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Es dämmerte; konnte kaum später als vier Uhr Früh sein. Für einen Moment dachte er, es könnte doch später sein, ein trüber, verhangener Tag, aber der Wetterbericht hatte keine Veränderung der seit Wochen anhaltenden Hochdrucklage vorhergesagt. In dem Dämmerlicht, das in seinem Zimmer herrschte, war ein Flackern, war ungreifbare Bewegung, weil die Blätter der Linde, die bis ans Fenster reichten, sich rührten; es ging ein leichter Wind - vielleicht also doch ein Wetterumschwung, der sich schließlich auch zu so früher Stunde ankündigen konnte? Diese Eindrücke schoben sich schemenhaft durch seinen Kopf, als kämen sie von weither und hätten nichts mit ihm zu tun. Und auch, dass er die Nachtkästchenlade aufzog und hineingriff, war wie losgelöst von ihm. Er drehte nicht einmal den Kopf, sah nicht einmal hin. Das Metall war nur wenig kalt. Angenehm, beruhigend fühlte es sich an, auch als es gegen seine Schläfe drückte. Er hielt die Luft an, spannte den Finger an und betätigte den Abzug.
»Klack«, machte es. Ein leeres, langweiliges Geräusch, und er stieß die angehaltene Luft wieder aus. Wie war das möglich? Seit Jahr und Tag immer nur dieses Geräusch. Es war im Grunde unmöglich, so unmöglich, als falle bei einem Würfel, wie oft man ihn auch warf, niemals die Sechs, oder niemals die Eins, niemals eine bestimmte Augenzahl, niemals die, auf die man wartete. Er seufzte, nahm den Revolver von seiner Schläfe, drehte die Trommel ein paarmal und legte die Waffe in die Lade zurück, ohne sie zuzuschieben.
Es war Ende Juli, endlich trocken, endlich heiß nach dem verregneten, kühlen Frühjahr; er könnte aufstehen, es gab Arbeit genug, und er war auch nicht mehr müde, obwohl er erst nach Mitternacht ins Bett gegangen war, aber er wollte nicht. Das Geräusch ging ihm nach, dieses leere, langweilige Geräusch, das ihn sein halbes Leben schon begleitete, ja das das Geräusch seines Lebens geworden war. Mit elf oder zwölf hatte er in einer alten Tasche unter dem Dach den Revolver gefunden, der dem Großvater gehört haben musste und in dem eine einzige Patrone gesteckt war. Vom ersten rascheren Herzschlag an schien sie ihm für ihn, für niemanden als ihn bestimmt zu sein. Alle paar Wochen, höchstens Monate wieder dieses leere, langweilige, zermürbende Geräusch: Klack . Dass ihn jemand ertappen könnte, befürchtete er nicht; seit er das obere Zimmer, das früher dasjenige seines Bruders gewesen war, bezogen hatte, betrat niemand es mehr. Und selbst wenn ihn je einer dabei erwischt hätte: Es hätte ihn nicht gekümmert, es wäre fast nicht wahr gewesen, fast nicht wirklich, weder für ihn noch für den anderen.
Als seien bis zu diesem Zeitpunkt seine Ohren vom Schlaf verschlossen, zugestöpselt, versiegelt gewesen, drang erst jetzt das Dröhnen von der Autobahn an ihn heran, und er hörte, wie die Zweige der Linde an der Scheibe rieben, ein Schaben, von Zeit zu Zeit ein Quietschen, und von unten das Schnarchen der Hündin. Alles Gewöhnliche nahm er erst jetzt wahr, davor war es ihm nicht eigens aufgefallen, weil einem das Gewohnte, täglich Gleiche kaum je einmal auffällt und weil jene Empfindung, die ihn in die Schublade hatte greifen lassen, die Verbindung zur Welt unterbrochen hatte. Etwas hatte sie wieder hergestellt. Nicht das leere Klacken; und auch nicht, dass die Empfindung gewichen wäre. Es hatte sich in das Gewohnte etwas gemischt, das er nicht zuordnen konnte; ein Geräusch, als kratze etwas über Stein, und als es abbrach, hatte er immer noch keine Vorstellung davon, was es sein konnte, stellte lediglich fest, dass nun auch die Schnarchlaute aufgehört hatten. Er richtete sich auf und warf die Decke zurück. Warum war sie aufgewacht? Machte der Vater den Platz sauber? In dem Moment ging die Haustür auf, und tatsächlich war die Stimme des Vaters zu vernehmen, bevor sie wieder verstummte. Jakob lauschte; da hörte er Landas Klauen auf den Fliesen des Vorhauses.
