Schweitzer Fachinformationen
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MITTWOCH, 01.55 UHR
Ein schnarrendes Geräusch weckte Tomke aus dem Tiefschlaf. Erschrocken sprang sie auf, suchte im Dunkeln verschlafen nach ihrem Handy, stieß einen spitzen Schrei aus und rieb sich das Knie. Sie hatte sich an der Kante ihres Glastisches gestoßen und es schmerzte höllisch. Auf dem Display las sie "Carsten".
"Ja, Tomke hier. Was gibt es denn?", fragte sie, noch nicht ganz anwesend, denn sie war wieder einmal auf dem Sofa eingeschlafen. Ein langer Tag lag hinter ihr. Frühmorgens ins Büro, um zehn Uhr zum Gericht und danach Liegengebliebenes aufgearbeitet. Auch wenn Christof Gerdes, ihr Chef - dankbar, nicht mit dem Außendienst belastet zu werden -, die meiste Schreibarbeit für sie übernahm, musste sie doch manches selbst erledigen. So war sie erst gegen 22 Uhr nach Hause gekommen und prompt vor dem Fernseher eingeschlafen, auf dem jetzt eine Verkaufssendung flimmerte. Der lange Tag hatte sich gelohnt. Ihr Schreibtisch war leer und der Bürokram endlich erledigt. Das Handy am Ohr, das schmerzende Knie reibend, schaute sie auf die Uhr, es war fast zwei Stunden nach Mitternacht. Sie hörte nur ein Brummen und fragte noch mal: "Hallo Carsten. Was gibt es denn mitten in der Nacht?"
"Na was wohl", schnarrte die Stimme ihres Kollegen. Manchmal hört er sich an wie mein Handy, dachte sie kurz.
"Was soll wohl sein, wenn ich dich um diese Uhrzeit anrufe?" schnarrte es weiter.
"Mord?", fragte Tomke. "Wann und wo?"
"Mach dich darauf gefasst, bei Nacht und Sturm durch die Pampa zu fahren", murrte Carsten. "Die Zentrale hat mich angerufen. Du hast ja mal wieder dein Handy nicht gehört." Jetzt bemerkte Tomke auch, dass ihr Handy blinkte und damit einen nicht angenommenen Anruf anzeigte.
"Hol mich ab, wir müssen nach Carolinensiel", raunzte Carsten weiter.
"Nach Clinsiel?", rief sie. "Was ist denn dort passiert? Und wieso wir? Dafür sind doch die Wittmunder zuständig."
"Ich sagte doch, ein Mord. Sonst hätten die vom Dauerdienst ja wohl nicht die Mordkommission angerufen", war Carstens mürrische Antwort. "In Wittmund herrscht Notstand. Ein Kollege liegt mit einer heftigen Grippe im Bett und der andere ist auf einem vierwöchigen Lehrgang. Nun komm in die Gänge und hol mich ab."
"Wieso ich dich? Warum kommst du denn nicht zu mir? Das liegt doch auf dem Weg. Oder hast du wieder mal einen gehabt?"
"Ja, mein Gott, ich hatte am Abend ein paar Schnäpse und einige Biere. Bin noch nicht fit. Also komm", brummte er.
"Darf ich mir vielleicht noch die Zähne putzen?"
"Ja, aber beeil dich. Ich mach uns in der Zwischenzeit schnell eine Thermoskanne mit Kaffee und stehe dann vor dem Haus. Aber lass mich nicht warten, es ist saukalt draußen."
