Schweitzer Fachinformationen
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Sie quetschte den Cooper vor dem Wendehammer am Ende der Sackgasse zwischen zwei verlassene Streifenwagen, deren Blaulichter in den blassgrauen Abendhimmel zuckten. Links und rechts von den beiden Streifenwagen hatten die Leute vom Erkennungsdienst Flutlichtmasten aufgebaut. Der gigantische Wohnkomplex am Kopf des Wendehammers wirkte in dem gleißenden Licht wie eine Filmkulisse. Mitten auf der kreisrunden Fläche aus Asphalt knieten drei Kriminaltechniker. Sie trugen schneeweiße Synthetik-Overalls, die das Flutlicht reflektierten, und Handschuhe aus hauchdünnem Latex. Antonia Dix umrundete das rot-weiße Absperrband, nahm den Weg über die verdorrte Wiese, vorbei an einem Grill, dessen Holzkohle ungenutzt vor sich hin glühte.
Sechs Haustüren. Vor dem Eingang mit der Nummer 38 hatte sich ein uniformierter Polizeibeamter aufgebaut. Antonia Dix steuerte auf ihn zu. Er war noch jung. Sehr jung. Er straffte die Schultern und versuchte, seiner Stimme durch Lautstärke Autorität zu verleihen, als er sie anraunzte:
«Wohnen Sie hier?»
«Nein», entgegnete sie, während sie das Ledermäppchen mit dem Dienstausweis aufschnappen ließ. «Ich arbeite hier.»
«Oh. Entschuldigen Sie bitte.»
«Wo?»
«Siebter Stock. Wenn Sie aus dem Aufzug kommen, nach rechts, und dann ist es gleich die erste Wohnungstür links. Quasi der oberste Balkon gleich hier über uns.»
«Danke.»
Sie wusste, dass er ihr nachstarren würde, bis sich die Aufzugtür hinter ihr schloss. Der Aufzug rumpelte mit ihr nach oben, als hätte er alle Zeit der Welt.
Der Flur im siebten Stock war genauso schäbig wie die Eingangshalle. Ihre Augen suchten nach dem Namensschild an der offenstehenden Wohnungstür, aber das wurde von dem breiten Rücken eines älteren Uniformierten verdeckt, der sie kannte und grüßte. Noch bevor sie durch die Tür trat, roch sie Feuer. Nein, das war keine Sinnestäuschung. Das kam auch nicht von dem Grill unten auf der Wiese, dessen Geruch ihr Gehirn erst vor wenigen Minuten abgespeichert hatte.
Eine kurze, schmale Diele, von der rechts zwei Türen abgingen. Ein enges Duschbad, nicht besonders sauber. Eine winzige Küche, in der schon lange nicht mehr aufgeräumt worden war. Der Rest des Apartments bestand aus einem einzigen Zimmer.
Ein kreisrunder Esstisch aus billigem schwarzlasiertem Kiefernholz, vier wacklige Holzstühle, die Sitzflächen aus Bast-Imitat. Ein aufklappbares Schlafsofa aus schwarzem Kunstleder. Ein Bücherregal, zur Hälfte gefüllt. Ein winziger Schreibtisch ohne Schubladen, wie aus der Kinderabteilung bei Ikea. Darauf ein Computer, ein Röhrenmonitor, Tastatur und Maus. Neben dem Schreibtisch, auf dem Fußboden, ein Fernseher. Kein einziges Bild an den Wänden.
Wie ein weiteres Möbelstück stand mittendrin Erwin Keusen im weißen Overall, der bedenklich über seinem Bauch spannte, schob die Kapuze vom verschwitzten Kopf, als er Antonia sah, drehte die Handflächen nach außen und zuckte mit den Schultern, was hieß: Ich habe bisher so gut wie nichts, was ich dir anbieten kann. Seine vier Mitarbeiter waren schon dabei, ihr Werkzeug in den Alukoffern zu verstauen. Antonia hob die Augenbrauen, was Erwin Keusen dazu veranlasste, seinen Kopf in Richtung der Balkontür am Kopfende des Zimmers zu bewegen.