»Scheiße«, sagte er.
Er sprang auf, lief durch das Zimmer, riss die Tür auf und stürzte die Treppe hinab und lief durch den Flur ins Vorhaus.
»Nau«, sagte der Vater, der dort, das Handy in der Hand, herumstand. »Nau, Jakob!«
Jakob fasste nach der neben der Tür hängenden Leine und rannte hinaus. Fast stolperte er über den Mistschaber, der auf dem Boden lag; daneben ein kleiner Haufen Erde.
»He«, rief der Vater ihm hinterher. »Zieh dir doch erst mal was an!«
Instinktiv schlug Jakob die Richtung zum Bach ein, und tatsächlich entdeckte er Landa bald; sie stand auf der Wiese und krümmte sich. Er wurde langsamer. Vielleicht war sie ja doch nur deshalb rausgelaufen und würde gleich zurückkommen.
»Landa«, rief er, außer Atem, obwohl er nur ein kurzes Stück gerannt war, »Landa, komm!«
Die Hündin richtete sich auf und blickte zu ihm hin, ganz kurz, dann duckte sie sich weg, als geriete sie schon so aus Jakobs Blickfeld, als würde sie dadurch unsichtbar, und trabte in die entgegengesetzte Richtung davon. Jakob schlang sich die Leine um die Hüfte und verknotete sie vor dem Bauch. In einer Mischung aus Laufen und Schleichen folgte er der Hündin; er sah, wie sie unter der Autobahnbrücke durch- und an den Fischteichen vorbeilief, die Jakob auf der entwässerten Wiese angelegt hatte, welche früher, als das Drainagesystem noch funktioniert hatte, die Kuhweide gewesen war; die Teiche hatte er an Städter verpachtet, nicht ohne zuvor selbst versucht zu haben, Fische darin zu halten, was ihm nicht gelungen war.
Bevor sie zwischen den Erlen mit ihren wächsern glänzenden, an der Spitze eingebuchteten Blättern verschwand, blieb sie an einem der Teiche stehen, den Kopf nach vorn gereckt, die Lefzen leicht hochgezogen und eine Pfote angehoben, wie ein Vorstehhund, als hätte sie Wild gewittert. Die Morgensonne schien auf ihr Fell und ließ es glänzen. Jakob musste sich zurückhalten, um sie nicht zu rufen; aber anstatt weiterzugehen, blieb er selbst stehen und wartete, bis sie sich unversehens und diesmal, ohne sich wegzuducken, wieder in Bewegung setzte. Er war sicher, dass sie ihn nicht mehr in ihrer Nähe spürte, ihn nicht mehr wahrnahm; sie hatte sich nicht mehr umgedreht. Jetzt war sie weg; die fast mannshohen, seit Jahren nicht mehr gemähten Brennnesseln, zwischen denen sie hindurchgelaufen war, wogten noch. Jakob wusste, dass sie am liebsten bachaufwärts streifte, und er lief weiter, überwand mit einem, nein, au!, zwei beherzten Sätzen den Brennnesselgürtel und folgte dem Bachlauf entlang dem Wildwechsel gegen die Fließrichtung, obwohl von dem Hund nichts mehr zu sehen war. Die zwischen den unter dem dichten Blätterdach der Uferbäume nur vereinzelt wachsenden Gräser und Blumen schwarze, das ganze Jahr über feuchte und kühle Erde war angenehm weich unter seinen bloßen Fußsohlen. Als er an die Stelle kam, an der das Ufer unwegsam wurde durch eine umgestürzte Esche, musste er ins Bachbett ausweichen. Aber es war nicht nur diese eine Esche; allenthalben hingen sie grau, schuppig, krank über den Bach; so viele, dass keiner mehr mit dem Entfernen hinterherkam; durch das Eschentriebsterben, einer noch jungen, durch einen eingeschleppten ostasiatischen Pilz ausgelösten Krankheit, knickten die Stämme wie Zündhölzer in der Mitte ab oder fielen einfach um; manch einer verfing sich dabei in der Krone eines anderen und war so noch schwerer aufzuarbeiten. Seit es das Eschentriebsterben gab, häuften sich die Forstunfälle im Winter in einer auffälligen Weise. Fast schon regelmäßig wurde jemand von einer solchen Esche erschlagen, erst im frühen Frühjahr hatte es wieder einen erwischt, der ein paar Stunden später im Krankenhaus gestorben war. Und immer dann sagte die Mutter, Jakob solle nicht mehr ins Holz gehen, er habe doch keine Ausbildung, als hätte sonst jemand eine.
Sobald Jakob in das eiskalte, klare,...
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