Schweitzer Fachinformationen
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Sie trat in die Pedale, stemmte sich gegen den Sturm, der durch die verlassenen Straßenschluchten fegte. Das Licht war kaputt. Hin und wieder warf sie einen flüchtigen Blick über die Schulter, nur um sicherzugehen. Aber niemand folgte ihr. Nicht um diese Zeit, nicht bei diesem Wetter. Falsch. Sie konnte nie sicher sein. Zu keiner Zeit. Der Regen peitschte ihr ins Gesicht. Nadelstiche auf ihrer Haut. Bornheimer Straße. Endlich. Niemand folgte ihr, außer der Angst. Sie strampelte die Angst nieder. Der Bus der Linie 620 überholte sie kurz vor dem Ziel, haarscharf und rücksichtslos, mit jaulendem Motor, als sei sie ein Nichts. Eine lange Reihe hell erleuchteter Fenster, leere Blicke aus stumpfen Augen, von oben herab. Das Spritzwasser der Pfützen tränkte ihre Hosenbeine. Ihre Finger spürten die Lenkstange nicht mehr. Sie hätte Handschuhe anziehen sollen. Sie hätte ihre gefütterte Winterjacke aus dem Schrank nehmen sollen. Im September? Sie hätte den Bus nehmen sollen. Um Mitternacht? Alleine an der Haltestelle?
Und wenn er schon in dem Bus gesessen hätte?
Als einziger Fahrgast?
Er hätte gelächelt.
Der Fahrer bremste. Sie bremste. Haltestelle Citywache.
Warum konnte ihr Sohn nicht einmal das Licht an seinem Fahrrad reparieren? Und warum konnte er nicht einmal auf seine Schwester aufpassen?
Alles lief aus dem Ruder.
Sie wartete. In sicherer Entfernung.
Sicher. Nichts war mehr sicher.
Niemand stieg aus. Der Bus fuhr weiter, gab Gas, schleuderte ihr die schmutzige Nässe der Straße entgegen. Jetzt erst stieg sie vom Rad, schob es über den Bürgersteig, vorbei an den beiden geparkten Streifenwagen, lehnte es an die grünen Glasbausteine. Sie kannte die Ziffernkombination des Zahlenschlosses nicht. Aber wer würde schon hier, unter den Augen der Polizei, ein altes Fahrrad klauen?
Er würde es tun. Wenn ihm danach wäre.
Die Tür war aus dickem, getöntem Panzerglas. Sie sah sich noch einmal um, nach links, nach rechts, sicherheitshalber.
Manchmal konnte sie seinen Blick spüren, quer über die Straße, durch die Menschen hindurch, in ihrem Rücken. Sie schaute wieder nach vorn, unschlüssig, ob sie das Richtige tat, und sah sich in der Tür. Sie erschrak vor sich selbst. Ihr mageres, blasses Gesicht spiegelte sich in dem grün schimmernden Panzerglas. Ihr Haar, das patschnass an ihren Schläfen klebte. Die Angst in ihren Augen. Der Summer. Das Brummen des Summers holte sie aus ihren Gedanken. Sie hatte noch gar nicht geklingelt. Sie hatten sie von innen beobachtet. Jetzt gab es kein Zurück mehr.
«Bitte helfen Sie mir. Jasmin ist weg!»
«Sie sind ja ganz nass. Soll ich Ihnen ein Handtuch geben? Wollen Sie einen Kaffee?»
Der Polizeibeamte war sehr groß und sehr hager und schon älter. Er hatte graues Haar, eine warme, dunkle, beruhigend wirkende Stimme und einen hervorstehenden Adamsapfel, der auf und ab hüpfte, wenn er sprach. Bevor sie antworten konnte, war er verschwunden und kehrte mit einem gelben Frottéhandtuch und einem Kaffeebecher zurück. Auf dem Becher stand: Polizeisportfest NRW 1983 Duisburg. Der Mann gab ihr das Handtuch und stellte den Becher vor sie, dicht an die Kante seines Schreibtisches.
Der Kaffee dampfte, so heiß war er.
