Rigel Express (2014-2015)
Rückblende - Die Karten und der Tod
Hospitäler in Hong Kong
Deutschland und seine Gesundheit
Endlich wieder ein Boot!
Golfküste
Weihnacht auf See
Reedefestspiele vor Southampton
Lang ersehnter Besuch der Mädchen
Houston Baumarkt
Endspurt Atlantik
Rückblende
Letztes Jahrhundert, Anfang der Achtziger in Rostock. Ich saß mit meiner späteren Frau in einer kleinen Kneipe im Komponistenviertel, es war Abend. Ich heimschlafender Student, sie anhaltinische Lehrmeisterin.
Die runtergekommene, abgewirtschaftete Kneipe, bar jeglichen Flairs, machte Anstalten, bald zu schließen, es ging wohl auf 2300 Uhr. Wir hatten eine Flasche Rotwein getrunken und etwas gegessen. Mit einer älteren Frau, die am Nebentisch alleine vor ihrem Glas saß und vor sich hin paffte, waren wir schließlich die letzten Gäste. Dezent wurden wir auf den Ausschankschluss hingewiesen, die Bedienung begann bereits, Stühle und Tische zu ordnen und zurechtzurücken. Das war's also für diesen Abend. Am Kleiderständer sprach uns die ältere Frau glasigen Blicks und leichten feinmotorischen Störungen ihrer Koordinierung an. Bei genauem Hinsehen konnte man ahnen, dass sie sicherlich mal eine gewisse Schönheit gewesen war. Vielleicht vor sehr vielen Jahren, so ungefähr. Ihr altes Make-up hatte Mühe, die vielen Falten halbwegs zu kaschieren, sie hatte bereits gut 'zugeladen', ihre private maximale Tiefgangsmarke würde alsbald erreicht werden. Sie lud uns zu sich nach Hause ein. Jetzt, spät am Abend. Wir gingen mit, denn Studenten waren lange Nächte gewohnt und alte Menschen sicherlich ebenso. Bei ihr schien der Grund für diese spontane Einladung einfach die Suche nach Gesellschaft gewesen zu sein, offenbar suchte sie menschliche Nähe. Um uns zu überreden, reichte es völlig aus, einen guten Schlummertrunk in Aussicht zu stellen. Das Argument zog bei durstigen Studenten sowieso immer. Außerdem wohnte sie gleich um die Ecke und das war fast schon auf unserem Nachhauseweg.
In der reichlich möhligen und unaufgeräumten Altbauwohnung kramte sie tatsächlich noch eine Flasche billigen Fusel hervor. Es rochauffallend unangenehm nach Katze. Das war ihr roter Stubentiger "Kokoschka". Wir saßen im Wohnzimmer, das ebenfalls schon bessere Zeiten gesehen hatte. Abgewohnte Möbel, überall unordentlich herumliegende Sachen, die dort nicht hingehörten. Unsere Gastgeberin war einst ein Filmsternchen gewesen - vor langer, langer Zeit. Sogar der Name Heesters fiel in diesem Zusammenhang, mit dem sie wohl mal vor der Kamera gestanden war.
Ein Wort gab das andere, wir plauderten, hörten eigentlich gar nicht richtig zu, was sie brabbelte, es ging stramm auf Mitternacht. Die Frau war nun mehr oder weniger reif für die Kiste, geschafft vom Alkohol. Vielleicht auch nur, um uns vom Gehen abzuhalten, ließ sie uns mit schwerer Zunge wissen, dass sie wahrsagen könne, also Kartenlegen und so'n Zeug. Ob wir nicht die Karten gelegt haben wollten? Nun, warum nicht, Mütterchen? Das konnten wir noch mitnehmen, den Spaß ließen wir uns nicht nehmen. Auch wir bereits leicht dumm in der Birne. Einen Schnaps später breitete sie die Karten vor sich aus und stellte gemurmelte Fragen, manchmal hatten wir den Eindruck, dass sie einzuschlafen begänne. Ein leichter Stups an die Hand und sie kam zurück zur Séance.
Strähnen ihres dichten, schwarzen Haars, gewiss eine Perücke, fielen wirr ins Gesicht. Makeup, das verschwitzt verlaufen war, ein roter Mund, dem die Fülle fehlte, Lippenstiftreste auf faltigen, verschrumpelten Lippen. Fehlte nur noch eine prominente Warze auf der Nase und ein Buckel, die Katze war passenderweise schon vorhanden . So behielt ich sie in Erinnerung. Nee, Warze und Buckel gab es nur in meiner Fantasie, beides hatte sie nicht. Aber sie weissagte mir. Und zwar viel Geld, und dass ich mit achtundvierzig sterben würde. Schluck! Verhaltend grinsend und natürlich total ungläubig wies ich diese Behauptung zurück. Sie bestand darauf, ihr unsteter Blick schwenkte hoch zu mir, nein, ihr gegenüber sähe sie gerade einen toten Mann. Sie fokussierte mich, schüttelte den Kopf und starrte wieder auf die Karten vor ihr. Murmelte noch was von "viel zu früh ." Etwas gelallt schob sie trotzig hinterher, dass die Karten doch die Wahrheit sagten.
Wir verabschiedeten uns und machten uns auf den Heimweg. Niemals wieder daran zurückdenkend, denn das war ja völlig von der Rolle, was die Olle da mehr gestammelt als gesagt hatte. Verdrängt und vergessen. Bis zum Jahr 2013 .
