Schweitzer Fachinformationen
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Wie nach Landregen oder Sturm sah der Himmel aus; er war hoch und weit und von einem einheitlich frischen, hellen Blau. Scharf gezeichnet standen die Berge im ausladenden Halbkreis am Horizont, und im dicht bewaldeten Vorgebirge konnte man die Wipfel einzelner dürrer Fichten ausmachen. Nur im Osten zog sich ein Wolkenband durch das Blau, an den Rändern geriffelt wie das helle Innere einer Muschel, so dass man's am liebsten hätte berühren und herausfinden wollen, ob es sich auch so weich und geheimnisvoll anfühlte. Noch durch die Gläser der Sonnenbrille schien dieses Band einen intensiven Ton zwischen Orangefarben und Rosarot zu haben, den der Himmel in den Abendstunden dieser ungewöhnlich warmen Herbsttage jeweils annahm, allerdings nicht im Osten, sondern im Westen.
Alle paar Minuten fuhr zwischen anderen Fahrzeugen - Autos, Motorrädern, Mopeds und anhängerziehenden Traktoren - ein tiefroter Lastwagen vorbei, und es war, als erregten nur diese LKWs ihre Aufmerksamkeit, zumindest nahm sie nur ihretwegen den Blick vom Himmelsgewölbe, sah ihnen hinterher, wie sie randvoll mit lehmiger, rostfarbener Erde beladen nordwärts, Richtung Ebene, davonbrausten, um leer wiederzukehren und weiter vorne, am Kreisverkehr, der außerhalb ihres Sichtfelds lag, zu verschwinden. Sie wusste nicht, weshalb sie ausgerechnet ihnen hinterherschaute, und bemerkte lange Zeit nicht einmal oder nur halb, dass sie's überhaupt tat.
Allmählich verlor sich das Licht, als wanderte es zurück in die Dinge oder den Himmel oder die Erde oder überallhin zugleich. Das Geläut der Kirchenglocken holte sie heraus aus dem namenlosen Zustand, in dem sie die vergangene Stunde - oder waren es zwei, oft vergaß sie die Zeit dabei, vergaß mitunter sogar, welches Jahr gerade war - verbracht hatte, und sie warf einen Blick auf die Uhr an ihrem Handgelenk und danach auf ihren Arm: Die Bräune des Sommers war noch nicht ganz verschwunden; auch wenn die Sonne schon schwach war, frischten die Stunden im Freien sie noch einmal ein wenig auf. Sie erhob sich und verließ die Terrasse oder was es war: eigentlich bloß das mit Bitumenbahnen geflämmte Flachdach der ans Haus angeschlossenen Garage, das über eine Balkontür zu erreichen war und auf dem zwei neu aussehende Liegestühle aufgeklappt standen. Bevor sie über die Schwelle stieg, stützte sie sich an der unverputzten, da und dort jedoch schon bröckeligen Ziegelmauer ab und streifte sich die Fußsohlen ab: winzig kleine Steinchen klebten daran. Dann ging sie den Flur entlang und stieg die lange, freischwingende und unter keinem Schritt knarzende Treppe hinab.
Fast erschrak sie, als sie ihn im Anzug, schwarzen Hemd und blitzblank polierten Schuhen, die Hände auf dem Bauch gefaltet, auf der Couch liegen sah, als wäre er es, den es zu betrauern galt. Doch im Näherkommen stellte sie fest, dass er die Augen offen hatte und seine Augäpfel langsam hin und her wanderten, über das Dorf hin, das sich jenseits der verglasten Wand unter ihnen ausbreitete.
»Fertig?«, fragte er, ohne mit seinem Schauen, in dem weder Suchen noch Ungeduld waren, aufzuhören oder auch nur auszusetzen.
»Ja«, sagte sie, »sofort«, kehrte um und stieg wieder ins Obergeschoss hoch, nahm ein kariertes dunkelblaues Kleid aus dem Schrank und ging damit ins Schlafzimmer und zog es über den Bikini. Dann ging sie ins Badezimmer und trug etwas Rouge auf, nur so ein bisschen an den Wangenknochen, dann noch ein wenig mehr; da hörte sie, wie die Haustür aufging und wieder zufiel. Sie legte den Pinsel und die Dose weg, schlüpfte in Schuhe mit kleinem Absatz, nahm ihre Handtasche und verließ das Haus.
Er saß schon im Auto, und der Motor lief. Sie stieg in den silberfarbenen Audi, der dem Großvater gehört hatte, und zog die Tür zu.
»Wir sind zu spät«, sagte er und fuhr los.
»Ja«, sagte sie; sie konnte den Geruch von Kölnisch Wasser riechen.
Inzwischen war es dunkel geworden, und die Straßenlaternen warfen ihr gelbes Licht, in dem da und dort ein Schwarm Mücken schwirrte, auf den Asphalt. Sie parkten, stiegen aus, gingen raschen Schritts durch die kühle, feuchte Abendluft zur Kirche und betraten sie - er vor ihr - durch den Hintereingang.
Sie waren tatsächlich zu spät; die Andacht hatte bereits begonnen. Sie setzten sich in die letzte Reihe, und obwohl der eine oder andere kaum merklich den Kopf drehte, war es, als hätte niemand ihr Kommen bemerkt.