«Hier. Bitte setzen Sie sich. Wir haben leider im Moment keine Milch da. Zucker? Wer ist Jasmin?»
«Meine Tochter. Sie ist weg.»
Der Polizeibeamte zog die Tastatur des Computers zu sich heran und starrte angestrengt auf den Monitor.
«Einen Moment noch, bitte.»
Niemand der anderen Männer im Raum beachtete sie. Das war ihr angenehm. So wie sie aussah. Das gelbe Handtuch war jetzt voller schwarzer Flecken. Von der zerlaufenden Wimperntusche. Sie knüllte das Handtuch auf ihrem Schoß zusammen, sodass man die Flecken nicht mehr sah. Sie hätte jetzt gerne ihr Gesicht abgewaschen. Sie hätte sich die Haare hochstecken sollen, so wie sie es tat, wenn sie morgens zur Arbeit ging. Ein Beamter sprach mit monotoner Stimme in ein Mikrofon, das vor ihm aus dem Tisch ragte. Sie verstand kein Wort. Zwei weitere Polizisten kontrollierten ihre Pistolen, steckten sie zurück in die Taschen an ihren Gürteln, setzten ihre Mützen auf, nickten dem Mann am Mikrofon zu und gingen wortlos. Sekunden später gellte das Martinshorn eines Streifenwagens durch die Nacht.
«So. Da haben wir's. Diese elektronischen Formulare. Furchtbar. Nächstes Jahr werde ich pensioniert. Dann kann ich diesen ganzen Computerkram getrost wieder vergessen. Wie heißen Sie?»
«Wer? Ich?» Sie erschrak. «Martina Hahne.»
«Martina .»
«Ja. Hahne.»
«Hahne wie Hahn mit e?»
«Ja.»
«Und Ihre Tochter heißt Jasmin mit J.»
«Jasmin Hahne .»
«Wie alt ist Ihre Tochter, Frau Hahne?»
«Fünfzehn ist sie letzten Monat geworden.»
«Oje. Schwieriges Alter, nicht wahr? Die Pubertät. Ich kann mich noch gut erinnern, als meine Töchter in dem Alter waren. Wann haben Sie Ihre Tochter zuletzt gesehen?»
Sie erzählte ihm, was er wissen wollte, und der fremde Mann schrieb alles in seinen Computer. Sie erzählte ihm auch Dinge, die er wohl gar nicht wissen wollte. Dann schrieb der Mann nichts in den Computer und hörte ihr einfach zu. Sie erzählte ihm, dass sie Jasmin zum letzten Mal am Morgen gesehen hatte, gegen halb acht, als ihre Tochter wieder mal ohne Frühstück die Wohnung verließ, um zur Schule zu gehen. Ihre Tochter hatte ständig Angst, zu dick zu werden, dabei war sie so schrecklich dünn, viel zu dünn. So dünn, dass die Rektorin der Hauptschule schon angerufen hatte. Aber was sollte sie machen? Die Rektorin hatte gut reden. Jasmin wollte unbedingt Model werden, später, nach der Schule, so wie Kate Moss, deren Poster über dem Bett hing, so eine verrückte Idee, die war ihr nicht auszutreiben, deshalb aß sie kaum etwas und übte in ihrem Zimmer, ging vor dem großen Spiegel auf und ab und kontrollierte ihren Gang, aber ansonsten war sie eine gute Schülerin und ein pflegeleichtes Kind, ja: Pflegeleicht, wenn Sie verstehen, was ich meine. Im Gegensatz zu ihrem Bruder. Wie alt? Wer? Boris? Gerade neunzehn geworden und immer noch nicht mit der Ausbildung fertig. Ja, insgesamt zwei Kinder. Das reicht doch auch, als Alleinerziehende, oder?
«Und Ihr Sohn lebt ebenfalls in Ihrem Haushalt?»