Staatsanwältin Ulrike Strehle stand an der Brüstung und blickte hinunter auf die Straße. Elegantes sandfarbenes Kostüm. Der Rock war gerade lang genug, um nicht unseriös zu wirken, aber kurz genug, um ihre schönen Beine hinreichend zur Geltung zu bringen. Das galt ebenso für die Höhe der Absätze ihrer schwarzen Pumps. Das blondgesträhnte Haar war mit einer scheinbaren Nachlässigkeit zu einer Hochsteckfrisur arrangiert, wie das gewöhnlich nur sehr gute und sehr teure Friseure hinkriegen. Sie trug ein Klemmbrett aus Plexiglas unter dem Arm. Das oberste Blatt des eingespannten Papiers war noch jungfräulich weiß. Antonia Dix hatte noch nicht ganz die Schwelle überschritten, da fragte sie, ohne sich umzudrehen:
«Wo ist Morian?»
«In Urlaub.»
Antonia Dix stellte sich ebenfalls an die Brüstung, neben sie, mit mehr Abstand als nötig, und folgte ihrem Blick hinunter auf den grellerleuchteten Wendehammer. Sie wusste genau, was jetzt hinter ihrem Rücken vor sich ging: Keusens Männer würden eine Pause einlegen, die beiden Frauen durch die Fensterscheibe beobachten und sich dabei angrinsen und zunicken. Das hatte zum einen mit der unsäglichen Geschichte zu tun, die vor zwei Wochen in der Rheinland-Ausgabe der Bild-Zeitung erschienen war:
Den Text hatten zwei Fotos garniert. Eines zeigte Staatsanwältin Ulrike Strehle von der Abteilung für Kapitalverbrechen während einer Pressekonferenz. Wie aus dem Ei gepellt. Das andere Foto zeigte Oberkommissarin Antonia Dix, als sie noch Kommissarin war und gerade das Präsidium verließ:
. Bauarbeiter-Schuhe mit Stahlkappen. Schwarze Military-Hosen. Hautenges schwarzes T-Shirt. Das Schulterholster
mit der großkalibrigen Pistole verborgen unter einer alten schwarzen Kradmelder-Lederjacke, so steif und so schwer wie eine Bleiweste. Und so zäh wie ihre Besitzerin: Antonia Dix. Als zöge sie in den Krieg. In den täglichen Krieg gegen das Verbrechen. Aber selbst ihre typische Arbeitskluft und das raspelkurz gestutzte pechschwarze Haar können ihre Schönheit und das Blut Brasiliens, das in ihren Adern pocht, nicht verbergen .
«Und Sie? Weshalb kommen Sie erst so spät?» Ulrike Strehle warf Antonia Dix einen Blick von oben herab zu, eine leichte Übung für sie, bei 1,80 Metern Körpergröße.
«Ich hatte Morian zum Flughafen gefahren. Danach musste ich meinen Wagen erst einmal aus den Krallen eines geldgeilen Abschleppunternehmers befreien.»
Ulrike Strehle starrte sie verständnislos an, als läge das Parken im Parkverbot außerhalb ihrer Vorstellungskraft.
«So, nachdem auch dieser wichtige Punkt geklärt wäre, könnten Sie mich vielleicht kurz ins Bild setzen, Frau Staatsanwältin.»
«Normalerweise verhält sich das umgekehrt, Frau Dix: Die ermittelnde Polizei setzt die Staatsanwaltschaft ins Bild. Aber gut. Alles spricht bisher für einen Suizid.»
Alles.
Ulrike Strehle widmete sich wieder dem Wendehammer sieben Stockwerke unter ihr. Der zweite Grund, warum Keusens Männer feixend und erwartungsfroh durch die Fensterscheibe starrten, war die allseits bekannte Tatsache, dass sich die Staatsanwältin und die Oberkommissarin nicht besonders gut leiden mochten.
