Schweitzer Fachinformationen
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ER HATTE EINE TÄTOWIERUNG. Vielleicht kann man so nicht anfangen zu erzählen, aber eigentlich ist es völlig egal, wo man beginnt. Ich war hin und weg von dieser Tätowierung. Eine nackte Männerbrust hatte ich schon öfter gesehen, aber noch nie ein Tattoo. Ein Adler, ein majestätischer blauer Adler, majestätisch trotz der angelegten Flügel, und der Kopf im stolzen Profil. Ein rührender Raubvogel, sagte ich. Nein, das muß ich zurücknehmen: Ich habe es nicht gesagt, nur gedacht. Gesagt habe ich gar nichts. Der Adler oben links auf seiner Brust schockierte mich, dieser blaue Adler unter meinen Fingerspitzen. Auf dem rechten Arm hatte er auch ein Tattoo, eine Rose mit Blättern, die sich wie Efeu um ein Kreuz rankten, und noch ein zweites, Mutter, und dann hatte er noch Buchstaben in die Zehen eingeritzt, in vier Zehen des linken und des rechten Fußes jeweils einen Buchstaben, die zusammen LETS FUCK ergaben, ohne Apostroph. Aber diese Buchstaben entdeckte ich erst viel später. Und da erfuhr ich dann auch, daß er sich diese Buchstaben im Knast eintätowiert hatte.
Im Knast.
Das Wort gehörte nicht in mein Vokabular. Für jüdische Mädchen war Knast damals ein Fremdwort. Für nichtjüdische Mädchen ebenfalls. In unserem Wohnviertel in Kansas City hatte 1959 keiner eine Ahnung vom Knast. Die Leute hatten keine Ahnung von Tätowierungen und erst recht keine vom Knast. Mit so einem Menschen hatte ich noch nie geredet, in meinem ganzen Leben nicht, höchstens mal irgendwelche Höflichkeitsfloskeln ausgetauscht, Guten Tag und Vielen Dank, aber richtig geredet noch nie. Ich redete nicht mit solchen Leuten, wie meine Mutter gesagt hätte, den Mund zu einem schmalen Strich verkniffen, das Kinn vorgereckt. Schließlich war ich eine privilegierte Tochter aus gutem Hause. Jenny Jaffe, sechzehn Jahre alt, einzige Tochter von Esther und Mose Jaffe, eins fünfundsiebzig, etwa fünfundfünfzig Kilo, dünn und farblos, mit widerspenstigen Haaren, die zu einem Pferdeschwanz nach hinten gezurrt waren, in der Hoffnung, sie könnten dadurch etwas glatter werden, mit blasser Haut und braunen Augen. Flache Schuhe, Faltenröcke und kreisrunde Anstecknadeln: die ganze Palette. Ein jüdisches Mädchen aus dem Mittleren Westen, still, ein Mädchen, das nicht aufmuckte, das sich an die Spielregeln hielt, nicht besonders beliebt, nicht besonders unbeliebt, irgendwo in der Mitte, im letzten Schuljahr der High School - nicht renitent, nicht muffig, nur einfach langweilig. Nur eins unterschied mich von den anderen: Ich glaubte zu wissen, was ich wollte. Ich hatte einen Traum. Keinen großen Traum wie Martin Luther King, keinen, der den Gang der Geschichte beeinflussen würde, nur einen kleinen Jenny-Jaffe-Traum. Natürlich hatte ich keine Vorstellung davon, wie ich diesen Traum verwirklichen sollte, aber das war auch nicht so wichtig; sogar ein Traum ohne Plan hob mich von den andern ab. Es gibt nicht allzu viele Leute, die schon als Teenager wissen, was sie wollen - das war 1959 nicht anders als heute. Aber ich war sechzehn, und seit ich stehen konnte, wußte ich, was ich werden wollte. Ich wollte Tänzerin werden. Esther und Mose fanden es absurd, daß ihr einziges Kind glaubte, es könnte Tänzerin werden.
«Wer geht schon von Kansas City nach New York und setzt sich durch? Sei nicht albern - in dem Strudel dort würdest du ertrinken. Du gehst aufs College und studierst was anderes.»
Seit Jahren hatte ich meinen Eltern nicht mehr erlaubt, mich tanzen zu sehen - seit ich als hoffnungsvolle Anfängerin in der Ballettschule aufgetreten war, die staksige Große in der letzten Reihe, die mit den Storchenbeinen. «Meine Tochter, das häßliche Entlein» - das leise Gezischel meiner Mutter und das gedämpfte Lachen meines Vaters im dunklen Saal -, und von da an durften sie mich nie wieder tanzen sehen. Ich versteckte meinen Traum. Vielleicht wäre ich nie nach New York gegangen und nie Tänzerin geworden, wenn die ganze Geschichte nicht passiert wäre. Ich hätte den Traum abgeschrieben, wäre mit Will in dem blauen Mercury Baujahr 1950 durchgebrannt und hätte nur noch mit ihm getanzt, auf den Parkplätzen vor irgendwelchen Country-Bars an der Landstraße. Aber man kann sein ganzes Leben damit verbringen, sich zu überlegen, was Schicksal ist und was Fügung und was geschrieben steht und was man ändern kann. Nichts, wenn man mich fragt.
