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1953-1972
"Ein Foto, unscharf, verschwommen. Wann immer ich an meine früheste Kindheit zurückdenke, sehe ich dieses Bild vor mir, schwarz-weiß, kleinformatig und quadratisch, an den Rändern gezackt: In einem Wohnzimmer schießt ein kleiner Junge, vielleicht ein Jahr alt, einen weißen Plastikball gegen die Wand.
Ich habe es nicht mehr, dieses Foto, ja, ich weiß nicht einmal sicher, ob es je existiert hat. So glaube ich mich also nur zu erinnern, dass meine Mutter mich geknipst hat, damals, Mitte der 1950er Jahre, mit einem Ball am linken Fuß in unserer Wohnung im Aschaffenburger Ortsteil Nilkheim, dort, wo ich am 26. Juli 1953 als Wolfgang Felix Magath geboren wurde."
Gut acht Jahre zuvor hatte der Zweite Weltkrieg geendet. Zwar war das Deutschland der frühen 50er ein anderes Land als das nationalsozialistische Deutsche Reich, doch auch die Bundesrepublik litt unter der unheilvollen Vergangenheit - auch und vor allem im Sport. Bei den Olympischen Spielen 1948 in London blieb die junge Nation ebenso draußen vor der Tür wie bei der Fußball-Weltmeisterschaft 1950 in Brasilien. Der Elf des Ausrichters hätte im letzten Spiel der Finalrunde gegen den südamerikanischen Rivalen Uruguay ein Unentschieden genügt, um sich erstmals zum Weltmeister zu küren, doch die ganz in Weiß angetretenen Brasilianer unterlagen vor mehr als 200.000 Zuschauern im Stadion Maracana von Rio de Janeiro trotz einer 1:0-Führung mit 1:2. Nie mehr danach lief die Selecao in weißer Spielkleidung auf.
Bei den Sommerspielen 1952 in Helsinki hatte die ausschließlich aus Sportlern der Bundesrepublik gebildete deutsche Olympiamannschaft - die Führung der DDR hatte sich gegen den vom Internationalen Olympischen Komitee geforderten Auftritt als Gesamtdeutschland gesperrt - immerhin 24 Medaillen, doch keine einzige aus Gold errungen. Im Medaillenspiegel bedeuteten 7 Silber- und 17 Bronzemedaillen Rang 28, unmittelbar hinter - Luxemburg.
Felix Magath war elf Monate und acht Tage alt, als sich dies alles mit einem Schlag änderte - nein, mit einem Tor.
Geschätzte 50 Millionen Deutsche saßen am 4. Juli 1954 vor den Radios und den wenigen Fernsehern im Land, um das Endspiel der Weltmeisterschaft in der Schweiz mitzuerleben, und hörten in der 84. Minute des Finales gegen die zuvor rund vier Jahre lang ungeschlagene ungarische Wunderelf, wie "Rahn aus dem Hintergrund" schießen müsste, "Rahn schießt - Tor! Tor! Tor! Tor!" Die legendären Jubelschreie des Reporters Herbert Zimmermann klangen wie eine Befreiung. Das "Wunder von Bern" half den Deutschen dabei, ein neues, gesundes Selbstwertgefühl zu entwickeln, und es veränderte das Denken der Menschen - auch in den Ländern, deren Männer noch ein Jahrzehnt zuvor auf der anderen Seite gekämpft hatten. Ein Land im Aufbruch. "Seien wir ehrlich", sagte Weltmeistertrainer Sepp Herberger später einmal, "bis dahin nahm kaum einer ein Stück Brot von uns. Nun waren wir wenigstens im Fußball wieder wer, und dies wirkte über den Sport hinaus."
"Zum Zeitpunkt dieses nie erwarteten Erfolgs lebte ich mit meiner Mutter Helene in Nilkheim. Wie viele unserer Nachbarn war auch sie gegen Ende des Krieges von der schnell gen Westen vorrückenden russischen Armee aus Ostpreußen vertrieben worden und schließlich in der weitläufigen Siedlung des Aschaffenburger Vororts gelandet. Hier, im Ulmenweg, stand - und steht - das schmucklose Eckhaus, in dessen Erdgeschoss zwei Parteien wohnten: Links Familie Kreuz, Vater, Mutter und drei Kinder, rechts meine Mutter und ich, dazu meine Großmutter und ab 1955 mein als einer der letzten deutschen Soldaten aus russischer Kriegsgefangenschaft entlassener Onkel Max. Wenig später gesellten sich Max' neue Partnerin mit ihren zwei kleinen Kindern hinzu und noch einmal kurz darauf ein gemeinsames drittes Kind. Wenn ich richtig rechne, teilten sich meine Mutter und ich die 60 Quadratmeter gegen Ende der 50er Jahre also mit drei Erwachsenen und drei Kindern."
Gegenüber der Wohnung im Ulmenweg lag der Fußballplatz des 1949 gegründeten VfR Nilkheim, ein paar Meter weiter das Wirtshaus "Brezel", dahinter nur grüne Wiesen, kahle Felder und Hunderte von Obstbäumen.