Stutenbissigkeit nannten das die Männer beider Behörden in völliger Selbstüberschätzung. Stuten bissen sich in Konkurrenz um den Hengst. Antonia Dix war noch kein einziger Hengst in den beiden Behörden begegnet, der es nur annähernd wert gewesen wäre, deshalb mit einer Frau in Dauerfeindschaft zu treten. Antonia Dix war einfach nur der Meinung, dass die Einser-Juristin Ulrike Strehle nicht den geringsten Schimmer von polizeilicher Ermittlungsarbeit hatte, in den zwei Jahren ihrer Amtszeit auch nichts dazugelernt hatte und diese erhebliche Schwäche mit maßloser Arroganz tarnte.
«Aha. Suizid also. Na, dann ist ja alles klar, nicht wahr? Haben Sie die Leiche gesehen?»
«Natürlich. Sie lag ja lange genug da unten. Man hat sie erst vor fünf Minuten abtransportiert.»
«Und? Ist Ihnen an der Leiche etwas aufgefallen?»
Ulrike Strehle stockte. Mehr hatte Antonia Dix nicht gewollt. Weil sie geahnt hatte, dass die Staatsanwältin der Leiche garantiert nicht näher als fünf Meter gekommen war. Die Strehle war im ganzen Präsidium dafür bekannt, dass sie gerne einen großen Bogen um Leichen machte und sich mit der späteren aseptischen Papierversion begnügte.
«Morgen früh haben wir von der Rechtsmedizin das Ergebnis der Obduktion. Dann wissen wir sicherlich mehr, Frau Dix.»
«Zeugen?»
«Jede Menge. Da unten wurde wohl ein Grillfest gefeiert, als der Mann sprang. Ich habe sie alle ins Präsidium bringen lassen. Ihr Kollege Beyer vernimmt sie gerade auf der Kriminalwache mit Hilfe eines irakischen Dolmetschers.»
Fehler. Großer Fehler. Zeugenaussagen mussten frisch sein. Schon alleine die Fahrt ins Präsidium konnte die Erinnerungen verwischen, die Unterhaltung im Polizeibus individuelle Eindrücke auslöschen, zugunsten eines kollektiven Einheitsbreis. Antonia Dix seufzte und schwieg.
«Eigenartig ist nur die Sache mit dem Feuer.»
«Feuer?»
Antonia Dix wurde hellhörig.
«Ja, Feuer. Alle Zeugen schwören, hier oben habe es gebrannt. Die Wohnung habe in Flammen gestanden, als der Mann sprang. Aber wie Sie selbst sehen, ist die Wohnung völlig unversehrt, Frau Oberkommissarin. Wenn es hier oben lichterloh gebrannt hätte, stünden wir jetzt unten auf der Straße und würden der Feuerwehr beim Löschen des gesamten Gebäudes zusehen. Das bedeutet also leider: Die Aussagen der Teilnehmer dieses Grillfestes sind insgesamt wohl nur von höchst eingeschränktem Wert.»
«Kaltes Feuer.»
«Wie bitte?»
«Riechen Sie denn nicht, dass es hier gebrannt hat? Kaltes Feuer. Erwin? Kannst du mal kommen?»
Als hätte der Leiter des Erkennungsdienstes nur auf sein Stichwort gewartet, erschien Erwin Keusen auf dem Balkon und hob in rheinischem Singsang zu einem seiner ebenso brillanten wie berüchtigten Monologe an:
«Ganz einfach. Du nimmst Alkohol, aber nicht irgendeinen, sondern einen, der sich gut mit Wasser vermischen lässt und sich nicht anschließend im Ruhezustand wieder vom Wasser absondert. Ethanol zum Beispiel. Oder Isopropanol. Den verdünnst du also stark mit Wasser, grob gesagt im Verhältnis eins zu eins. Wasser hat eine hohe...
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