Ist der wieder einmal schlecht gelaunt, dachte Tomke. Immer das Gleiche, wenn wir nächtliche Einsätze haben. Sobald er ein paar "Schluck" gehabt hatte, konnte man mit Carsten selten etwas anfangen und seit zwei Tagen war er besonders schlecht drauf. Trotzdem war er ihr Lieblingskollege. Carsten Schmied, dieser verschrobene, manchmal auch mürrische Kerl, war ihr im ersten Moment sympathisch gewesen. Er hatte sich vor gut einem Jahr aus Hessen nach Norddeutschland versetzen lassen. Über die Gründe wusste sie nicht viel. Aber er war herzensgut, ruhig und einfach ein patenter Kollege. Anfangs dachte sie, er habe einen Sprachfehler. Ein, wie sie es nannte, "Sch-Problem". Mittlerweile wusste sie, dass es im Hessischen "isch", "misch", "disch", statt "ich", "mich", "dich" hieß und hatte sich daran gewöhnt. Nur ganz selten zog sie ihn damit noch auf. Plattdeutsch war für Außenstehende schließlich auch nur schwer zu verstehen. Sie konnte sehr gut mit Carsten arbeiten, vor allem, weil er nicht den Macho raushängen ließ und ihre manchmal eigenwilligen Ermittlungsmethoden hinnahm. Das taten nicht alle Kollegen, vor allem nicht die männlichen.
Tomke putze sich die Zähne, kämmte sich das kurze blonde Haar und stellte dabei fest, dass ein Friseurbesuch dringend nötig war. Sie zog sich ein frisches T-Shirt an, nahm ihre dicke Steppjacke vom Haken und war auch schon weg.
Was wohl in Clinsiel passiert sein mag, überlegte sie während der Fahrt. Tomke stammte von dort. Ihre Eltern lebten schon lange nicht mehr, die nächsten Verwandten waren ihre Oma Jette, Jettchen genannt, und Tante Fienchen. Sie war direkt nach dem Abitur für ein Jahr in die Staaten gegangen, was beim späteren Auswahlverfahren für die Polizeischule sehr hilfreich gewesen war. Diese hatte sie mit Auszeichnung absolviert, weswegen sie schon recht früh für besondere Aufgaben herangezogen wurde. Sie hatte dann fünf Jahre in Düsseldorf und sechs Jahre in Köln gearbeitet. Alles lief gut und sie hatte eine blendende Karriere in Aussicht. Ihr Leben bestand zu der Zeit ausschließlich aus Polizeiarbeit, Verbrechen und Verbrechern. Sie hatte den Ehrgeiz, die Welt ein bisschen besser zu machen. Irgendwann kam ihr jedoch die Erkenntnis, dass ihr das nicht gelingen würde und es stellte sich Ernüchterung ein. Über ihrem Ehrgeiz hatte sie Jan, ihre große Liebe, verloren und schließlich stellte sie sich die Frage nach dem Sinn ihres Lebens und wie es wohl weitergehen sollte.
Die Antwort war offensichtlich: Der Beruf machte ihr Spaß, aber nicht so. Sie zog zurück in die Heimat, nachdem sie festgestellt hatte, wie sehr sie die Nordsee, den Wind, das flache Land und die Menschen hinterm Deich vermisst hatte. Jetzt war sie schon mehrere Jahre bei der Mordkommission in Wilhelmshaven.
Ein Mord in Clinsiel - das ließ ihr keine Ruhe. Hoffentlich war das Opfer niemand aus ihrem Bekanntenkreis, das wäre furchtbar. Hoffentlich kein Mörder aus dem Dorf . Hoffentlich geht es Oma und Tant' Fienchen gut. Hoffentlich, hoffentlich . Ach, sie wollte gar nicht weiter nachdenken. Professionalität, Frau Evers, ermahnte sie sich, Professionalität!
Sie bog in die Straße ein, in der ihr Kollege wohnte und sah ihn auch schon vor dem Haus im Regen stehen. Winkend bedeutete er ihr, stehenzubleiben. Tomke hielt an: "Was hampelst du hier denn so herum? Meinst du, ich hab dich nicht gesehen? Steig ein und lass uns fahren. Was weißt du von dem Mord? Was ist denn geschehen?"
