Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Es ist Donnerstag, der 17. November 1977. Es schneit in München. Heute ist der Tag des Verhörs. Es ist der Tag der Rache. Ich will meine Mutter rächen!
Am Morgen hat der ägyptische Staatspräsident Muhammad Anwar as-Sadat in Kairo erklärt, dass er die Einladung des israelischen Ministerpräsidenten Menachem Begin zu einem Besuch Israels annehmen werde. Der ägyptische Außenminister Ismail Fahmi ist aus Protest gegen die geplante Reise Sadats von seinem Amt zurückgetreten. Ich bin für 19 Uhr im Restaurant Romagna Antica verabredet, im Haus Elisabethstraße 52 in München-Schwabing.
Ich bin aufgeregt. Unter keinen Umständen möchte ich zu spät kommen. Viel zu früh gehe ich los. Von meiner Wohnung in der Blütenstraße biege ich nach rechts in die Barerstraße bis zum Elisabeth-Platz, von dort in die Elisabethstraße nach Westen. Unmittelbar vor dem Nordbad liegt das Restaurant. Mein Mantel ist verschneit, der Ober bringt ihn zur Garderobe. Er zeigt mir den Tisch, den ich gestern für zwei Personen reserviert habe. Ich wollte sichergehen, dass es ein Platz sein wird, von dem ich den Eingang im Blick habe. Der Ober nimmt das Riservato-Schild mit. Es ist 18:30 Uhr. Ich atme tief durch.
Vor einem Monat habe ich meinen 33. Geburtstag gefeiert. Eigentlich gibt es keinen Grund für diese innere Anspannung. Ich habe gute Gründe für Selbstsicherheit. Erst jetzt fühle ich mich stark genug für diese Begegnung.
Ich habe mein Studium erfolgreich beendet. Ich war Stipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes. Im Juni 1972 schloss ich mein Diplom in Soziologie mit der Note »sehr gut« ab. Vor einem Jahr wurde mir der Grad eines Doktors der Staatswissenschaften vom Fachbereich Sozialwissenschaften der Ludwig-Maximilians-Universität München mit dem Gesamturteil »ausgezeichnet« verliehen. Zum 1. Dezember 1976 wurde ich zum wissenschaftlichen Assistenten am Institut für Soziologie der LMU ernannt.
Diese positive berufliche Bilanz ist ein wenig überschattet von der Tatsache, dass ich im Februar dieses Jahres 1977 von der Mutter meines zweijährigen Sohnes vom Landgericht geschieden wurde. Neun Jahre nach der Eheschließung. Sie wollte diese Ehe nicht mehr fortsetzen, sie hatte den Antrag auf Scheidung gestellt. Ich wollte es nicht noch schwerer machen, darum plädierte ich auf schuldig. Das Glück war ohnehin verschwunden. Die grundsätzlich lebenslang angelegte Ehe sollte nur im Ausnahmefall geschieden werden, wenn einer der Ehegatten schuldhaftes Verhalten dem anderen gegenüber gezeigt hat. Wir mussten uns etwas ausdenken, was die Scheidung ermöglichte. Es galt das Schuldprinzip.
Diese gemischte Bilanz - beruflicher Erfolg, privates Scheitern - lässt mich auf meinem Platz in diesem schönen, warm erleuchteten Restaurant ein wenig verunsichert sitzen. Gerne hätte ich mich strahlender, siegreicher präsentiert, bei diesem ersten Treffen. Als Rüstung trage ich meine hellbraune Cordsamt Hose, ein weißes Hemd mit blauer Krawatte, darüber mein beiges Tweed-Sakko. So, wie ich mich für mein Seminar anziehe. Ich habe mich frisch rasiert, bevor ich die Wohnung verließ. Die Geheimratsecken auf der Stirn sind nicht mehr zu übersehen. Die Armbanduhr, die mir meine Mutter zum Abitur schenkte, zeigt 19:30 Uhr. Bereits 30 Minuten später als verabredet!
Ich habe die Eingangstür fest im Auge. Jede Person, die hereinkommt, muss den dichten, dunkelroten Vorhang in der Mitte auseinanderschieben. Immer wenn sich der Vorhang teilt, sehe ich draußen heftiges Schneetreiben. Die meisten Menschen kommen paarweise. Ich warte auf einen einzelnen Mann. Ich weiß nicht, wie er heute aussieht. Ich kenne nur Schwarz-Weiß-Fotos aus der Zeit, als ich fünf Jahre alt war.
Ich warte auf einen mir unbekannten Mann. Ich warte auf meinen Vater. Ich warte auf den Mann, der sich meiner Mutter gegenüber wie ein Schuft verhalten hat. Ich will Gerechtigkeit. Wie Claire Zachanassian aus dem Theaterstück Der Besuch der alten Dame von Friedrich Dürrenmatt habe ich 45 Jahre auf meine Rache gewartet. Ich will Gerechtigkeit. Ich kann nicht verzeihen. Ich werde ihn nicht erschießen, auch wenn ich das zu meiner Mutter gesagt haben soll, als sie mir nach meiner Konfirmation die Wahrheit über meinen Vater offenbarte. Aber ich will ihn verhören. Um zu hören, was er zu seiner Verteidigung zu sagen hat.
