Schweitzer Fachinformationen
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Als Iris nach dem Frühstück auf der Hotelterrasse in ihr Zimmer zurückkehrte, lag ein Zettel auf ihrem frisch gemachten Bett. Der Quittungsbeleg für den Fino, den sie am Abend zuvor im Restaurant der Fischereibruderschaft getrunken hatte. Sie hatte keine Quittung verlangt. Sie drehte das dünne Thermopapier um. Jemand hatte etwas auf die Rückseite geschrieben.
«La Factoría. Calle Colón. Draußen. 11 Uhr.»
Sie sah auf die Uhr.
Das war in einer halben Stunde.
Max, du verdammter Idiot. Leidest du an Verfolgungswahn? Was soll das ganze Versteckspiel?
Sie griff nach ihrer Handtasche, sah nach, ob Autoschlüssel und Geldbörse an ihrem Platz waren, verließ ihr Zimmer und lief durch den Flur zum Aufzug. Die Idee, ihn unbedingt wiedersehen zu wollen, bereute sie von diesem Moment an.
Seine Frau hatte nichts gesagt. Sie sagte nie etwas, wenn es um seinen Job ging. Schon lange nicht mehr. Aber die Kinder hatten die Augen verdreht. Vorwurf im Blick. Beide. Schon wieder ein kaputtes Wochenende. Wie so oft. Der Freitagabend war schon abgehakt. Er hatte eigentlich mit den Kindern ins Kino gehen wollen. Er hatte es ihnen versprochen. Aber er war erst gegen zehn Uhr abends von dem Besuch bei Doris Lewandowski zurückgekehrt. Jetzt war auch noch der Samstag in Gefahr. Er stand früh auf und mähte rasch und schuldbewusst den Rasen vor dem Haus, der seit drei Wochen nicht mehr gemäht worden war. Wenn's gut geht, bin ich ja in zwei Stunden wieder zurück, hatte er den Kindern anschließend beim Frühstück versichert.
Es war noch nie gut gegangen.
Morian fuhr zu Eva Gerings Fußpflege-Praxis. Der Laden am Ende der Königswinterer Straße war ihm noch nie aufgefallen, obwohl er ihn täglich auf dem Weg zur Arbeit passierte.
Edel. Holz, Glas, Stahl, Leder. Sie war nicht da. Ihre beiden weiblichen Angestellten berichteten, die Chefin sei am Morgen nicht erschienen. Man habe sie auch telefonisch nicht erreichen können, weder im Jagdhaus noch über Handy. Deshalb beginne man sich allmählich Sorgen zu machen.
Es war nicht ganz einfach, das abgeschieden im Wald gelegene Holzhaus zu finden, vor allem, weil es immer noch in Strömen regnete, die Waldwege völlig aufgeweicht waren und die Wischerblätter des Volvo schon vor dem letzten Winter hätten ausgetauscht werden müssen. Eine halbe Stunde später parkte Morian vor der Veranda eines Hauses, das aussah, als hätte sich jemand auf der einsamen Waldlichtung seinen Kindheitstraum von einer Wildwest-Ranch erfüllt. Morian ließ den Autoschlüssel stecken. Hier klaute niemand was.
Die Haustür war nur angelehnt. Morian klopfte trotzdem höflich. «Frau Gering?» Nichts. Morian stieß die Tür mit der Schuhspitze einen Spalt auf. «Frau Gering?»
Jagdtrophäen an den Wänden. Geweihe. Hirsche, Rehböcke. Eine alte Standuhr. Ein offener Kamin, daneben ein Stapel Brennholz, säuberlich aufgeschichtet. Links ein riesiger Fernseher, eine Couch, zwei Sessel, ein Couchtisch, ein Bücherregal. Geradeaus eine schmale Holztreppe, die nach oben führte. Rechts eine offene Küche mit einem Holztresen als Raumteiler.
