Schweitzer Fachinformationen
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ZWEI
Mit beinahe lautlosen, geschmeidigen Bewegungen lief der Mann im Lichtstrahl seiner Minitaschenlampe die Treppen hoch. Im obersten Stock angekommen, verharrte er vor der Wohnungstür, die das Schild mit der Aufschrift »Fam. Simon« trug, und lauschte. Sein Puls und sein Atem gingen ruhig und gleichmäßig, der schnelle Aufstieg hatte ihn nicht im Mindesten angestrengt.
Außer dem gelegentlichen Rütteln des heulenden Windes an irgendwelchen Rollläden und dem Rauschen der Baumkronen im Hinterhof des Hauses war nichts zu hören.
Er setzte den Dietrich am Schloss der Wohnungstür an, es klickte leise, dann drückte er die Tür auf, aber nur einen kleinen Spalt, sodass er an die von innen eingehängte Sicherheitskette kam, die er geschickt mit einem Spezialhaken aushebelte. Dann schob er die Tür weiter auf und stand in der Wohnung.
Nachdem er die Wohnungstür wieder sanft ins Schloss gedrückt hatte, blieb er stehen und lauschte. Er wusste, dass die Familie Simon keinen Hund besaß, oft genug hatte er auf der Lauer gelegen und die Angewohnheiten der Familienmitglieder studiert. Nichts hatte er dem Zufall überlassen, nachdem er sie erst einmal aufgespürt und sich gründlich über sie informiert hatte. Das Internet und die sozialen Netzwerke hatten sich dabei als äußerst nützlich erwiesen.
Die Simons waren zu dritt. Paul Simon war achtundvierzig und Kriminalhauptkommissar bei der Münchner Mordkommission. Seine Frau Dr. Amelie Simon arbeitete als Stationsärztin in der Pränatalabteilung der nahe gelegenen Rotkreuzklinik, und die gemeinsame Tochter Magdalena ging seit diesem Schuljahr aufs Wittelsbacher-Gymnasium. In ein paar Wochen würde sie ihren elften Geburtstag feiern. Wie er in Erfahrung gebracht hatte, wurde sie von allen nur Lena genannt, außer von ihrem Vater, der sie stets mit ihrem vollen Vornamen ansprach.
Der Mann griff in seinen Rucksack und entnahm ihm ein Gerät, das wie ein Helm mit zwei Okularen aussah. Mit einer routinierten Bewegung stülpte er es sich über den Kopf und schaltete es ein. Nun ähnelte er einem bizarren Insekt in Menschengestalt. Mithilfe des Nachtsichtgeräts aus alten NVA-Militärbeständen konnte er all das sehen, was für normale Augen in der Dunkelheit unsichtbar war. Für ihn war die Wohnung nun wie in künstliches grünes Licht getaucht, alle Konturen zeichneten sich deutlich ab.
Er nahm Witterung auf wie ein Jagdhund und registrierte den spezifischen Geruch der Wohnung. Es roch schwach nach Essen, genauer nach Bratenduft und einer Spur Knoblauch. Paul Simon war leidenschaftlicher Koch, der Frau und Tochter gern mit einem aufwendigen Abendessen überraschte - falls es ihm sein Dienstplan und seine zahlreichen sportlichen Aktivitäten erlaubten.
Vorsichtig bewegte er seinen Kopf in alle Richtungen, um sich zu orientieren, dann tastete er sich wie in Zeitlupe die Diele entlang. Es war eine großzügig geschnittene Altbauwohnung mit Parkettboden, geschmackvoll und teuer renoviert, aber manche der Holzbohlen knarzten, so sehr er sich auch bemühte, sanft aufzutreten.
Behutsam öffnete er die erste Tür und gelangte ins Bad. Ihm direkt gegenüber stand ein grünlich schimmernder Insektenmann wie aus einem Science-Fiction-Film und starrte ihn an. Es war sein Ebenbild im Badezimmerspiegel. Er fand, dass sein Zwilling hinter dem Glas nichts Menschliches mehr an sich hatte, und so war ihm bei seinem eigenen Anblick auch zumute. Abrupt wandte er sich ab und ließ die Badezimmertür angelehnt, um kein unnötiges Geräusch zu verursachen.
Aus einem Zimmer am Ende des Ganges drang ein Lichtschimmer. Durch den Restlichtverstärker erschien er in seinen Augen gleißend hell. Dort musste es sein, das Zimmer, dem er zuerst einen Besuch abstatten wollte. Er schaltete das Gerät ab und die Kamerafunktion seines Smartphones ein. Zunächst filmte er den Namen »MAGDALENA«, der mit bunten Holzbuchstaben an die Tür geklebt war. Er drückte sie ganz auf und betrat den Raum, während er das Objektiv seines Smartphones auf sein Blickfeld richtete. Es war das Schlafzimmer der Tochter.
Das Mädchen lag inmitten von Stofftieren und Babypuppen auf dem Rücken und schlief. Die Lichtquelle war eine Einschlaflampe, deren Schirm sich langsam drehte und kleine gemalte Fische an Wand und Decke projizierte. Er schwenkte mit seinem Handy durch den Raum, in dem das übliche Kinderzimmerchaos herrschte, und endete auf dem Gesicht des Mädchens mit den langen, glatten Haaren und den Sommersprossen. Dann zoomte er es heran, bis es bildfüllend war, und kniete sich an den Bettrand.
