Schweitzer Fachinformationen
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Mohr macht eine Beobachtung: Alles auf diesem Schreibtisch ist exakt im rechten Winkel zueinander angeordnet. Also nicht ungefähr 98 Grad oder 82 Grad. Sondern exakt 90 Grad. Als seien die Abstände zu den Tischkanten mit dem Lineal vermessen worden.
Das Notizpapier. Der Füllfederhalter. Das Telefon. Das Notebook. Die drei Körbchen aus transparentem Plastik. Eingang Dr. Köstring/Ausgang Intern/Ausgang Poststelle. Und Mohrs Personalakte. Unübersehbar, mittig auf dem Schreibtisch platziert.
Thomas Mohr. Geboren am 15. Januar 1969. Geburtsort: Köln. Familienstand: ledig. Kriminalhauptkommissar. Dezernat 34, LKA NRW. Letzte Verwendung: Leiter Zielfahndung.
Letzter Einsatz: ein Desaster. Ein Desaster.
So sieht es jedenfalls Köstring, weiß Mohr. Weil der Innenminister es so sieht. Und der sieht es so, weil ein Reporter des WDR es so sah, nachdem Muratis Anwalt es ihm in den Block diktiert hatte: Die übergriffigen Methoden eines Polizeistaates .
Mohr kann diese Auffassung nicht teilen. Aber er hält die Schnauze. Weil seine Auffassung nicht relevant ist. Weil es völlig irrelevant ist, was er denkt und meint. Mohr hat keine Ahnung, was da sonst noch so alles drinsteht in seiner Personalakte. Er starrt an dem Mann hinter dem Schreibtisch vorbei durch das Fenster und liest, was jenseits der Völklinger Straße auf der Reklametafel steht:
Mr. Wash. Nur 6 Euro. Gratis saugen! Tägl. bis 20 Uhr.
«Begreifen Sie es bitte als Chance, Herr Mohr», sagt der Mann hinter dem Schreibtisch.
Mohr sagt nichts. Er hat den Job als Leiter der Zielfahndung geliebt.
Der Mann hinter dem Schreibtisch heißt Dr. Bernd Köstring und ist Direktor des Landeskriminalamtes Nordrhein-Westfalen. Das zum Beispiel ist relevant. Köstring rückt seine rechteckige Brille zurecht, beugt sich vor, faltet die Hände, stützt die Ellbogen auf die Tischplatte, beugt sich noch ein Stückchen weiter vor, Richtung Mohr, weiter geht's wirklich nicht, und sagt:
«Um ganz deutlich zu werden: Es ist Ihre einzige Chance.»
«War's das?»
«Von unserer Seite: ja. Es sei denn, Sie hätten noch Fragen .»
«Ja. Eine noch.»
«Schießen Sie los!»
Schießen Sie los. Köstring gibt sich gern salopp, wenn er mit Untergebenen spricht. Im Grunde ist er kein übler Kerl. Mohr hatte früher nie Probleme mit ihm. Nicht vor dieser Sache. Vor dem Desaster. Köstring weiß immer alles, und natürlich weiß er immer alles besser. Aber das haben Führungskräfte so an sich. Naturgesetz. Weil das so ist, machen sie Karriere.
Außerdem steht Köstring wegen der neuen Landesregierung mächtig unter Druck. Die hat ihn zum Direktor gemacht. Und die hat außerdem ihren Wählern mehr Sicherheit versprochen. Und muss jetzt liefern. Sollte das Wahlversprechen nicht einzulösen sein, muss deswegen natürlich kein Politiker zurücktreten. Dafür gibt's schließlich Leute wie Köstring. Die Bauernopfer. Schmerzensgeld statt Gehalt.
Schießen Sie los.
«Nur mal so: Das LKA verfügt über eine Dienststelle OFA mit neun Planstellen. Hocheffiziente Truppe. Neun erfahrene Fallanalytiker. Gute Leute. Wozu also jetzt noch eine neue, zusätzliche Dienststelle?»
«Wo Sie das gerade erwähnen . das wissen Sie vermutlich noch gar nicht. Nein, das können Sie ja gar nicht wissen. Hat sich nämlich viel getan in dem halben Jahr Ihrer Abwesenheit. Wir benutzen in unserer Außendarstellung neuerdings nicht mehr diesen sperrigen Begriff Operative Fallanalyse, wir benutzen nach außen hin auch nicht mehr diese schreckliche Abkürzung OFA. Wir sagen jetzt in der Außendarstellung: LKA-Profiler.»
«Aha.»
«Klingt einfach besser. Da kann sich auch der Laie draußen im Land gleich was drunter vorstellen. Wir wollen unsere Arbeit künftig nach außen hin offensiver verkaufen. Lebensnaher darstellen. Vor allem das Feld nicht mehr tatenlos diesen selbsternannten Profilern überlassen, die abends im Fernsehen in den Talkshows hocken und mit Hilfe ihres angelesenen Wörterbuchs der Küchenpsychologie über Fälle schwadronieren, die sie überhaupt nicht kennen.»
«Schön. Also?»
«Was also?»
«Meine Frage. Wozu eine weitere Dienststelle?»
«Ganz einfach: Weil unsere Fallanalytiker immer häufiger von den sechzehn Kriminalhauptstellen in NRW um Amtshilfe gebeten werden. Und immer frühzeitiger. Das ist ja insgesamt eine begrüßenswerte Entwicklung, die zeigt, dass die polizeiinterne Akzeptanz unserer OFA wächst und wächst. Das bedeutet aber auch: Wenn die Fallanalytiker immer häufiger und frühzeitiger in noch frische Fälle einsteigen, und Sie wissen, dass die OFA immer in Vierer-Teams arbeitet, also bei neun Kräften brutto zeitgleich maximal an zwei Fällen arbeiten kann, vorausgesetzt, es ist maximal nur ein Mitglied in Urlaub oder krank, dann bleibt zwangsläufig immer weniger Zeit für die Cold Cases. Und da kommen Sie ins Spiel, Herr Mohr.»