Ja klar, wo denn sonst? Mit dem bisschen Lehrgeld. Boris war schon immer das Sorgenkind gewesen, schon als er ein Baby war. Oft krank. Vor vier Wochen hat Boris seine dritte Lehrstelle angefangen, Kfz-Schlosser diesmal. Der Meister war ein guter Bekannter ihres Chefs. Was für ein Glück. Zwei Ausbildungen hat Boris schon abgebrochen, eine als Metzger und eine als Dachdecker, und jedes Mal eine passende Ausrede. Sie betete jeden Tag, dass er die neue Ausbildung diesmal zu Ende brächte, eine vierte Chance würde er nicht bekommen. Mit Autos hatte er gerne zu tun, das machte ihm Spaß. Nur das Arbeiten machte ihm keinen Spaß. Für die paar Kröten, jammerte der allen Ernstes rum. Schau dich doch mal um, guck doch mal, was los ist auf dem Arbeitsmarkt, sei froh, dass du überhaupt Arbeit hast, oder meinst du, die hätten nur auf dich gewartet? Aber meistens fehlte ihr die Kraft, um sich mit ihm zu streiten. Und dem Jungen fehlte der Vater, da war sie sich sicher, das Vorbild, die starke Hand. Nur hätte der Erzeuger ihrer beiden Kinder für diese Rolle ohnehin nicht getaugt. Der hatte sich aus dem Staub gemacht, als Jasmin noch ein Baby war. Der Dreckskerl.
«Wo lebt der Vater?»
«Keine Ahnung.»
Sie wusste es wirklich nicht. Sie wollte es auch nicht wissen. Anfangs, als Jasmin noch klein war, da hatte sie versucht, dass er wenigstens für die Kinder Unterhalt zahlte. Aber dann wurde er arbeitslos und zog weg aus der Stadt. Wohin? Keine Ahnung. Die Arbeit hatte der sowieso nicht erfunden. Der hing schon immer lieber in der Kneipe rum und jammerte der Wirtin die Ohren voll, über sein verpfuschtes Leben und dass an allem die anderen schuld sind. Ein Säufer. Alkoholkrank nannte man das heute. Und sie konnte den Anwalt nicht mehr bezahlen.
«Wir kriegen das raus, wo er sich aufhält. Und seit wann vermissen Sie nun Ihre Tochter, Frau Hahne?»
Sie hatte ihren Sohn noch gebeten, den Frühstückstisch abzuräumen, obwohl sie sich das auch hätte sparen können, dann hatte sie fünf Minuten nach ihrer Tochter ebenfalls die Wohnung verlassen, um zu Fuß zur Arbeit zu gehen, über die Brücke und die Bahngleise rüber zum Lidl in der Justus-von-Liebig-Straße, wo sie als Kassiererin arbeitete, bis 20 Uhr. Sie brauchte die Überstunden. Die Waschmaschine gab ihren Geist auf. Waschmaschinen waren teuer. Ungefähr um halb neun abends war sie dann wieder daheim. Boris lag auf seinem Bett und guckte Fernsehen. Warst du nicht auf der Arbeit? Nein, hatte er gesagt, ich bin erkältet, und hatte sich umgedreht und die Decke über den Kopf gezogen. Ende der Diskussion.
Jasmin war nicht da. Die Panik befiel sie auf der Stelle. Etwa eine halbe Stunde lang zwang sie sich, Ruhe zu bewahren. Dann rief Martina Hahne die Freundinnen ihrer Tochter an, eine nach der anderen, und schließlich die Klassenlehrerin. Nichts.
Sie riss Boris die Bettdecke weg. Ist Jasmin nach der Schule hier gewesen? Nein! Was weiß ich, wo sich die blöde Zicke wieder herumtreibt.
Jasmin trieb sich nie herum. Jasmin nicht. Um Mitternacht nahm Martina Hahne das Fahrrad ihres Sohnes aus dem Waschkeller und fuhr damit zur Polizei.
Der Beamte sah von seinem Computer auf: «Frau Hahne, ich kann Ihre Sorge gut verstehen. Aber nur damit Sie mal eine Vorstellung haben: Bei den Dienststellen des Bonner Polizeipräsidiums werden jeden Tag zwischen zwei und fünfzehn Jugendliche als vermisst...
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