Morian öffnete die Tür mit dem Fuß bis zum Anschlag. «Hallo? Jemand zu Hause? Frau .»
Der Couchtisch bestand nur noch aus dem Rahmen. Die Glasplatte lag in tausend Scherben auf dem Holzfußboden. Einer der Barhocker vor dem Tresen war umgestürzt. Eine der Küchenschubladen stand offen. Morian registrierte all das in Sekunden. Dann sah er die rotbraunen Schlieren, die von der Küche die Treppe hinaufführten. Der Regen prasselte unablässig auf das Dach. Morian zog seine Dienstpistole aus dem Holster am Hosenbund und entsicherte sie, noch während er die ersten Stufen der Treppe nahm.
Eva Gering war tatsächlich klein und drall. Wie dämlich und unbekümmert sie laut Doris Lewandowskis Kurzbeschreibung war, konnte Morian nun nicht mehr feststellen. Denn Eva Gering war tot. Sie lag rücklings und nackt auf dem Bett im Schlafzimmer. Die Gliedmaßen von sich gestreckt, die Augen weit aufgerissen. Morian steckte die Pistole zurück in das Holster, dann nahm er sein Handy aus der Manteltasche und wählte die Nummer des Erkennungsdienstes im Polizeipräsidium.
La Factoría war ein neumodisches Szene-Café am anderen Ende des an den Hafen angrenzenden winzigen, überfüllten Stadtstrandes von Corralejo. Iris Cronenberg nahm acht Minuten vor elf in einem der Korbstühle auf dem Plateau vor dem Café Platz. Die Sonne stand jenseits der Bucht über dem Restaurant der Fischereibruderschaft, das sie am Abend zuvor besucht hatte, und strahlte ihr unbarmherzig ins Gesicht. Die Kellnerin war ebenso hübsch wie schlecht gelaunt. Sie hatte ihre Kleidung so gewählt, dass man das glitzernde Piercing in ihrem gebräunten Bauchnabel unmöglich übersehen konnte. Von ihrem Platz aus überblickte Iris die komplette Bucht, wenn sie nur die Augen hinter der Sonnenbrille fest genug zusammenkniff. Vor dem Restaurant der Fischereibruderschaft erkannte sie Juan Carlos, den stämmigen Wirt, der Tische und Stühle abwischte.
Max, du verdammter Hurensohn! Was war das wieder für ein lächerliches Spielchen?
Sie nippte an ihrem Bitter Lemon und beobachtete das Treiben am Strand. Einheimische Omas mit ihren Enkeln. Die Omas saßen aufrecht im Sand, in schwarzen Kleidern, deren Saum sie über die dicken weißen Knie geschoben hatten. Die Enkel planschten im seichten Wasser und versuchten, die Omas nass zu spritzen. Die Omas schimpften und drohten mit erhobenem Zeigefinger, die Enkel quietschten vor Schadenfreude und spritzten die Omas nass, als sei deren Schimpfen erst recht ein Ansporn.
Jenseits des Strandes stand im Gegenlicht eine einsame Gestalt auf der Mole und schien ebenfalls das Spektakel zu beobachten. Iris kniff die Augen zusammen. Weite, über den Knöcheln endende blaue Leinenhosen, wie sie die Fischer trugen, von einem Stoffgürtel gehalten. Darüber ein weites weißes, offenes Hemd, das im Wind flatterte und den Blick frei gab auf einen gebräunten Oberkörper. Er trug eine Sonnenbrille. Ein breitkrempiger, zerfetzter Strohhut überschattete das Gesicht. Espandrillos an den Füßen.
Ein Fischer. Sehr malerisch.
Es dauerte eine Weile, bis Iris begriff, dass der Fischer auf der Mole gar nicht die Omas und Enkel am Strand beobachtete.
Sondern sie.
Max!
Kein Zweifel. Er war es.
