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In seiner ersten Lebensbeschreibung, die er 1904 im Alter von 43 Jahren zu verfassen begann (er sollte kurz bevor er achtzigjährig starb eine weitere schreiben), war Tagore bemüht, in seiner Vorrede dazu klarzustellen, dass dies keine Autobiografie sei. Jibansmriti, ins Deutsche als »Meine Lebenserinnerungen« übersetzt, sei, sagt er, nicht seine Lebensgeschichte, sondern eine Sammlung von >Erinnerungsbildern<. Ihr Verfasser sei kein Historiker, vielmehr seien diese Bilder »das ursprüngliche Werk eines unsichtbaren Künstlers«, der Originalbilder auf die Leinwand von Tagores Erinnerung male. Der Historiker zeichnet nichts als die äußeren Ereignisse des Lebens auf, wohingegen dieser innere Künstler fast unmerklich ihre Details ändert. »Die mannigfachen, bunt verstreuten Lichter sind nicht Widerspiegelungen von außen, sondern gehören dem Maler selbst und kommen aus seinem Herzen, dessen Leidenschaft ihnen ihre Tiefe und Intensität gegeben hat.«2
In seiner Auswahl von emotional fesselnden, in literarische Anmut gekleideten Erinnerungen zeigt sich Tagore als einer der sehr wenigen Autobiografen, deren Memoiren höchst individuell sind und doch einen breiteren, universellen Anklang haben. Wie der irische Dichter W. B. Yeats, der Jibansmriti als ein »reichhaltiges und höchst wertvolles Werk« befand, hat auch Tagore die Kraft, allgemeine Wahrheiten zum Ausdruck zu bringen, denen intensive persönliche Erfahrungen zugrunde liegen. Bewusst oder unbewusst wird Tagore von seiner ästhetischen Muse dazu angespornt, die Erzählung seiner Erinnerungen in Literatur zu verwandeln. Im Unterschied zu den meisten Autobiografien von Männern und Frauen, die sich im öffentlichen oder intellektuellen Leben hervorgetan haben, verspricht die durch eine literarische Aufarbeitung der Erinnerungen geschaffene ästhetische Distanz, die den Eindruck schmerzhafter Emotionen ausdrückt und zugleich abmildert, dem Leser Einsichten in quälende Episoden seines eigenen Lebens und erlaubt ihm, ja ermuntert ihn dazu, sich seinen eigenen schmerzlichen Gefühlen zu stellen und sie in seine Lebensgeschichte zu integrieren.
Ich betrachte die einführenden Sätze von Jibansmriti als Einladung an einen psychologischen Biografen, darin eher nach emotionalen Wahrheiten als nach Tatsachen zu schürfen und so die tieferen Motivationen von Rabindranaths Leben und Werk ans Licht zu bringen, die in den >historischen< Biografien von ihm nicht vorhanden (und ja auch nicht möglich) sind. Ich möchte damit nicht implizieren, dass der Unterschied zwischen historischer und psychologischer Biografie unüberbrückbar ist. Es ist nicht so, dass ein psychologischer Biograf die äußeren Ereignisse seines Subjekts vernachlässigt. Indem sie keine umfassende Darstellung eines Lebens von der Geburt bis zum Tode anstrebt, wählt eine psychologische Biografie die >Ereignisse< aus, auf die sie sich konzentriert. Grundlegend glaubt der psychologische Biograf, dass die Ereignisse, die die prägenden Erfahrungen seines Subjekts umfassen, in den Zeiträumen von dessen Kindheit und früher Jugend liegen und dass die >psychologische Wahrheit< eines Menschen in erster Linie das Ergebnis seines frühen Beziehungsgeflechts ist.
Andererseits stellen auch historische Biografen psychologische Beobachtungen an und schreiben den Handlungen ihres Subjekts Motivationen zu, indem sie die Ereignisse im Leben eines Menschen herausstellen, Bezüge herstellen und Schlüsse ziehen, schon um ihrer Arbeit die erzählerische Kraft zu verleihen, die eine Biografie lesbar macht. In der Tat haben die größten Meister dieser Kunst entweder durch langes Eintauchen in das Leben und Werk ihres Subjekts oder mittels der psychologischen Intuition eines hervorragenden Romanciers überzeugende psychologische Porträts geschaffen.3
Allgemein jedoch tun sich Biografen ohne klinische Erfahrung und Kenntnis der Nuancen der Tiefenpsychologie und daher ungeübt in der Suche nach der Art von Information, die die verborgenen Gebiete im Leben eines Subjekts betrifft, oft schwer damit, ein überzeugendes psychologisches Porträt ihrer Subjekte vorzulegen. Das Subjekt einer historischen Biografie mag >groß< an dem, was er oder sie erreicht hat, herauskommen und dem Leser doch fern erscheinen als Mensch von Fleisch und Blut, dem das innere Leben fehlt, mit dem wir alle durch unsere eigene Subjektivität vertraut sind.
