Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Ignorieren.
Löschen.
Lösch. Ignorieren!
Ignori. Löschen!
Mann im Kittel, hinten offen wie bei Krankenhauspatient. Er ist barfuß, kniet, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, gefesselt. Angst, weit aufgerissene Augen, große Angst. Schäferhund starrt den Mann an, lässt ihn nicht aus den Augen, keine Sekunde aus den Augen, fletscht die Zähne, dreißig Zentimeter zwischen den Reißzähnen und dem Hals des Mannes. Aber da ist ein Halsband, eine Leine, ein Mann in Uniform hinter dem Hund, Springerstiefel, ein Soldat steht hinter dem Schäferhund, hält die Leine fest, hat alles im Griff .
Ignorieren!
Solange der Hund nicht zuschnappt: ignorieren!
Das ist Vorschrift! Solange nichts passiert .
Zwei Sekunden!
Löschen
Zwei Sekunden Zeit!
Zwei Sekunden für jede Entscheidung!
Alejandro hält seinen Schnitt.
Es läuft gut heute. Es läuft fantastisch.
Mädchen Asiatin Zöpfe Schulranzen Schulmädchen sitzt auf Mauer lacht verlegen Zahnspange weiße Kniestrümpfe karierter Faltenrock kurzer Rock sehr kurzer Rock .
Löschen!
Es wird wiederkommen. Alles kommt wieder.
Wieder und immer wieder.
Kind Baby nackt Junge sitzt auf Schoß .
Die Vorschrift lautet: unbekleidete Kinder - sichtbare primäre Geschlechtsmerkmale - löschen! Aber in diesem Fall: ignorieren! Leonardo, Madonna mit der Nelke, spätes 15. Jahrhundert. Die Mutter Gottes mit dem Jesuskind. Kunst. Alejandro kennt sich aus mit europäischer Kunstgeschichte. Und das wissen die da oben. Deshalb haben die ihn eingestellt, jede Wette.
Das ist die Unternehmensphilosophie, die sie ihm eingebläut haben: So viel wie nötig löschen, so viel wie möglich ignorieren.
Kind - Baby - Junge streckt seinen kleinen nackten Hintern der erwachsenen Hand entgegen .
Leonardo, Madonna mit der Spindel, 1500/1501. Die Hand der Mutter. Die Mutter Gottes mit dem Jesuskind.
Auch das nächste Bild kennt Alejandro:
Der kleine nackte Junge schlingt seine speckigen Ärmchen um den schneeweißen Hals der Mutter, sie küssen sich, ihre Lippen auf seinen Lippen, nicht wie Frau und Baby, nicht wie Mutter und Kind, eher wie . Mann und Frau .
Quentin Massys, Madonna mit den Kirschen. Antwerpener Schule, frühes 16. Jahrhundert. Quentin Massys war mit Albrecht Dürer und Hans Holbein dem Jüngeren befreundet.
Na und? Macht ihn die Freundschaft zu Dürer und Holbein schon zum großen Künstler?
Billige Effekthascherei, nichts weiter. Keine Tiefe. Alejandro hält Massys für maßlos überschätzt.
Acht Sekunden!
Viel zu lange!
Sexualisierte Kunst. Pornografischer Missbrauch von Kindern. Basta!
Acht Sekunden! Das gibt Ärger!
Sie ziehen dir verschwendete Zeit vom Lohn ab. Motivierungshilfe nennen sie das.
Jede Pinkelpause ziehen sie vom Arbeitszeitkonto und am Ende des Monats vom Lohn ab. Der Computer registriert das Verlassen der Kabine und misst die Zeit bis zur Wiederkehr. Manche bringen eine leere Plastikflasche mit und pinkeln da rein, um keine Zeit und kein Geld zu verlieren. Aber so weit ist Alejandro noch nicht.
Madonna. Ohne Kind. Foto. Schwarzweiß. Madonna auf der Straße. Zigarette im Mundwinkel, die Handtasche baumelt am linken Arm, sie trägt High Heels. Sonst trägt sie nichts, blondierte Haare, aber schwarz behaarte Vulva, cooler Blick, ausgestreckter rechter Arm, der Daumen zeigt nach oben: Halt gefälligst an, lass mich in dein Auto steigen und nimm mich mit .
Vier Sekunden!
Wieder zu lange!
Madonna, die Pop-Ikone.
Sexualisierte Kunst.
Konzentriere dich, Alejandro!
Die Lampe über dem Bildschirm blinkt auf. Schichtende. Der Bildschirm wird schwarz. Mitternacht.
Alejandro setzt die Kopfhörer ab und legt sie neben die Tastatur, reibt sich die Augen, streckt sich auf dem Bürostuhl aus, so gut es eben geht, streckt Arme und Beine von sich, soweit die enge Kabine dies zulässt, und gähnt ungeniert. Hinter ihm hüstelt jemand. Die Ablösung. Junger Typ. Kleiner als Alejandro. Aber das sind sie alle. Jünger als Alejandro. Auch das sind sie alle. Aber den hier hat Alejandro noch nie gesehen. Muss ganz neu sein. Der Neue wirkt ziemlich nervös. Hat keine Zeit zu verlieren. Kein Geld zu verlieren. Also greift Alejandro nach seinem Rucksack, stopft eilig die halbleere Wasserflasche und die Tupperdose und den Löffel hinein und beeilt sich, den Verschlag zu räumen.