Im selben Augenblick wandte sich die Gestalt ab und verschwand, wie vom Erdboden verschluckt, jenseits der Mole in der Tiefe. Er musste ins Hafenbecken gesprungen sein. «Er holt Sie jetzt ab», sagte die Kellnerin lakonisch und deutete auf den Kassenbon unter dem halb vollen Glas. «Wollen Sie vielleicht schon mal zahlen?» In diesem Augenblick kurvte ein Fischerboot in weitem Bogen um die Mole und hielt auf sie zu.
Der Tod musste für Eva Gering eine Erlösung gewesen sein. Morian zählte acht aufgesetzte Schüsse auf Händen, Unterarmen, Waden und Füßen. Außerdem Schnittwunden an den Innenseiten ihrer Oberschenkel und an ihren Brüsten. Vermutlich mit dem Fleischmesser aus der Küche, das dort im Messerblock fehlte und jetzt neben dem Bett lag. Die Schnitte waren nicht sehr tief. Sie hatten jedenfalls nicht den Tod verursacht. Vermutlich auch nicht die Schüsse. Wer brachte so etwas fertig? Irgendwann wurde ihr Martyrium mit einem Schnitt durch die Kehle beendet.
Morian war gut eine Stunde allein mit Eva Gering, bis die Kollegen in den weißen Overalls eintrafen.
Einmal während dieser Stunde setzte er sich für ein paar Minuten zu ihr, auf die Bettkante. Die Kollegen vom Erkennungsdienst hätten vermutlich auf der Stelle einen kollektiven Herzinfarkt bekommen angesichts der Möglichkeit, dass er mit seinem dicken Hintern Millionen Faser- und DNA-Spuren auf der Bettkante unbrauchbar machte. Aber Morian war das egal. Er musste sich ein Bild machen.
Eva Gering war schon äußerlich das krasse Gegenteil von Doris Lewandowski. Morian schätzte ihre Körpergröße auf knapp eins sechzig. Sie hatte ein paar Pfunde zu viel, ein kleines Bäuchlein, dralle Oberschenkel, mächtige, weiche Brüste mit großen, rosafarbenen Warzenhöfen. Einige feine nachgewachsene Stoppel ihrer rasierten Scham zeigten Morian, dass ihr hellblondes, fast weißes Kopfhaar nicht gefärbt war. Ihre Haut war blass, fast durchscheinend. Die Nägel ihrer Hände und Füße waren knallrot lackiert, in exakt derselben Farbe waren ihre Lippen geschminkt.
Sie war keineswegs schön im herkömmlichen Sinne, aber Morian konnte sich vorstellen, dass sie zu Lebzeiten eine ganz eigene, unmittelbare Sinnlichkeit ausstrahlte und bei Herren fortgeschrittenen Alters wie Lewandowski zwangsläufig Beschützerinstinkte weckte. «Da hast du wohl dem alten Drecksack einen zweiten Frühling beschert», flüsterte er, als wolle er die Totenruhe nicht stören, und betrachtete mitleidig ihre angstvoll aufgerissenen Augen. Dann zog er sich die hauchdünnen Handschuhe aus Latex über, die er stets in seiner Manteltasche trug, und begann, den Schrank mit den Spiegeltüren vor dem Bett zu durchsuchen, die Kommode, die beiden Nachttische, dann das angrenzende Badezimmer. Er fand nichts, was ihm weitergeholfen hätte. Das komplette Mobiliar sah so aus, als sei es in aller Eile kurz vor Ladenschluss bei Ikea eingekauft worden. Er war gerade auf der Treppe auf dem Weg nach unten, um sich das Erdgeschoss vorzunehmen, als er den VW-Bus des Erkennungsdienstes vorfahren hörte. Er ging nach draußen. Die Jungs waren schon in ihre weißen Overalls geschlüpft. Sahen allesamt ziemlich schlecht gelaunt aus. Kein Wunder, bei dem Wetter und bei dem Wochentag. «Mensch, Morian», grummelte der...
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