Er arbeitete an der Texaco-Tankstelle Ecke Seventy-fifth Street und Wornall, füllte Benzin in die Autos der Eltern meiner Freundinnen; er starrte mich an, als er die Windschutzscheibe des himmelblauen Oldsmobile meiner Mutter putzte. Ich schaute weg und tat so, als würde ich irgendwas in meiner Handtasche suchen. Dann traf ich ihn wieder in Joes's Diner, wo er Hamburger wendete und Geschirr abspülte - der berühmte Tellerwäscher, wie er grinsend zu meiner Freundin Sherry und mir sagte, als er den Tisch in der Nachbarnische abräumte. Wurden seine Augen tatsächlich noch blauer, wenn er grinste? War so etwas überhaupt möglich? Und dann sah ich ihn zweimal im King Louie Bowling Center an der Staatsgrenze arbeiten. Er war derjenige, der freitags und samstags abends die Bowling-Schuhe an die jungen Paare auslieh. «Größe acht, stimmt's?» sagte er mit einem Blick auf meine Füße, und ich antwortete nicht, aber Mic Bowen sagte: «Ja, stimmt, Größe acht» und nahm die Schuhe.
Ich ging noch auf die Southwest High School. Er war nicht einzuordnen. Ich wußte nicht, ob er einen Schulabschluß hatte, ich wußte nicht mal, ob er je in die Schule gegangen war. Er war älter als ich, aber ich wußte nicht, wieviel - vielleicht nach dem Kalender nur ein paar Jahre, aber in puncto Lebenserfahrung waren es Lichtjahre. William Cole McDonald. Seinen vollen Namen erfuhr ich erst viel später, anfangs kannte ich ihn nur als Will, weil der Name rot in die Tasche eines blauen Texaco-Hemdes eingestickt war.
«Hallo, du da.»
«Wie bitte?»
«Ich hab gesagt, hallo, du da.»
«Oh. Hallo.»
Toller Anfang. Peinlich. Ich, im Auto eingesperrt, meine Mutter am Steuer, und Will ging zur Beifahrerseite, um den Einfüllstutzen aus dem Tank zu nehmen. Mit seinem rechten Bein stimmte irgend etwas nicht. Ich merkte, daß er humpelte, als er an meinem Fenster vorbeiging. Ein Humpeln und ein Grinsen und blaue Augen.
«Ich möchte nur zu Harzfeld's gehen», verkündete meine Mutter, «und höchstens noch zu Wolff Brothers, aber wenn die nichts haben, reicht es mir. Ich habe keine Lust, endlos nach den richtigen Schuhen zu suchen.»
Ich schaute sie an.
«Ich will nicht, daß der Einkauf in eine Riesenunternehmung ausartet. Verstanden?»
«Okay.»
«Um zwölf bin ich mit Charlotte im Club verabredet.»
Als sie das sagte, putzte er gerade die Windschutzscheibe und schaute mich dabei an.
«Allerspätestens um eins», sagte sie. «Wo soll ich dich absetzen, wenn wir fertig sind? Bei Sherry?»
Er grinste, und der rote Lappen wischte über die Glasscheibe. Und dahinter seine Augen. Ich spürte, wie ich rot wurde.
«Jenny?» sagte meine Mutter.
Mit gesenktem Kopf kramte ich in meiner Handtasche.
«Das wär's, Ma'am.» Er reichte ihr die Rechnung durchs Fenster.
«Vielen Dank», sagte sie.
«Gern geschehen - bis zum nächsten Mal, Ma'am», sagte er zu meiner Mutter, während sie den Bon unterschrieb, und er schaute mich an. Die Sonne stand hinter ihm, und seine Haare waren so blond, daß sie fast weiß wirkten. Ich wollte ihn nicht ansehen, aber ich konnte nicht anders, ich wollte nicht lächeln - und biß mir dabei fast die Unterlippe blutig.
Meine Mutter drehte den Zündschlüssel, und wir fuhren aus der Tankstelle.
«Soll ich dich nun bei Sherry absetzen, wenn wir fertig sind?»
Im Seitenspiegel sah ich, wie Will mir nachwinkte.
Es war nicht so, daß ich vorher noch nie einen Freund gehabt hätte. Über einen Mangel an Angeboten konnte ich mich nicht beklagen - Verabredungen zum Kino, zum Hamburgeressen, sogar zum Schulball. Ich wurde oft eingeladen, das war nicht das Problem; das Problem war, daß es mich im Grunde nicht interessierte. Flirts, Tratsch und Samstagabend, das waren damals die Hauptthemen an der High School: Wer findet wen gut, wer geht mit wem aus und wer küßt wen und wo. Viel mehr spielte sich nicht ab, höchstens verbal. In den Erzählungen beschlugen sich bei jedem Jungen die Fenster eines geparkten Chevy, jeder hakte einhändig BH-Verschlüsse auf, jeder berührte auf dem Plastikrücksitz nackte Haut, aber die Wirklichkeit sah wesentlich keuscher aus. Außer bei uns, den Ex-Jungfrauen. Ich gehörte zu einer kleinen Minderheit. Ich hatte schon zwei Jungen gehabt und sie dann einfach fallenlassen, und 1959 war das ein ziemlicher Skandal. 1959 war man entweder Jungfrau oder eine Schlampe, und mit David Greenspan und Mic Bowen hatte ich unwiderruflich die Grenze zum Schlampendasein überschritten; ich war bis ans Ende gegangen, und ein Zurück gab es nicht. Der Unterschied zwischen mir und den anderen Mädchen, die ihre Unschuld verloren hatten, lag darin, daß ich in keinen der beiden Jungen verliebt gewesen war. Weder David noch Mic waren meine große Leidenschaft gewesen, es gab kein Verliebtsein, keine Trennung hinterher, nichts. David war Jude, groß und gut aussehend, aber eher langweilig; er fuhr eine rot-weiße Corvette, Baujahr 1957, mit überkreuzten Flaggen auf dem Kotflügel, und war Linebacker im Footballteam der Universität von Missouri, obwohl er erst im ersten Jahr dort studierte. Sein Nacken war so kräftig wie meine Oberschenkel, während sein Penis nicht besonders gelungen war. Mic...
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