"Mein Gott, bist du munter um diese Zeit. Geht es auch etwas leiser? Mein Schädel brummt." Er griff sich mit beiden Händen an den Kopf, als wollte er ihn vor Tomkes Aktivität schützen. Aber er hatte keine Chance.
"Na?", meinte sie nur.
"Also, viel weiß ich auch nicht. Nur dass es eine Frau erwischt hat und sie halb in einem kleinen Fluss liegt. Irgendwie soll sie sich an einem Rohr verfangen haben, das wohl verhindert hat, dass sie weiter abgetrieben wurde, sagen die von der Zentrale."
"Kleiner Fluss in Carolinensiel? Im Siel in der Harle meinst du?"
"Was weiß denn ich, was ein Siel ist? Euren Dialekt werde ich nie verstehen."
"Wir sprechen hier in Ostfriesland keinen Dialekt, sondern Plattdeutsch, merk dir das endlich. Das Plattdeutsche ist eine eigene Sprache, das solltest du langsam wissen. Und ein Siel ist so eine Art Entwässerungssystem aus dem Landesinneren, das zur Nordsee führt. Also kein Fluss."
Seine Antwort brummte er vor sich hin. Hatte sie jetzt etwa Klugscheißerin verstanden? An ihren Erklärungsversuchen war er wohl nicht wirklich interessiert.
"Nun erzähl doch mal. Was hat dir die Zentrale an Informationen mitgegeben?"
"Leiche, weiblich, im Siel", zählte er genervt auf. "Und es soll kein schöner Anblick sein. Mehr weiß ich nicht."
Leichen sind nie schön anzusehen, dachte Tomke und fuhr konzentriert durch die Nacht. Zum Glück waren die Straßen frei, denn bei diesem Sturm war es nicht einfach voranzukommen. Der Wind peitschte den Regen so heftig gegen die Windschutzscheibe, dass die Scheibenwischer einen schweren Kampf auszufechten hatten. "Hoffentlich hört das bald auf", murmelte Tomke leise. "Das braucht wirklich keiner mitten in der Nacht." Auch wenn ihnen nur wenige Autos entgegenkamen, so wurden sie doch jedes Mal von dem sich auf der nassen Straße spiegelnden Scheinwerferlicht geblendet. Obwohl sie die Strecke gut kannte, kamen sie nur langsam voran. Von Wilhelmshaven aus waren es knapp 30 Kilometer, durch kleine Dörfer, an einzelnen Häusern und kleinen Ansiedlungen vorbei. Eine sehr schöne und entspannte Strecke bei Tage. Sie wäre noch besser, wenn die Umgehungstraße fertig sein würde. Aber jetzt, bei diesem Wetter .
Wieder einmal musste sie fahren. Carsten machte es sich, wie so oft, auf dem Beifahrersitz bequem und hatte die Augen geschlossen. Wo er wohl mit seinen Gedanken war? Ihr kam seine Geschichte in den Kopf: Frau und Tochter waren bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Es war bei einem Rundflug mit einer kleinen Propellermaschine in der Nähe von Frankfurt am Main geschehen. Sie wollten gemeinsam diesen Rundflug in Richtung Bergstraße und über den Odenwald machen und hatten sich alle drei so sehr darauf gefreut. Doch dann wurde Carsten überraschend zu einem Einsatz gerufen und überredete die beiden, ohne ihn zu fliegen. Das Wetter war wunderschön und die Sicht umwerfend. Also flogen sie los. Die Maschine hatte in der Luft einen Motorschaden und stürzte ab. Alle Insassen waren tot. Mehr wusste sie nicht. Er erzählte nicht viel von sich. Nur ganz selten ließ er etwas heraus und man spürte seine tiefe Trauer.
Nach fast vierzig Minuten Fahrt kamen sie in Carolinensiel an. Trotz der Dunkelheit war Tomke alles sofort vertraut. Der alte Bahnhof, der keiner mehr war, die hell erleuchtete...
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