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Mehr als eine Woche verging, ohne dass Barbara und Hielmann auch nur ein einziges längeres Gespräch führten. Hielmann verließ oft das Haus, einmal blieb er fast eine ganze Nacht weg. Barbara hatte einen leichten Schlaf und hörte, wie er gegen fünf Uhr morgens wiederkam. Es regte schon ihre Fantasie an, wo jemand wie Hielmann sich eine halbe Nacht lang herumtrieb, aber sie wusste, es ging sie nichts an. Sie war sein Gast, mehr nicht.
Ganz am Rande hatte sie doch ein paar Dinge über ihn erfahren: Er hatte einen Doktortitel, Dr. phil., hatte Germanistik und Philosophie studiert und außerdem ein Vollstudium Latein und Griechisch absolviert. Er hielt Seminare als Privatdozent an der Uni ab, arbeitete als Gutachter und Sachbuchautor für Verlage, aber das hatte ihm nicht zu einer solchen Luxuswohnung verholfen. «Ich bin reich», hatte er schlicht auf ihre Frage geantwortet. «Mein Bruder leitet die Familienfirma, ein sehr gediegenes Bauunternehmen, seit mehr als hundert Jahren in Familienbesitz. Mir gehört zurzeit ein Viertel.»
Familie - ja, die hatte er auch. Familie war vor allem seine Mutter, die mehrmals täglich anrief. Thomas Hielmann machte auf Barbara nicht gerade den Eindruck eines Muttersöhnchens. Wenn es ihn zu sehr nervte, ließ er einfach den Anrufbeantworter laufen. Er hatte sie gebeten, niemals ans Telefon zu gehen, und Barbara dachte nicht im Traum daran. Man konnte das Arrangement der beiden nicht einmal als Wohngemeinschaft bezeichnen - irgendwo am anderen Ende der Wohnung lebte einfach noch ein Mensch, den man manchmal zu den Mahlzeiten traf.
Zunächst genoss Barbara die Ruhe. Sie fühlte sich wohl in diesem merkwürdigen Zustand - ohne Identität, ohne Vergangenheit und ohne einen Gedanken an die Zukunft verschwenden zu müssen. Doch dieses Gefühl hielt nur kurze Zeit an. Von einem Augenblick zum nächsten wurde die Ruhe zu einer Falle, verstärkte sich der seelische Druck auf Barbara. In Frankfurt hatte sie sich mit Herumtreiben und allzu oft auch mit Alkohol betäubt. Hier konnte sie nicht vor sich selbst fliehen - oder vor Schmidtmann, der in ihrem Kopf hockte und ständig darauf lauerte, sich in einem unbedachten Moment in ihre Gedanken zu schleichen.
Obwohl er Barbara kaum zu bemerken schien, reagierte Hielmann immer auf diese Stimmungsänderungen bei ihr. Ihr wurde klar, dass er niemals aufgehört hatte, sie zu beobachten, wie er es in der Kneipe getan hatte. An solchen Tagen kochte er etwas besonders Gutes und blieb wie grundlos nach dem Essen länger bei ihr sitzen. Aber bis auf ein paar belanglose Sätze brachten sie nie eine Unterhaltung zustande. Das schien ihn genauso zu bedrücken wie Barbara.
Nach einer Woche hielt sie es nicht mehr aus. Sie hatte die Wohnung bisher nur mit Hielmann zusammen verlassen - wenn sie zum Essen gingen. Plötzlich konnte sie die Ruhe der Wohnung, die sie als so angenehm empfunden hatte, nicht mehr ertragen. Sie wollte nicht mehr grübeln müssen. Gleich nach dem Frühstück trieb es sie auf die Straße.
Ein paar Stunden später, vor dem Hauptbahnhof, wunderte sich Barbara, wie einfach es gewesen war, in ihre alten Gewohnheiten zurückzufallen. Sie hatte überhaupt kein Geld, ihr Magen knurrte, aber sie konnte hier sitzen und die Leute beobachten. Wenn sie die Hand in die Tasche steckte, fühlte sie den Schlüssel zu Hielmanns Wohnung.
Als sie am späten Nachmittag zurückkam und den Schlüssel auf die Kommode legte, lag an seinem Platz ein Zweihundertmarkschein. Sie nahm ihn und ging in Hielmanns Arbeitszimmer. Er saß an seinem Schreibtisch - auch ein antikes Stück aus den Gründungszeiten der Baufirma Hielmann im letzten Jahrhundert -, umgeben von Bücherstapeln und hochmodernem Computerequipment.
«Hallo, Barbara», sagte er, er hatte nicht einmal richtig von seiner Arbeit aufgesehen.
«Haben Sie mir den hingelegt?», fragte sie.
Er sah sie erstaunt an. «Ja, natürlich. Wer sonst?»
«Sie hätten ihn ja auch versehentlich dort liegen lassen können.»
«Ich dachte, wenn Sie draußen herumlaufen, haben Sie besser ein wenig Geld dabei .»
«Damit ich nicht mit fremden Männern mitgehe?» Barbara verzog spöttisch das Gesicht, aber Thomas schien es todernst damit zu sein. «Das kann sehr gefährlich sein.»
Seine Besorgnis war echt. «Bitte, nehmen Sie das Geld an», fuhr er fort. «Sie wissen, ich habe genug - ich verlange nichts dafür. Kaufen Sie sich etwas, oder leben Sie da draußen davon. Meinetwegen können Sie es auch versaufen, ich mache Ihnen keinerlei Vorschriften.»
«O.K.», sagte Barbara. Sie fühlte sich irgendwie überrumpelt. Thomas hatte sich schon wieder über die Bücher gebeugt, als wollte er einem möglichen Gespräch ausweichen.