Hier und da stockend, als könne er ein Wort nicht entziffern, las der Vorbeter mit eintöniger Stimme von einem Zettel ab, was die Familie des Verstorbenen ihm - oder dem Pfarrer - von jenem erzählt hatte. Und seltsam war, dass in diesem Reden von einem abgeschlossenen Leben öfter als von Menschen - die zwar vorkamen: Eltern, Frau, die fünf Kinder - von Baustellen und Maschinen die Rede war, von Dingen, die im Zusammenhang mit dem landwirtschaftlichen Betrieb standen, dessen Besitzer der Verstorbene lange Zeit gewesen war. Auf eine vor dem Tabernakel aufgestellte und die Sicht auf ihn verdeckende Leinwand wurden Bilder von den erwähnten Dingen projiziert: dem neuen Maststall mit dreihundert Plätzen, später dem Zuchtstall, »weil man geschlossen sein wollte«, dem Steyr-Traktor aus dem Jahr vierundsiebzig mit dem damals neuartigen Getriebe, der aus der DDR importierten Ballenpresse und dem Rückewagen, der aus der Konkursmasse eines abgehausten Händlers herausgekauft worden war von dem geschickten Verstorbenen - »für fast nichts«.
Den unwillkürlich auftauchenden Gedanken, was eines fernen Tages bei ihrer eigenen Beerdigung gesagt werden würde, welche Bilder gezeigt werden würden - falls auch bei ihrer Beerdigung jemand so geschmacklos sein sollte und Bilder zeigen würde -, verscheuchte sie und dachte stattdessen darüber nach, dass sie an diesen Mann, der während vieler Jahre ihr Nachbar gewesen war, keine Erinnerung hatte. Sie wusste nicht einmal, wie er ausgesehen hatte, und das Bild, das sie auf dem Altar aufgestellt hatten, löste keine Erinnerung in ihr aus; vielleicht einfach nur, weil es zu weit weg stand und sie es nicht scharf sehen konnte; nur die Glatze konnte sie erkennen, die Brille und eine leuchtend gelbe Krawatte. Vielleicht nicht nur deshalb; denn zwar hatte sie mit Widerwillen auf die projizierten Bilder geschaut, aber als sie vor ein paar Tagen gehört hatte, dass er gestorben war, hatte sie an kein Gesicht gedacht, an keine Stimme, sondern an nichts anderes als an ebendiese Dinge.
Nachdem das Ablesen beendet war, faltete der Vorbeter den dabei flatternden Zettel zusammen, räusperte sich und hob an, den Rosenkranz zu beten, und schon nach dem Kreuzzeichen fiel die versammelte Menge ein - vierzig, fünfzig Menschen, bis auf die bei den Kindern des Verstorbenen in den vorderen Reihen sitzenden Enkel und Urenkel kaum einer nicht weiß- oder zumindest grauhaarig, und nicht einer im Anzug oder Kleid, sondern alle in Jeans und Anoraks -, und auf einmal war der eben noch hallende Raum von einem dunklen Dröhnen erfüllt, das noch in den letzten Winkel drang. Und nach einem Moment fielen auch sie beide unwillkürlich ein, und die an- und abschwellenden Gesätze machten sie schläfrig. Wie zwei große, gleichmäßig herannahende Wellen, die sie schon lange nicht mehr durch sich hindurchrollen gespürt hatte, so fühlte es sich an, wie Atemzüge eines anderen, größeren Wesens, das für einen atmete und dem man sich überlassen konnte . Es war, als würde sie zurück in die Kindheit getragen und als wäre sie dort, damals - Zeit und Ort waren eins -, geborgen gewesen. Und war sie das denn nicht irgendwie auch, zumindest ganz am Anfang ihres Lebens? Vielleicht; wahrscheinlich; aber sie konnte sich eigentlich kaum noch daran erinnern, wusste nur noch, dass diese Kindheit schier endlos gedauert hatte und sie sich zunehmend wie in etwas gefangen fühlte, einer Welt, in der es beständig Veränderungen gab, an allem und an allen, während nur bei ihr selbst alles gleich blieb und nichts sich änderte, nichts Wesentliches, auch nicht, als sich etwas hätte ändern müssen. So lange hatte ihre Kindheit gedauert, dass man in der Schule schon gespottet hatte über sie, und dann, an ihrem fünfzehnten Geburtstag, hatte sie doch so jäh geendet. Erst von da, von diesem Ende an, hatte sie wirkliche Erinnerungen, als wäre das Ende ein Anfang, als hätten Nebel sich gelichtet.
Der Rosenkranz war vorbei. Die Leinwand wieder weiß. Es war warm in der Kirche; ihr war warm. Es war wie ein Erwachen unter dicken Daunen, in das hinein Gesang ertönte:
»Herr, ich bin dein Eigentum, / dein ist ja mein Leben. / Mir zum Heil und dir zum Ruhm / hast du mirs gegeben. / Väterlich führst du mich / auf des Lebens Wegen / meinem Ziel entgegen.«
Nach dem Ende des Lieds trat der Vorbeter, der sich gesetzt hatte, wieder an den Ambo, bedankte sich im Namen der Trauerfamilie für die Teilnahme an der Andacht, die hiermit beendet sei, und entfaltete erneut einen Zettel. Der Verstorbene würde dann und dann zu seiner letzten Ruhestätte geleitet, im Anschluss daran würden persönlich Geladene sowie die Folgenden zur Zehrung geladen, worauf er eine Reihe an Namen oder eher Funktionen ablas. Danach verabschiedete er sich, faltete den Zettel zusammen und verschwand mit eingezogenem Kopf durch die Seitentür zur Sakristei.
»Gehen wir«, flüsterte er ihr zu - von oben herab, denn er stand bereits.
»Ja doch«, sagte sie lauter als beabsichtigt und stand ebenfalls auf.
Meinte er denn, sie wolle...
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