«Hallo, wie geht's? Ich bin Alejandro.»
Der Kopf des Neuen reicht Alejandro kaum bis zum Brustkorb. Klein und schmächtig. Der Kleine nickt nur schüchtern, vermeidet den Augenkontakt, quetscht sich an ihm vorbei, setzt sich und loggt sich ein.
Alejandro lässt den Blick durch den Saal schweifen. In allen 120 Schuhschachteln ist jetzt Schichtwechsel. Alejandro setzt ein nichtssagendes Gesicht auf. Macht er immer so, ganz automatisch, wegen der Kameras hoch oben in allen vier Ecken. Die Kameras verändern sein Verhalten, manchmal ärgert ihn das. War ein harmloser Tag heute. Der Algorithmus hat es gut mit ihm gemeint. Alejandro, der Glückspilz. Keine Videos. Nur Fotos. Alejandro wirft einen letzten Blick in seine Kabine, schaut über die Schulter des Neuen hinweg auf den Bildschirm. Nur so aus Neugierde, was der Algorithmus dem schweigsamen Neuen zu bieten hat.
Video. Wüste. Drei Männer knien im Sand. Kapuzen über den Köpfen. Hinter ihnen stehen breitbeinig drei vermummte Gestalten. Sie halten Äxte in den Händen .
Alejandro sieht weg. Videos müssen grundsätzlich bis zum Ende angeschaut werden, bevor eine Entscheidung getroffen werden darf. Schnelldurchlauf ja, aber immer bis zum Ende. Alejandro geht. Er muss sich heute nichts mehr bis zum Ende anschauen.
Am Ende des Saals hockt der Aufseher in seiner gläsernen Kabine. Alejandro nickt. Der Aufseher nickt zurück und hebt die Hand zum Gruß. Dann gähnt er ungeniert. Alles gut. Kein Ärger mehr heute, keine Vorladung in den ersten Stock. Alejandro schiebt die Ausweiskarte, die er vorschriftsgemäß an einem Band um den Hals trägt, in den Schlitz neben dem Drehkreuz. Jenseits der Schleuse springt in dem Schrank neben der Pförtnerloge automatisch die mit seiner Personalnummer etikettierte Schublade auf.
Alejandro nimmt sein Handy aus der Schublade. Handys dürfen nicht mit zum Arbeitsplatz genommen werden.
Draußen steht Maria und raucht.
Alejandro stellt sich neben sie und steckt sich ebenfalls eine Zigarette an. Sie sehen sich nicht an. Kontakte unter Mitarbeitern sind nicht erwünscht. Die Kameras sehen alles. Auch hier draußen. Sie rauchen schweigend und sehen zu, wie die Männer und Frauen nach draußen strömen, während durch die zweite Tür Menschen nach drinnen strömen. Alle jung. Alle ernst. Alle still.
Als sie aufgeraucht haben und alle anderen weg sind, sieht Alejandro Maria an, und Maria nickt. Also gehen sie zu ihren Autos auf dem Parkplatz, Maria zu ihrem verbeulten, vom Rost zerfressenen Nissan Micra, Alejandro zu seinem elf Jahre alten Seat Leon, den er vor vier Jahren günstig von seinem Schwager aus Barcelona übernommen hat. Maria fährt vom Parkplatz, die Schranke öffnet sich, der Nissan biegt nach rechts ab und verschwindet in der Nacht.
Alejandro wartet noch ein paar Minuten. Dann verlässt auch er das Gelände der ehemaligen Zuckerfabrik. Als er die Schranke passiert, winkt Alejandro dem uniformierten Security-Mann zu. Aber der reagiert nicht. Alejandro biegt ebenfalls nach rechts ab.
Unterwegs stellt sich Alejandro vor, es wäre helllichter Tag. Die Mittagssonne scheint grell vom Himmel, Madonna steht auf der Straße von Maro nach Nerja, mitten auf der alten N-340, Handtasche, High Heels, Zigarette im Mundwinkel, und wartet auf ihn, dass er sie gefälligst mitnimmt in die Stadt.
Maria ist introvertiert, klein und pummelig und lässt die Schultern hängen. Sie ist nicht sein Typ. Und er ist nicht ihr Typ. Aber darum geht es jetzt nicht.
Playa el playazo am westlichen Ende der Stadt. Der hässlichste Strand weit und breit. Im Dunkeln spielt das keine Rolle. Der einsamste Strand weit und breit. Hierhin verirrt sich kein Tourist. Und um diese Uhrzeit auch kein Einheimischer. Auf dem verlassenen Platz vor der Reparaturwerkstatt für Außenborder und Bootselektrik parkt er den Seat neben Marias Nissan und läuft über den staubigen...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.