Mit der linken Hand hielt er das Smartphone so ruhig, als würde es auf einem Stativ stehen, mit der rechten fuhr er dem Mädchen im Abstand von ein paar Millimetern langsam über Haar und Gesicht, ohne der Versuchung zu erliegen, es zu berühren. Doch schließlich konnte er nicht mehr widerstehen. Er entledigte sich seines rechten Handschuhs mithilfe der Zähne und hielt ihn zwischen den Lippen, während er die feinen Augenbrauenlinien und den Nasenrücken von Magdalena mit dem Zeigefinger entlangfuhr, behutsam wie mit einer Feder. Um keine verwertbaren Fingerabdrücke oder DNA-Spuren zu hinterlassen, hatte er vor seinem Aufbruch seine Fingerkuppen mit einem Wundspray präpariert, das einen undurchdringlichen Film hinterließ. Dieser hielt einige Stunden, ohne das Tastgefühl zu beeinträchtigen.
Das Mädchen sah seiner Mutter unglaublich ähnlich, er kannte sie von Dutzenden Fotos aus dem Internet und von einigen persönlichen Beobachtungen, bei denen er sich aber stets im Hintergrund gehalten hatte, um nicht gesehen zu werden.
Das Mädchen brabbelte etwas Unverständliches im Schlaf, kratzte sich an der Nase, wo eben noch sein Zeigefinger gewesen war. Rasch zog er seine Hand zurück und drehte sich weg.
Dann schlüpfte er mit der Rechten wieder in seinen Lederhandschuh und erhob sich. Er hatte genug gesehen und aufgezeichnet. Das Gefühl der absoluten Macht über das menschliche Wesen im Bett war stärker gewesen, als er gedacht hatte. Ihm war bei dem Gedanken daran, dass es ihm vollkommen ausgeliefert war, ein wohliger Schauer über den Rücken gelaufen. Eigentlich war es ihm nur darauf angekommen, wie ein Seelenvampir so viel wie möglich von der Atmosphäre der Familie in sich aufzusaugen. Dieser Besuch war erst die Ouvertüre eines Dramas, das sich insbesondere für das Familienoberhaupt Paul in den nächsten Wochen und Monaten zu einem surrealen Albtraum manifestieren würde, dessen Verlauf und Zuspitzung allein durch ihn bestimmt würde und dessen Akte bis zum großen Finale genau vorausberechnet waren.
Dafür brauchte er noch eine Kleinigkeit. Spontan griff er nach der Daisy-Duck-Uhr auf dem Nachttisch und steckte sie in seinen Rucksack, bevor er sein Nachtsichtgerät wieder einschaltete. Für das, was er nun vorhatte, musste er deutlich sehen.
In der Küche vollführte er mit seiner optischen Ausrüstung einen Panoramaschwenk. Die Einrichtung war eine gelungene Mischung aus gestylt und gemütlich. Alles war perfekt aufgeräumt und klinisch sauber. Er fing an zu suchen, wusste aber noch nicht, wonach. Wahllos zog er Schubladen auf, machte sie wieder zu, warf einen Blick in die Hängeschränke, betrachtete die lustigen Magnete an der Kühlschranktür, mit denen Postkarten, Merkzettel, Rezepte und Fotos festgeklemmt waren. Am liebsten hätte er alles mitgenommen, aber das durfte er nicht. Er musste eine Auswahl treffen, damit niemand etwas bemerkte. Mit gezielten Handgriffen nahm er schließlich zwei Souvenirs ab und verstaute sie bei der Daisy-Duck-Uhr in seinem Rucksack.
Als er in die Diele zurückschlich, vernahm er ein Geräusch und blieb abrupt stehen.
Schritte. Nackte Füße auf knarzendem Parkettboden.
Lautlos schlüpfte er neben den Kleiderschrank im Kinderzimmer und drückte sich gegen die Wand. Er hielt den Atem an.
Draußen im Gang öffnete sich eine Tür, das Licht ging an.
Er bewegte sich nicht, sondern blickte angespannt auf Magdalena, die tief und fest schlief.
Nach einer Weile das Rauschen einer Klospülung. Das Licht ging aus, Schritte. Näherten sie sich etwa?
Er versteifte sich und tastete nach seinem zweischneidigen Messer, das er griffbereit bei sich trug. Er war bereit, das Überraschungsmoment auszunutzen und gnadenlos zuzustechen, wenn es sein musste.
Die Tür zum Kinderzimmer wurde ganz langsam aufgedrückt, eine verschlafene Frau im Nachthemd mit langen Haaren warf einen Blick herein. Amelie Simon.
Mit seinem Gerät sah er die Kontur ihres Gesichts grünlich schimmernd. Ihr Profil war einzigartig, er kannte den Schwung ihrer Lippen, ihren tiefen Haaransatz, ihr markantes kleines Muttermal über der linken Augenbraue. Jedes Detail hatte er sich eingeprägt. Manchmal glaubte er, ihre äußerlichen Merkmale besser zu kennen als ihr eigener Ehemann. So auch jetzt.
Er war versucht, seine Hand auszustrecken, um ihre Schulter zu berühren oder noch besser ihr Gesicht. Aber er beherrschte sich. Er hielt nur den Atem an und sah zu, wie Amelie ans Bett ihrer Tochter trat, die Bettdecke zurechtzupfte, das Einschlaflicht ausknipste und das Kinderzimmer wieder verließ, ohne die Tür ganz zu schließen.
Erst jetzt wagte er, wieder zu atmen und seine Hand vom Griff des Messers in seiner Tasche zu lösen.
Wenn die kleine Magdalena in diesem Augenblick aufgewacht wäre und ihn erblickt hätte - ihr gellender Schreikrampf hätte die Fensterscheiben zerspringen lassen, da war er sich sicher.
Eine neue Sturmbö rüttelte am Haus, etwas klapperte. Dann wieder Stille.
Er schlich auf den Gang hinaus. Seine Mission war noch...
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