Köstring macht eine Pause. Mohr wartet ab.
«Letzter Punkt, Herr Mohr: Wir planen, mittelfristig hier im Hause eine zentrale digitale Datenbank aller ungeklärten NRW-Altfälle von gewisser Deliktschwere aufzubauen. Das geht natürlich nicht von heute auf morgen. Die Kriminalhauptstellen in Nordrhein-Westfalen müssen dafür selbständig die alten Ermittlungsakten digitalisieren und uns dann elektronisch übermitteln. Natürlich nach einem Raster, das wir vorgeben. Sie ahnen, was das an Mehrarbeit für die Kollegen in den Kriminalhauptstellen vor Ort bedeutet.»
«Ich ahne, dass dieses Projekt genau daran scheitern wird.»
«Wieso das?»
«Die Mehrarbeit wird man als Argument vorschieben, aber der wahre Grund ist die Eitelkeit. Wer lässt sich schon gern vom LKA sagen, dass bei den Ermittlungen Fehler gemacht wurden?»
Köstring lehnt sich wieder zurück. Schafft emotionale Distanz durch räumliche Distanz. Hat er wahrscheinlich in einem Seminar für Führungskräfte gelernt. Körpersprache: ganz wichtig.
«Herr Mohr, diese defätistische Haltung gefällt mir nicht. So kenne ich Sie gar nicht. Jedenfalls habe ich Sie früher nie als Bedenkenträger erlebt.»
«Hat sich viel getan in dem halben Jahr .»
«Ich denke jetzt mal laut in die Zukunft: Mit Hilfe moderner, intelligenter Software könnte der Computer eines Tages zum Ermittlerkollegen werden. Nur damit Sie eine Vorstellung haben: Wir reden von roundabout 900 ungeklärten Mordfällen im Zeitraum siebziger Jahre bis heute.»
«Mit welchem der 900 Mordfälle fange ich am besten an? Im Ernst: Mir will nicht in den Kopf, warum man eine neue Dienststelle mit nur einer Planstelle startet .»
«Herr Mohr, das ist doch nur die Testphase. Wir wollen erst mal sehen, ob Sie in der Lage sind, einen Mehrwert zu generieren. Bevor wir das Geld der Steuerzahler zum Fenster rauswerfen. Da müssen Sie auch den Minister verstehen. Im Übrigen: Auch die OFA hat mal klein angefangen .» Köstring schaut auf die Uhr. «So viel vielleicht mal fürs Erste, Herr Mohr. Meine Tür steht Ihnen selbstverständlich immer offen.»
Mohr steht auf und verlässt das Büro. Einen Mehrwert generieren.
Köstring seufzt, lehnt sich wieder zurück und wendet seinen Blick dem Jüngeren zu, der schweigend und mit verschränkten Armen am Sideboard lehnt. «Und, Herr Pretzke? Was ist Ihre Meinung?»
«Die kennen Sie, Herr Direktor: Mohr hat nicht mehr alle Tassen im Schrank. Der Mann ist impulsiv, unberechenbar, er ist .»
«Das weiß ich selbst», unterbricht Köstring ihn. «Aber als Chef der Zielfahndung hatte er eine spitzenmäßige Erfolgsquote. Schauen Sie sich das Benchmarking an: Die Zielfahndung des LKA NRW war unter Mohr bundesweit die erfolgreichste.»
«Wenn Sie mich fragen: Er hat seine Emotionen nicht im Griff, er neigt zu übergriffigen Aktionen, er überschreitet eindeutig seine polizeilichen Kompetenzen .»
«Aber danach habe ich Sie nicht gefragt, Herr Pretzke. Ich will lediglich Ihre Meinung hören zu der kleinen Szene von eben.»
«Meine Meinung: Wir sollten ihn unbedingt im Auge behalten, Herr Direktor.»
«Sehr gut. Das sehe ich auch so.»
«Damit wir rechtzeitig .»
«Und genau das ist nun Ihr Job, Herr Pretzke.»
«Was?»
«Ihn im Auge behalten. Das ist jetzt Ihr Job.»
«Wieso meiner?»
Köstring kann Philipp Pretzke nicht besonders gut leiden. Er hält ihn für unterdurchschnittlich begabt und allenfalls durchschnittlich intelligent und vor allem für viel zu gut gekleidet. Immer Anzüge, immer Krawatte und Einstecktuch, immer wie frisch vom Friseur. Einer, der seine gesamte Energie und Arbeitszeit in die sorgfältige Planung seiner Karriere investiert und konsequent sämtliche Aufgaben delegiert, die auch nur entfernt die Möglichkeit des Scheiterns bergen könnten. Angeblich, so hört man, steht ihm dank der Unterstützung seiner Parteifreunde der Sprung ins Düsseldorfer Innenministerium unmittelbar bevor.
Natürlich ist Köstring bemüht, sich diese persönliche Meinung im Umgang mit Pretzke nicht allzu deutlich anmerken zu lassen. Manchmal gelingt ihm das.
«Sie sind doch Leiter ZA1, oder nicht? Nach meinem Kenntnisstand ist Ihre Abteilung somit für alle Personalangelegenheiten zuständig, oder irre ich...
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