"Meine Mutter arbeitete zunächst als Verkäuferin bei der US Army, später als Angestellte der American-Express-Bank in Aschaffenburg, wo sie sich Anfang der 1950er Jahre in einen Militärpolizisten namens Felix verliebte; im Juli 1953 erblickte ich das Licht der Welt. Mein Vater, ein 24-jähriger Mann aus Puerto Rico mit spanischen Urgroßeltern, am ganzen Körper tief gebräunt, leistete seinen Militärdienst wie mehr als 10.000 anderer Besatzungssoldaten in Aschaffenburg ab und wohnte in einer Kaserne zwischen der Würzburger und der Schweinheimer Straße. Seine Zeit in Deutschland endete im Winter 1954, und auf die Frage, ob ihm meine Mutter mit mir, dem gemeinsamen Sohn, in seine karibische Heimat folgen wolle, sagte sie 'nein'. Als mutige, selbstbewusste Frau führte sie ihr eigenständiges Leben, und natürlich wollte sie auch meine Großmutter nicht allein in Nilkheim zurücklassen.
Mein Vater verließ Deutschland mit einer Kuckucksuhr im Koffer. Er schätzte unser Land, das Respektvolle, Verbindliche. Noch später erinnerte er sich gern daran, dass 'hier alle Menschen so freundlich sind und die Männer beim Grüßen den Hut ziehen'. Kindheitserinnerungen an ihn habe ich keine. Ich war 14, als ich mir von meiner Mutter seine Adresse geben ließ und mich dazu durchrang, ihm einen Brief zu schreiben, obwohl ich Schreiben hasse - in der Schule haben mich die Aufsätze gekillt. Mein Vater antwortete prompt, und schon kurz darauf besuchte er uns in Aschaffenburg, wohnte jedoch nicht bei uns, sondern in einem Hotel. Auch an diese Tage mit ihm kann ich mich kaum erinnern; ich weiß nur noch, dass sich meine Mutter, die so gut wie nie Alkohol trank, vor lauter Nervosität ein, zwei Gläser Federweißer einschenkte, als er vom Aschaffenburger Bahnhof aus anrief. Nach einer Woche brach er wieder auf und lud mich ein, seine Heimat kennenzulernen. So habe ich ihn im Jahr darauf erstmals zu Hause auf Saint Croix, der größten der amerikanischen Jungferninseln, besucht; allein, ohne meine Mutter, weil er dort längst mit einer anderen Frau namens Helen lebte.
Ich flog also nach Puerto Rico, fuhr dann vom Flughafen zum Hafen und von dort ging's mit dem Wasserflugzeug nach Saint Croix. Mein Vater arbeitete bei der Finanzverwaltung, er spielte sehr gut und gerne Gitarre und sang dabei mit. Mit Fußball hatte er nichts am Hut. Keine Ahnung also, wem ich mein Talent zu verdanken habe. Dass das Umfeld, in dem du aufwächst, offenbar häufig eine größere Rolle spielt als die Vererbung, sehe ich nun auch an meinem eigenen Sohn Leonard - der kann richtig gut schreiben .
1977 reiste ich nach der Bundesliga-Saison mit der Nationalmannschaft zu vier Spielen nach Südamerika. Nach dem vierten und letzten Spiel gegen Mexiko in Mexiko-Stadt flog ich erstmals in meiner Zeit als Fußballprofi zu meinem Vater; von da an besuchte ich ihn jedes Jahr in der Sommerpause und manchmal auch im Winter. Ich wohnte immer direkt bei ihm, erst auf Saint Croix, später in einem Haus in der Hauptstadt San Juan, danach in einem schönen Haus mit Pool und einer kleinen Mangofarm in Coamo, seinem Geburtsort im Süden Puerto Ricos. Von einem meiner Urlaube gibt es ein Foto mit vier oder fünf anderen Männern und Frauen, auf dem ich mit meinen 1,72 Metern alle anderen überrage - eine echte Rarität. Vermutlich habe ich den Brasilianer Josué 2007 in Wolfsburg auch deshalb verpflichtet, damit ich auf dem Trainingsplatz endlich einmal nicht der Kleinste bin.
Unsere Treffen in der Weihnachtszeit empfand ich stets als etwas seltsam, vor allem wegen der Musik. Es ist nun mal nicht meine Sache, bei hochsommerlichen Temperaturen um die 30 Grad, am Strand zu liegen und Jingle Bells zu hören oder zur Musik des großen einheimischen Helden José Feliciano zu tanzen. Ich sprach zunächst nur wenig Englisch, mein Vater kein Deutsch, und so hat es lange gedauert, bis zwischen uns so etwas wie Nähe entstand.
Ich habe zwei Halbschwestern. Cecy, die ältere der beiden, lebt in New York, die jüngere, Mary, nach wie vor auf Puerto Rico. Wir haben uns viele Jahre regelmäßig gesehen - immer, wenn ich meinen Vater besuchte, flog ich von München aus zuerst nach New York, oder wir versammelten uns alle bei ihm auf Puerto Rico. Der Tod meines Vaters im März 2012 traf mich sehr. Es war mir eine Herzensangelegenheit, auf meinen Erbteil zu verzichten und meinen Halbschwestern sein Haus zu überlassen. Mittlerweile ist der Kontakt zu ihnen etwas eingeschlafen, sicher auch deshalb, weil ich meinen Urlaub seither nicht mehr in der Karibik verbracht habe.
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