Dieses Buch ist meine Rache. Ich will zeigen, was für eine Heldin meine Mutter war. Und welches Unglück mein Vater über meine Mutter brachte. Und welches Glück es für mich war, nicht in seinem Einflussbereich aufzuwachsen.
Schon als Kind habe ich mir immer wieder die Szene aus dem Neuen Testament vorgestellt:
»Der Vater aber sah ihn schon von Weitem kommen, und sein Herz war voller Mitleid für ihn. Er lief dem Sohn entgegen, fiel ihm um den Hals und küsste ihn. Der Sohn rief unter Tränen: >Vater, ich habe mich gegen den Himmel und gegen Dich versündigt, ich bin nicht mehr wert, Dein Sohn zu sein.< Der Vater aber sagte zu seinen Knechten: >Holt schnell das beste Gewand und zieht es ihm an, steckt ihm einen Ring an die Hand und zieht ihm Schuhe an. Holt das Mastkalb aus dem Stall und schlachtet es, wir wollen essen und fröhlich sein. Denn mein Sohn war tot und lebt wieder, er war verloren und ist wiedergefunden worden.< Und sie begannen, ein fröhliches Fest zu feiern.«
Nein, so war es nicht. Mein Vater lief mir nicht entgegen. Im Gegenteil, er wollte mich nicht wiedersehen. Ich musste ihn erpressen, um mich zu treffen. Ich glaube nicht, dass er sich freute, mich wiederzusehen. Er hatte sicherlich nicht das Gefühl, sich versündigt zu haben. Nein, das Wiedersehen nach 28 Jahren wurde kein fröhliches Fest. An jenem Novemberabend traf ein 67-jähriger Mann seinen 33-jährigen Sohn nicht voller Freude.
Noch immer sitze ich allein an meinem Tisch. Er ist nicht gekommen. Er ist feige, denke ich bei mir, er wusste nicht, was er seiner Frau und seiner Tochter sagen sollte, warum er bei diesem Wetter nach Schwabing fahren sollte. Er war schon damals feige, als er sich aus dem Leben seiner Geliebten, meiner Mutter, davonstahl. Und sie und mich verließ. Wenn ich nun schon hier bin, kann ich auch essen: »Herr Ober, bringen Sie mir bitte noch einen halben Liter von dem Chianti. Und ein Vitello tonnato. Ich bin anscheinend versetzt worden. Ich esse allein.«
Noch habe ich die Vorspeise nicht beendet, da sehe ich einen hochgewachsenen Mann in einem grauen Mantel durch den geteilten Vorhang nach draußen gehen. Er verlässt das Lokal. Seitdem ich hier sitze, sind immer nur Menschen reingekommen. Dieser Mann ist die erste Person, die rausgeht. Den habe ich gar nicht reinkommen gesehen, denke ich. Ich stehe hastig auf, die Serviette fällt zu Boden. Ich teile den Vorhang und folge dieser Figur auf die Straße. »Hubert Rolf?« rufe ich, fragend, in die Dunkelheit. Der Mann hält inne und dreht sich ruckartig um: »Dirk?«
Dirk ist richtig, Hubert Rolf stimmt nicht. Mein Vater hieß nicht so. Sogar seinen Namen werde ich ihm hier nehmen. Ungeachtet der Tatsache, dass ich über zahlreiche Fotos von ihm verfüge, wird in diesem Buch kein einziges aufgenommen. Möge er ohne richtigen Namen und ohne Gesicht bleiben. Wir stehen auf der Straße, die Schneeflocken treiben um uns herum, er im Mantel mit Hut, ich nur in Jacke und Hose. »Gehen wir bitte wieder hinein?«, frage ich. Nach einem minimalen Zögern folgt er mir. Er gibt seinen Mantel dem Ober, wir setzen uns an meinen Tisch. »Wo warst Du?«, frage ich, »ich bin seit 18:30 Uhr hier. Und seitdem warte ich auf Dich.«
»Ich war schon um 18 Uhr hier. Unten waren alle Tische reserviert, auch dieser hier. Darum ging ich nach oben. Und dachte, wenn er kommt, wird's für ihn genau so sein, auch er muss die paar Stufen nach oben kommen. Und nachdem ich nun fast zwei Stunden gewartet habe, beschloss ich, zu gehen. Ich dachte, Du kommst nicht.«
Wir schauen uns an. Er ist größer als ich. Seine Geheimratsecken gehen sehr viel weiter nach hinten als meine, er hat eine ausgedehnte Halbglatze. Er trägt eine markante Brille, deren Gestell in der oberen Hälfte dunkel getönt ist und in der unteren Hälfte fast durchsichtig wirkt. Sein Kopf ist weder hager noch dick. Seine Augen blicken mich durchdringend an. Er zeigt sehr regelmäßige, weiße Zähne, wenn er spricht. Gekleidet ist er wie ein Herr, im Anzug mit Hemd und Krawatte. Eine Erscheinung. Wir sitzen an meinem Tisch.
DIRK KAESLER: »Möchtest du ein Glas Rotwein? Der Chianti ist gut.«
HUBERT ROLF: »Gerne. Na, dann erzähl doch mal, wie es dir so geht. Und wie es deiner Mutter geht.«
DK: »Ich will eigentlich nichts von mir erzählen. Du hast dich seit über dreißig Jahren nicht um mich gekümmert....
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.