Schweitzer Fachinformationen
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Kalte Augen. Wie die eines Toten. Komisch, die Augen haben sie nie richtig hingekriegt. Das wusste er noch aus seiner Schulzeit. Bildende Kunst. Mündliches Prüfungsfach im Abitur. Die Bildhauerei des Hellenismus. Weil's so schön einfach war. Dachte er. Das Prinzip der nassen Gewänder und solche Sachen. Ein großer Fehler. Die Vier hatte seine Durchschnittsnote nicht gerade verbessert.
Drei Komma zwo.
Für den Beruf des Polizisten hatte es gereicht.
Tote Augen.
Aber was für ein Körper, du meine Güte.
Der nackte Körper des jungen Mannes war von makelloser Schönheit. Jede Faser seiner austrainierten Muskeln unter der ebenmäßigen, unbehaarten Haut schien darauf zu lauern, den Speer einem unsichtbaren Ziel entgegenzuschleudern. Ein Ziel, das nur die kalten Augen aus Marmor kannten. So durchtrainiert hatte er nie ausgesehen, selbst nicht in seinen besten Jahren. Als er noch boxte. Josef Morian blickte unwillkürlich hinunter zu der Wölbung unter seinem Sakko und klappte den Bildband zu. Zu Weihnachten hatte er sich von seiner Familie ein Trimmrad schenken lassen. Das stand im Keller, und er hatte es seit Weihnachten dreimal benutzt.
Jetzt war Sommer. Und Josef Morian schwitzte.
«Griechenland - Wiege Europas», las er auf dem Schutzumschlag. 1999 erschienen. «Von Julius Weinert». Morian ließ den Blick nach rechts wandern, vorbei an den Bücherregalen, den Glasvitrinen, den chinesischen Vasen und den griechischen Amphoren und dem ganzen, vermutlich unverschämt kostspieligen Zeugs bis hin zu dem Perserteppich. Jedenfalls hielt er ihn für einen Perserteppich. Morian kannte sich nicht aus mit Antiquitäten. Aber mit Toten. Auf dem Teppich lag der Autor des Buches, bäuchlings, den schwammigen Körper in einen seidenen Hausmantel gehüllt. Zwischen seinen Schulterblättern steckte ein Brieföffner aus stabilem Messing. Der Brieföffner war einem Dolch nachempfunden, der Griff mit bunten Steinen besetzt. Vermutlich kostbar. Morian hatte keinen blassen Schimmer. Er nahm sich vor, danach zu fragen. Später.
Die Kollegen von der Spurensicherung waren am Zug. Einer der Beamten in den weißen Overalls streifte sich Latexhandschuhe über, sammelte die Überbleibsel eines zerbrochenen Cognacschwenkers vom Parkettboden auf und ließ sie in einen Zellophanbeutel gleiten. Er beschriftete ihn mit einem Fettstift und legte ihn behutsam zu den anderen Beuteln in einen Wäschekorb. Er kniete erneut nieder und löste die kleinen, dicken, kalten Finger des Toten, die in die Fransen des Teppichs verkrallt waren.
Morian drehte das Buch um und studierte den Klappentext auf der Rückseite. «Julius Weinert versteht es, für Geschichte zu begeistern. Der 1934 in Ostpreußen geborene Jurist und Politiker hat sich nach seiner Pensionierung erneut der großen Passion seiner Jugend, dem Studium der Antike, zugewandt .»
«Verzeihung!»
Links neben Morian stand ein braun gebrannter Endfünfziger mit leicht angegrauten Schläfen. Kerzengerade. Teurer Wildlederblouson.
«Sie wollten mich sprechen .» Leicht blasierter Tonfall.
Morian streckte ihm die Hand entgegen. «Kriminalhauptkommissar Josef Morian. Mordkommission. Sie sind der Hausarzt der Familie?»
«Ja. Dr. Wilfried Degener. Meine Praxis ist zwar in Bad Godesberg, aber ich wohne in der Nachbarschaft, gleich um die Ecke. Die Luft hier oben im Siebengebirge ist einfach gesünder als unten im Rheintal. Im Augenblick kann ich nichts mehr tun. Frau Weinert .»
«Wie geht es ihr?»
«Tja . den Umständen entsprechend. Ein . Sie würden es vermutlich einen Nervenzusammenbruch nennen. Jetzt schläft sie. Die Spritze lässt den Organismus für eine Weile zur Ruhe kommen. Aber kein Arzt der Welt kann ihren Schmerz lindern.»
«Verstehe. Muss entsetzlich sein, nach Hause zu kommen und den geliebten Gatten tot vorzufinden.» Morian konnte jederzeit auf Knopfdruck Betroffenheit herstellen.
«Nein, nein. Herr Dr. Weinert war nicht ihr Ehemann. Er war ihr Bruder. Sie hat ihm den Haushalt geführt. Herr Dr. Weinert war ein Mensch, der seine ganze Schaffenskraft in den Dienst der Gesellschaft gestellt hat. Da blieb keine Zeit für eine eigene Familie.»
«Und wer hat unterm Dach gewohnt?» Die Basketball-Poster in der Mansarde passten nicht zu Weinerts Generation.
«Alexander, sein . Sohn. Nachdem .»
«Sie sagten doch, er hatte keine Familie.»
«Wenn Sie zuhören würden, statt eine Frage nach der anderen zu stellen, kämen wir rascher zum Ziel.» Dr. Degener wirkte gereizt. Offenbar behagte ihm das Thema nicht. «Nachdem Alexanders leiblicher Vater verstorben war, hat sich Herr Dr. Weinert in seiner Eigenschaft als Taufpate des Jungen angenommen und ihn adoptiert. Er hat sich aufgeopfert für ihn, wie ein leiblicher Vater. Eine eher undankbare Aufgabe, wie sich erweisen sollte.»