Die innere Biografie, an der ich mich hier versuche, darf nicht mit einer >Psychoanalyse Tagores< verwechselt werden, obgleich mir meine Versicherung, wie ich fürchte, wenig nützen wird, dieser abwertenden Bezeichnung zu entgehen. In einer klinischen Psychoanalyse erstellen der Analytiker und der Analysand gemeinsam die innere Geschichte des letzteren in gleichem Maß durch dessen Erzählung und durch den Analytiker, der >mit seinem dritten Ohr< auf die Intonation, die Lücken und Pausen im Redefluss achtet. Letztere Dimension fehlt notwendigerweise in den schriftlichen Materialien, die dem zur Verfügung stehen, der eine Biografie des inneren Lebens schreiben möchte. Autobiografische Schriften, Tagebücher und Briefe können niemals die Spontaneität der Rede in der klinischen Umgebung haben, da sie stets im Prozess der Niederschrift auf Papier oder, zunehmend, der Eingabe in einen Bildschirm, in unterschiedlichem Grad bearbeitet worden sind. Die Art der Information in der klinischen Situation, die zum Erstellen einer psychoanalytischen Biografie des Patienten führt - sein oder ihr Nachdenken über Personen und Ereignisse des täglichen Lebens, voll entwickelte Fantasien und Träume einschließlich der denkwürdigen und hoch eindrucksvollen >großen Träume< und der von ihnen geweckten Assoziationen, Erinnerungen an frühere Lebensperioden und deren Aufruf und Aufarbeitung im Lauf der Analyse - stehen jemandem, der die psychologische Biografie einer historischen Gestalt schreiben will, niemals in gleicher Reichhaltigkeit zur Verfügung.
Beim Entwurf einer groben Landkarte des inneren Terrains eines Subjekts, dem Erfassen von deren wesentlichen Charakeristika trotz Fehlens der aufschlussreichen Details, die im Lauf einer Analyse nur nach und nach zu Tage treten, sind die Ambitionen eines Psychobiografen notwendigerweise begrenzt. Was ich hier tun möchte ist, den Handlungsablauf von Rabindranaths innerem Leben in einer Weise zu entfalten, die die narrativen Eigenschaften von Stimmigkeit, Kohärenz und Verständlichkeit besitzt, wobei ich einräume, dass durch das Fehlen der Informationen, die in der klinischen Situation vorhanden sind, eine psychologische Biografie spekulativer wird - auch in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes, speculari, d. h. etwas Verborgenes erspähen.4 Ich möchte sogar behaupten, dass die Qualität einer Psychobiografie in enger Beziehung zu der Verfeinerung ihrer Spekulation steht. Als imaginative Rekonstruktion kann Spekulation verborgene Wahrheiten erspähen und verdient somit einen Ehrenplatz sogar in der historischen Biografie, die eine kluge Beurteilung der Tatsachen als ihr Ideal betont.
Andererseits hat der Psychobiograf, im Gegensatz zum Analytiker, der seinem Patienten für einen gewissen Zeitraum auf einer gewissen Stufe von dessen Leben begegnet, einen Überblick über das gesamte Leben, das Wissen, >wie alles ausging<. Seine Aufgabe wird zudem erleichtert, wenn es sich um schöpferische Künstler wie Rabindranath handelt, die ihr inneres Leben in ihr Werk ausgegossen haben. Der Psychobiograf kann auch einen kleinen Vorteil gegenüber dem Analytiker haben, insofern als seine Information über sein Subjekt, wenngleich von geringerer Ordnung, nicht auf das Subjekt selbst beschränkt bleibt, sondern auch aus anderen Quellen stammt - von Familienmitgliedern, Freunden, Zeitgenossen -, die in der Abgeschlossenheit des Sprechzimmers nicht vorhanden sind. Diese Information über das >soziale Selbst< des Gegenstands darf nicht leichthin abgetan werden, da eine beständige Erkenntnis der psychologischen Forschung besagt, dass Menschen ziemlich genaue Wahrnehmungen anderer, aber verzerrte Selbstwahrnehmungen haben.
Es gibt jedoch Elemente der klinischen Psychoanalyse, die der Verfasser einer inneren Biografie meiner Meinung nach mit dem Analytiker teilt, Elemente, die sich unter der Rubrik >psychoanalytische Sensibilität< zusammenfassen lassen. Da es kein einheitliches Herangehen an das Schreiben einer inneren Biografie gibt und Psychobiografen verschiedene Aspekte psychoanalytischer Einfühlsamkeit5 betonen, möchte ich Elemente dieser Einfühlsamkeit aufführen, die meine eigene Erkundung von Rabindranaths innerem Leben bestimmt haben.
Meiner Ansicht nach bildet die Empathie des Biografen, die Offenheit gegenüber und die Teilnahme an den in den Schriften seines Subjekts vorhandenen Emotionen, sozusagen ein Lesen mit dem dritten Auge als Äquivalent zu des Analytikers Hören mit dem dritten Ohr, die ureigenste Grundlage einer psychologischen Biografie. Empathie, ein >Sich-Hinein-fühlen< in das Subjekt durch das Medium seiner Schriften, das Teilen innerer Erfahrung durch eine unbewusste Einstimmung auf sie, sind eine anspruchsvolle Aufgabe. Sie erfordert, dass unser normaler nicht-empathischer Zustand, ein Zustand der Selbsterfahrung mit Gedanken, die gewöhnlich selbstbezogen sind, sich in einen Zustand wandelt, in dem wir die Grenzen des Selbst transzendieren können, um die bewussten und unbewussten...
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