Stimme wieder an. «Doch das Land war wüst und leer. Keine Blume wagte zu blühen, die Bäume trugen keine Blätter mehr. Traurig waren die Menschen vom Krieg und noch immer voller Angst und arm, bitterarm .» Die Stimme brach.
Die Augen der Kinder hingen an der Puppe. Sie wussten nicht, wie es sein konnte, aber die Gestalt da oben schien dünner zu werden, hohlwangig. Ihre Gesichter wurden ernst und aufmerksam. Es war sehr still. Hi?n sprach weiter.
«Da machte sich eine junge Frau, zusammen mit vielen anderen Männern und Frauen, auf in ein fremdes Land. Ein Land, in dem die Bäume noch Laub trugen und die Fabriken heil waren. Die Menschen dort seien Freunde, hatte man ihnen gesagt, denn sie hatten ihnen sogar ein bisschen geholfen im Kampf gegen den Hexenmeister. Dort wollte die Frau Geld verdienen und das Geld nach Hause senden zu ihrer Familie, damit sie sich Reis kaufen konnten und Schuhe.» Jetzt flatterte der meergrüne Schal der Puppe im Wind der langen Reise.
«Tagein, tagaus steckte sie in einer großen Fabrik Röhrchen zusammen und schickte so viel wie möglich von ihrem Lohn nach Hause. Dann traf sie», jetzt flüsterte Hi?n und lächelte verschwörerisch, «ganz heimlich, einen Mann aus ihrer Heimat, der tagein, tagaus Kisten mit Schrauben stapelte. Wenn sie zusammen waren, vergaßen sie die Röhrchen und die Schraubenkisten und erzählten einander von den Booten auf den Flüssen daheim. Wie sie aussahen, wenn die Sonne unterging, und wie sie aussahen, wenn die Sonne aufging. Sie liebten sich sehr.» Hi?n umschlang die Puppe und drückte ihr einen kräftigen Kuss auf die Holzwange.
Die Kinder kicherten.
«Dann wurde ihr Bauch runder und runder, obwohl sie gar nicht viel aß», fuhr Hi?n fort.
Die Kinder nickten verständig. Dieses Phänomen war am Prenzlauer Berg weit verbreitet.
«Sie war schwanger.» Hi?n sagte es mit tonlos-trauriger Stimme.
Die Kinder lächelten unverdrossen. War doch toll. Kinder konnte es schließlich nicht genug geben. Doch die Puppe, die auf einmal einen grünseidenen Bauch trug, ließ traurig den Kopf hängen.
«Aber es gab für sie und ihren Mann und ihr Baby keinen Ort, an dem sie bleiben konnten. Sie durften in diesem Land arbeiten, aber ein Kind haben, das durften sie nicht», fuhr Hi?n fort. «Es gab noch nicht einmal ein Eckchen mit Stroh in einem Stall für die Nacht, in der das Kind geboren werden sollte. Sie hätten nur einen winzigen Stall gebraucht. Aber die kleinen Ställe waren abgeschafft worden. Es gab nur große, und die waren alle voll. , sagten sie. »
Wie von Zauberhand bauschte sich die grüne Seide vor Th?ys Bauch.
«Also flog sie in das Land zurück, das halb dem Meer gehört. Dort brachte sie ihr Kind zur Welt, legte es in die Arme ihrer Schwester und flog zurück, um weiter Röhrchen zusammenzustecken und Geld nach Hause zu schicken. Aber seitdem schmerzt es sie hier, an einem Punkt ganz nah unter ihrem Herzen.»
Th?ys linke Hand hob sich sacht, um die Stelle zu beschreiben. «Traurig ist sie auch. Vor allem an Weihnachten. Und immer wenn sie einen Stall sieht.»
Die Lehrerinnen waren überarbeitet, aber nicht begriffsstutzig. Sie hatten verstanden. Keine von ihnen hatte je eine Vertragsarbeiterin aus Vietnam mit Namen gekannt, aber sie alle wussten sofort, dass die Frau dort oben neben dem kleinen Minh eine war, eine gewesen war, besser gesagt, denn den Vertragspartner DDR gab es schon lange nicht mehr. War die Geschichte mit dem Kind wahr? Konnte doch nicht sein, oder? Es rumorte in ihren Köpfen. Sie wussten nicht, wohin mit ihrer Unruhe, und griffen wieder zur Kaffeetasse.
Hinter seinem angestrengt unbewegten Gesicht erinnerte sich der Direktor an die süße Kleine aus Vietnam, die ihm, in seinem ersten Studentensommer im Glühbirnen-Kombinat, die Glaskolben an den Arbeitstisch geliefert und ihn ins Träumen gebracht hatte. Von ihr unter Palmen, von ihm am Strand. Von ihm und ihr unter einer fernen Sonne. Eines Tages war sie einfach verschwunden gewesen. Er hatte nachgefragt. Sein Kollege an der Bank nebenan zuckte die Achseln, «Morgen soll 'ne Neue kommen», hatte er bloß gesagt. Aber der Vorarbeiter feixte. «Die hat wohl noch was anderes im Kopf gehabt als arbeiten», hatte er geantwortet und vielsagend die Hand über seinem Bauch gewölbt, der selbst so stattliche Ausmaße hatte, dass darüber nicht mehr viel zu wölben war. «Passiert immer wieder, aber diese hier will das Balg ja unbedingt behalten. Also: Ab nach Hause.»
Zwei Tage später kam tatsächlich eine neue Arbeiterin aus Vietnam, und der Werkstudent, der einmal Schuldirektor werden würde, hatte ihre Vorgängerin bald vergessen. Aber jetzt stand sie ihm plötzlich wieder ganz deutlich vor Augen. Und er fühlte dabei sogar die leichte Übelkeit, die in ihm aufgestiegen war, als die belegte Stimme des Vorarbeiters so schmierig gelacht hatte, damals.
Die Kinder waren mitten im Verarbeitungsmodus und versuchten, die Sache mit Th?y irgendwo zwischen dem Weihnachtsevangelium, der Kleinen Meerjungfrau und Kapitän Nemo einzuordnen. Hi?n schwieg. Sie schwieg so lange, bis ein Kind zu ihr hochrief: «Wo ist denn dieses Land, in dem sie jetzt immer so traurig ist?»
Hi?n...
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