«So?»
Der Arzt sagte nichts. Offenbar beschlich ihn das Gefühl, schon zu viel gesagt zu haben. Morian ließ es im Augenblick dabei bewenden. «Wann haben Sie ihn denn zum letzten Mal gesehen?»
«Gesprochen habe ich ihn schon ewig nicht mehr. Aber gelegentlich mal aus der Ferne gesehen, wenn ich im Garten arbeitete. Das letzte Mal so vor zwei, drei Wochen, schätze ich.»
«Welches Verhältnis hatte Weinert zu dem Jungen?»
«Das habe ich doch schon gesagt. Er .»
«t'schuldigung. Ich meinte, in jüngster Zeit.»
«Vielleicht sprechen Sie besser mit Frau Weinert darüber. Ich bin schließlich nur der Hausarzt.»
Nur der Hausarzt. Morian spürte genau, dass dem Mann noch etwas auf der Zunge lag. Und abwog, ob er es nicht besser runterschlucken sollte. Deshalb wartete Morian geduldig.
Schweigen. Vielleicht half ihm eine Frage auf die Sprünge.
«Herr Doktor, wann haben Sie denn Julius Weinert zum letzten Mal gesprochen?»
«Oh, gut, dass Sie fragen. Es wäre mir fast entfallen. Vor zwei Tagen. Fernmündlich. Ich weiß natürlich nicht, ob die Sache überhaupt von Belang ist, aber .»
«Ja?»
«Herr Dr. Weinert rief mich in der Praxis an. Am Freitag; genau, am Freitag um die Mittagszeit. Er klang sehr besorgt. Richtig aufgebracht klang er. Er müsse mich dringend sprechen, wegen Alexander. Unter vier Augen. Er brauche meinen ärztlichen Rat. Und so verabredeten wir uns für Montag. Also morgen. 18 Uhr. Hier, in seinem Haus.»
«Und über was wollte er mit Ihnen sprechen?»
«Ich habe keine Ahnung. Er sagte nur, es sei dringlich.»
«Aber es war nicht so dringend, dass er darauf bestanden hätte, schon am Wochenende mit Ihnen zu sprechen?»
«Nein. Ich hätte dieser Bitte natürlich entsprochen, wenn auch ungern. Schließlich hat man auch sein Privatleben. Und mit Alexander gab es ja alle naselang Ärger. Aber Herr Weinert schlug selbst den Montag vor. Er sagte, er müsse bis dahin noch einige Dinge klären. Ich wäre Ihnen übrigens dankbar, wenn Sie diese Information diskret behandeln könnten. Ich habe einen Ruf zu wahren.»
«Natürlich. Wahrscheinlich ist es völlig ohne Belang», beruhigte ihn Morian. «Was glauben Sie: Wo ist der Junge jetzt?»
«Das weiß man nie so genau. Er treibt sich rum. Von regelmäßigem Schulbesuch hat er noch nie viel gehalten. Ohne Herrn Weinerts ständige Intervention, ohne seine großzügigen Spenden an die Schule, ohne seine guten Kontakte nach Düsseldorf wäre der Junge doch längst von der Schule geflogen. Weinert hat ihn über alles geliebt. Allein die Nachhilfestunden müssen ihn ein Vermögen gekostet haben, wenn Sie mir die Bemerkung gestatten.»
«Selbstverständlich. Woher hatte er das Vermögen?»
Das Mitteilungsbedürfnis des Hausarztes geriet erneut ins Stocken. Geld schien ein zu intimes Thema zu sein. Morian spürte, wie der Arzt angestrengt über eine geeignete Formulierung nachdachte, bevor er antwortete. «Herr Dr. Weinert war zeit seines Lebens sehr erfolgreich. Als Jurist. Als Politiker. Zuletzt als Berater und Justiziar verschiedener Unternehmen und gemeinnütziger Einrichtungen. Gottlob ist es in diesem Land noch kein Verbrechen, erfolgreich zu sein.»
«Wann hat Frau Weinert Sie eigentlich angerufen?»
Der Arzt sah auf seine Armbanduhr. «Ziemlich genau um 10.30 Uhr. Sie war völlig verstört, sagte etwas von einem furchtbaren Unglück, da habe ich mich unverzüglich auf den Weg gemacht.»
10.30 Uhr. Das war ziemlich genau die Zeit, als ihm seine Frau zärtlich ins Ohr flüsterte, es sei Zeit zum Aufstehen, sie habe einen Bärenhunger, die Kinder hätten sich schon wieder heimlich vor den Fernseher geschlichen, draußen scheine eine wunderbare Sonntagmorgen-Sommer-Sonne, und ob er noch wisse, dass er den Kindern eine Radtour versprochen habe, nein, nein, nein, es habe gar keinen Zweck, sich schlafend zu stellen, raus aus den Federn, alter Brummbär, Zeit zum Aufstehen, und dann hinderte sie ihn am Aufstehen, indem sie ihre warme, sanfte Hand über seinen Körper, unter die Bettdecke wandern ließ .
«Und dann haben Sie die Polizei gerufen.»
«Ja. Nachdem ich festgestellt hatte, dass für Herrn Dr. Weinert jede Hilfe zu spät kam, wählte ich von hier aus die 110. Anschließend habe ich mich um Frau Weinert gekümmert.»
Jetzt war es kurz vor zwölf, und die Kinder würden Liz in...
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