«Thomas .» Barbara hatte sehr leise gesprochen und erinnerte sich plötzlich daran, dass er links nichts hören konnte. «Thomas», begann sie noch einmal, diesmal in normaler Lautstärke. Er sah wieder auf. «Bitte, nehmen Sie es nicht persönlich, wenn ich tagsüber verschwinde. Es liegt nicht an Ihnen. Ich . ich bin nur einfach eine Herumtreiberin, ich fühle mich am wohlsten, wenn ich irgendwo draußen herumhänge . Ich bin Ihnen wirklich dankbar für das, was Sie für mich tun .»
«Es ist Ihr Leben. Ich mische mich nicht ein», sagte er ruhig, und Barbara hatte das Gefühl, es sei der wichtigste Satz, der bisher zwischen ihnen gefallen war. Thomas mischte sich nicht ein. Er mischte sich niemals ein. Er war immer außerhalb jeden anderen Lebens, nie ein Teil davon.
Es klingelte an der Tür, Thomas ging, um zu öffnen. Barbara stand unschlüssig vor dem Schreibtisch, ihr Blick fiel auf die Bücher und Fotos, die dort lagen - das Projekt, das Thomas zurzeit bearbeitete: Holzschnitte von grausamen Folterungen an Frauen, tanzende Hexen von Gustave Doré und Faksimiles diverser Anleitungen für Inquisitoren, darunter das «Malleus maleficarum», der berühmte «Hexenhammer», aber auch Spees «Cautio criminalis», die tapfere Schrift gegen die Hexenverfolgung. Barbara kannte die lateinischen Titel aus einem ihrer ersten Serienmordfälle, in denen der Täter aus religiösem Wahn gehandelt hatte. Ein merkwürdiges Thema für einen Germanistikdozenten.
Sie schreckte zusammen, als sie Thomas an der Zimmertür hörte. «Mein Bruder ist gekommen», sagte er. «Wenn Sie möchten, setzen Sie sich doch zu uns ins Wohnzimmer.»
Barbara hatte das unbestimmte Gefühl, dass ihm etwas daran lag, also folgte sie Thomas in die «Bibliothek», das kleine Wohnzimmer, wo sein Bruder auf einem der Ledersofas saß. Thomas stellte sie einander förmlich vor: «Barbara, das ist mein Bruder Wolfram - Wolfram, das ist Barbara, sie wohnt eine Weile hier.»
Wolfram stand auf und gab ihr die Hand. Er war groß, über eins neunzig, und zwischen ihm und Thomas schien es nicht die geringste Ähnlichkeit zu geben. Während sein Bruder dunkel, fast düster wirkte, war Wolfram hell, offen und freundlich - hellbraune Haare, blaue Augen und ein gewinnendes Lächeln, das eine Menge Charme verhieß. Er war einer der Typen, die kräftig wirkten, ohne wirklich dick zu sein, alles an ihm war groß, vor allem die Hände wirkten riesig. Neben seinem Bruder machte Thomas einen kleinen und schmächtigen Eindruck.
Wolfram schien sich über den Logiergast nicht im geringsten zu wundern. «Hier sind ein paar geschäftliche Unterlagen, die Thomas unterschreiben muss, aber du kannst gern dabeibleiben. Mutter hat mir Kuchen mitgegeben - die Köchin hat ihn frisch gebacken.»
«Dann werde ich Kaffee kochen», meinte Barbara. Thomas sah sie erstaunt an.
Als sie mit Kaffeekanne, Tassen und Tellern zurückkam, hatten Thomas und Wolfram das Geschäftliche anscheinend erledigt.
«Elke und ich haben drei Wochen Costa Rica für Dezember gebucht», erzählte Wolfram gerade. Auch seine kräftige Stimme war ein Kontrastprogramm zu Thomas' sanftem leisen Ton. «Wenn du möchtest, kannst du mitkommen - oder vielleicht ihr beide?» Er setzte ein schelmisches Lächeln auf, aber noch bevor Thomas protestieren konnte, meinte er: «Ein bisschen Sonne würde euch beiden guttun.»
Barbara lächelte verlegen. Sie wusste nicht, was Thomas von ihr erwartete. Wollte er, dass sie seinem Bruder die Freundin vorspielte?
«Was ist, Barbara?», fragte Thomas. «Möchten Sie nach Costa Rica?»
Wolfram prustete los: «Das darf nicht wahr sein. Ihr siezt euch!»
«Ihr Bruder wollte Ihnen wohl klarmachen, dass ich wirklich nur ein Gast hier bin», sagte Barbara.
«Ich weiß, was du bist. Ich kenne Thomas und seine kleinen Werke der Nächstenliebe», meinte Wolfram trocken. «Aber dass ihr euch siezt - und du mich -, ist trotzdem lächerlich.»
Barbara runzelte die Stirn. Werke der Nächstenliebe? Was zum Teufel meinte er damit?
Thomas lenkte ab, indem er endlich den Kaffee eingoss. Er und Barbara mussten gar nicht auf ihre gewohnte Schweigsamkeit verzichten, denn Wolfram bestritt die Unterhaltung praktisch allein. Außer durch ein paar kurze Antworten, meist Bestätigungen von etwas, das er gerade gesagt hatte, waren sie nicht gefordert.
Wolfram erzählte viel von Elke, seiner Freundin, und manchmal runzelte Thomas dabei die Stirn. Dann wieder war die Firma dran - und natürlich die Mutter. «Dein Anrufbeantworter treibt sie noch zum Wahnsinn, Thomas. Sie ist überzeugt davon, dass du zu Hause bist, wenn er läuft.»
Barbara musste grinsen, auch um Thomas' Mundwinkel zuckte es. «Es reicht wirklich, wenn ich zweimal am Tag mit ihr spreche», meinte er.
«Sie macht sich einfach Sorgen...
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