Denn sie irrte sich! Gleich zweimal. Mit dem Geld, das hatte ich in der ganzen vergangenen Zeit nicht mal ansatzweise hingekriegt, das also war schon mal eine fette Fehlinformation. Bei der zweiten Weissagung allerdings hatte ihr mathematisches inneres Gesicht die Lage nicht richtig gepeilt - oder ihre Scheißkarten hatten einfach nur gelogen und sich verrechnet! Denn ich lebte doch noch genau zehn Jahre länger! Mit achtundfünfzig Jahren, nur Tage vor diesem Geburtstag, starb ich.
Meine Zeit hernieden war abgelaufen. Plötzlich und unerwartet, ich hatte gerade meinen ersten Einsatz auf der "Denebola Express" im Januar 2013 angetreten. Keine drei Wochen nach meinem Aufsteigen in Vancouver war der Riemen runter von der Lebensspule des Kaftains Blaubeer. Löffelzeit! Zur Abgabe bitte vorzutreten!
Mit einer versteckten Lungenentzündung, die sich wohl über einige Wochen, wenn nicht gar Monate zu einer nun sehr ungesunden Lungenembolie entwickelte, kroch ich mehr, als dass ich selbst aufrecht ging, Ende Februar in ein Krankenhaus in Hong Kong. Ich konnte nicht mehr weiter. Eine nie zuvor erlebte fürchterliche Todesangst gepaart mit einer zum Himmel schreienden Hilflosigkeit trieben mich um. Sterbenselend, noch voller Hoffnung auf eine Heilung, lieferte ich mich den Händen chinesischer Ärzte aus. Es war mir ziemlich egal, wer, es war mir egal, wo. Und wenn's der Teufel selbst gewesen wäre, wenn er mir nur half! Ich hätte es ihm sofort erlaubt .
Die Reederei reagierte professionell, prompt und außerordentlich hilfreich. Sie kümmerte sich um alles Weitere, währenddessen ich mit Psychopharmaka vollgestopft und sediert vor mich hindämmerte und erst nach gut anderthalb Monaten wieder langsam ins Leben zurückkroch. Hein mit der Hippe, dem Mann mit dem Langmesser - ich begegnete ihm im März. Anfang April war ich ihm endlich von der Schippe gesprungen, und hatte bis dato noch keine Ahnung, was man mit mir angestellt hatte und was gewesen war. Im Laufe der nächsten Wochen lernte ich nicht nur Genaueres über meinen Zustand, meine Aussichten, über das Gewesene wie auch das nun bedrohlich Kommende, sondern musste auch zur Kenntnis nehmen, dass es wohl oder übel mit der Seefahrt endgültig vorbei war. Die Lungenembolie hatte einen Teil der Lunge auf Dauer geschädigt. Und als wenn das noch nicht ausreichend gewesen wäre, hatte mein olles Herz auch noch eine Klappe hingeschmissen und eigentlich den Sack richtig zumachen wollen. Dem kamen kluge Ärzte aus Hong Kong allerdings geradewegs zuvor und fummelten schnell eine kleine schweinische Klappe stattdessen in mein Herz hinein. Dann hieß es: Warten. Und weiter glauben . Langsam keimte eine winzig kleine Hoffnung, langsam erstarkend, Mut machend aber langsam . schneckenlangsam.
Meine Frau kam zweimal für etliche Tage mich besuchen, das erste Mal sah sie mich, gemeinsam mit meinem Cousin und einem guten Freund der Familie und ehemaligen Kollegen in einem Isolierraum hinter einem hermetischen Plastikzelt liegen. Sie standen völlig hilflos vor dem Sauerstoffzelt, ich lag genauso hilflos darin. Man beatmete und ernährte mich künstlich, außerdem war ich seit langem nicht mehr bewusst in dieser Welt. Akutes Nierenversagen, eine Pilzinfektion und andere erschwerende Begleitumstände versuchten, nach Aktenlage sogar mehrfach, mich am erfolgreichen Heilungsprozess zu behindern. Die Peilung im Leben, die mir sonst immer so wichtig war, sie war komplett abhandengekommen, wie die Gegenwart - und offenbar auch alle Lebensgeister. Die Hoffnung der Ärzte für eine vollständige Rekonvaleszenz lag bei zwanzig Prozent, mit einer starken Tendenz gegen null. Mit diesem Bescheid schickte man meine Besuchstruppe wieder nach Hause. Kein Grund zur Freude, kein Grund für ein Aufatmen. Es flog eine tiefe Furcht und Angst um mich mit nach Hause, begleitet von der Sorge um das Werden und der Erinnerung an den Anblick eines kümmerlichen Blaubeers, der hilflos in seiner Koje lag, die Extremitäten fixiert, angebunden wie ein Tier. Zum Schutz natürlich, aber immerhin doch schon echt gefesselt .
Ich wäre nicht der Blaubeer gewesen, wenn's nicht doch noch eine erstaunliche Wendung gegeben hätte. Da war noch Energie in mir, die sich nicht kleinkriegen lassen wollte. Ich wollte unter Anstrengung der letzten Reserven leben, koste es, was es wolle. Verdammt noch mal, noch bestimmte ich, wenn's zu Ende ging! Niemand anderes als ich! Basta!
Dem späteren zweiten Besuch meiner Frau ging dann in der Tat ein wundersames Geschehen voraus. Mein Zustand begann sich langsam zu stabilisieren, es ging bergauf. Dem ging eine Verlegung in eine andere Klinik voraus. Nun in einem privat geführten Haus, in der die Bedingungen zum Überleben und die Fürsorge tatsächlich besser waren als in den beiden kommunalen Hospitälern zuvor.
Sehr wichtig für diese überaus zu begrüßende, höchst erfreuliche Entwicklung waren mir jetzt liebgewordene Menschen, die sich sorgten, mich umsorgten, mir eine extrem wichtige Stütze wurden....