Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Mein Vater kam 1975 aus Damaskus nach München. Erst im Jahr darauf holte er meine Mutter und meine beiden Geschwister, meine ältere Schwester und meinen älteren Bruder, nach. Wie üblich unter Minderheiten, hielten sich bereits einige wenige entferntere Verwandte und Bekannte in Ahlen auf. Also hatte mein Vater beschlossen, das Wagnis Deutschland ebenfalls dort zu beginnen. Da war es also: dieses historisch und wirtschaftlich so bedeutende Land mitten in Europa, von dem sie bis dato immer nur gehört hatten. In Deutschland werden Arbeitskräfte gesucht! In Deutschland läuft alles geregelt ab! In Deutschland sind die Menschen korrekt! Es war nicht die Hoffnung auf eine Zukunft, die meinen Vater angelockt hatte. Wie schon die »Gastarbeiter« vor ihm, war er nicht mit dem Ziel gekommen, in Deutschland sesshaft zu werden. Er wollte »nur etwas Geld verdienen« und dann wieder zurück nach Syrien. Heimat und Familie dauerhaft verlassen? Das kam für ihn nicht infrage. So dachten zunächst alle »Gastarbeiter«. G-a-s-t-a-r-b-e-i-t-e-r - dieses Wort ist so unpassend wie vergiftet. Mag die Wortwahl ursprünglich treffend und neutral gedacht gewesen sein, der Realität hielt sie schon nach Kurzem nicht mehr stand. Wer aus einem Land mit schlechteren Lebensumständen in ein Land mit besseren geht, und sei es auch »nur«, um zu arbeiten, wird bereits nach kurzer Zeit automatisch an das Land gebunden. Die Einsamkeit schreit nach Familiennachzug oder Familiengründung, es folgt Nachwuchs, und mit ihm festigt sich die Verwurzelung in der Fremde. Die Kinder gehen in den Kindergarten, in die Schule und mit einem Mal haben sie eine neue Heimat. Bis heute aber pflanzt das Wort »Gastarbeiter« Menschen in Deutschland die Vorstellung in die Köpfe, dass die, die da einst zu uns gekommen sind, Gäste sind - und Gäste verhalten sich wie? Sie sind zurückhaltend, und nach einer Weile gehen sie wieder, bleiben sie zu lange; werden sie zum Ärgernis.
Bei den »Gastarbeitern« trug der Begriff dazu bei, allzu lang ihren Selbstbetrug aufrechtzuerhalten. Über Jahrzehnte verharrten sie in dem Glauben: Eines Tages kehren wir wieder zurück in die »Heimat«. Wunderbar selbstironisch und ihrer Zeit voraus, haben sich in den 1990er-Jahren die Rapper um den Ruhrgebiets-Musiker Gandhi Chahine treffend »Sons of Gastarbeita« genannt.
Nachdem sich mein Vater eingelebt hatte, beschloss er, nun sei die Zeit gekommen, um seine Familie nachzuholen. Meine Mutter landete am Vormittag des 29. Dezember 1976 mit ihren beiden Kindern auf dem Flughafen München-Riem und betrat erstmals deutschen Boden. Bei der Ankunft stach ihr so viel Fremdes ins Auge: zum Beispiel der Schnee. Natürlich hatte meine Mutter schon Schnee gesehen, in Nordsyrien wird es im Winter kalt, und selbst in Damaskus rieselt mitunter die weiße Pracht vom Himmel, aber eine solche Menge wie in München war auch für sie neu. »Meterhoch lag der Schnee«, erzählt sie noch heute. Draußen vor dem Terminal sah sie Pärchen, die sich in aller Öffentlichkeit küssten. Das gab es in Syrien so kaum, schon gar nicht in den traditionellen ländlichen Regionen, aus denen sie stammte. Meine Eltern wuchsen in einem typisch syrischen Dorf auf, mit patriarchaler Gesellschaftsstruktur und alten Traditionen. In ihrer Kindheit gab es weder fließendes Wasser noch Strom aus der Steckdose. Syrien und die Landbevölkerung waren arm. Als Frau in so einer Gesellschaft aufzuwachsen gestaltete sich für meine Mutter damals nicht einfach. Sie war die jüngste von vier Geschwistern und als Einzige noch nicht verheiratet. Zudem hatten die vier ein Dutzend jüngerer Halbgeschwister, die ihr Vater mit einer Zweitfrau gezeugt hatte. Für die Kleinen war sie die große Schwester. Mama lebte mit ihrer Mutter, ihrem Vater und ihrer verwitweten Großmutter väterlicherseits zusammen in einem Haus. Ihre älteren Geschwister waren bereits flügge. Direkt nebenan wohnte die Zweitfrau ihres Vaters mit deren Kindern.
Zwar erlebten meine Eltern, wie sich das Land technisch langsam modernisierte - in den Siebzigerjahren gab es bereits fließendes Wasser und Stromleitungen auf dem Land -, allerdings versorgten diese die Bevölkerung nur für eine begrenzte Zeit am Tag. Dieser »luxuriöse« Zustand sollte noch bis in die späten Neunzigerjahre hinein andauern. Selbst in Aleppo wurden bis zur Jahrtausendwende Strom und Wasser zu bestimmten Tageszeiten noch abgestellt. Hier in Deutschland war man in gewisser Weise in allen Bereichen weiter. Meine Eltern müssen sich wie in einer Zeitkapsel vorgekommen sein. Ihre Einwanderung bedeutete einen Zeitsprung von vielleicht fünfzig Jahren. Der Fortschritt und der Wohlstand in diesem Land begeisterte sie, aber beides machte ihnen auch Angst.
Meinen Vater interessierten die küssenden Pärchen vor dem Flughafen nur wenig, er kannte das schon. Seine Aufmerksamkeit galt den Maschinentypen, die auf dem Rollfeld standen; er war beim syrischen Militär zum Flugzeugtechniker ausgebildet worden. Das machte ihn theoretisch wie praktisch fit für den Umgang mit allerlei Motoren und Maschinen. Seine Ausbildung hatte ihm nicht nur handwerkliches Geschick vermittelt, sondern auch Kreativität, Improvisationsfähigkeit und Einfallsreichtum, denn Ersatzteile ließen sich nicht so ohne Weiteres bestellen wie in anderen Ländern. Sie mussten vielmehr selbst gebastelt oder überbrückt werden. In dieser Hinsicht kam der Mangel in Syrien meinem Vater für seine Jobsuche in Deutschland zugute. Als versierter Mechaniker fand er leicht einen Arbeitsplatz in einer Autowerkstatt.
Für meine Eltern gab es viel zu entdecken in diesem Deutschland. Die Neuankömmlinge mussten lernen, sich zurechtzufinden. Das galt zunächst einmal für die Behördengänge. Hierzulande schimpft man oft über die Bürokratie, aber in vielen Ländern wiehert der Amtsschimmel noch um einiges lauter. Von einem Schalter zum anderen geschickt zu werden und wieder zurück über den Umweg diverser anderer Büros, das ist auch in Syrien so. Nur kommen dort oft noch Korruption, Schikane und Willkür hinzu. So erlebten meine Eltern Deutschland in dieser Hinsicht als wahre Wohltat - mal abgesehen von den sprachlichen Hürden. Es wirkte fast surreal auf sie: so viel Ruhe und Ordnung, Verbindlichkeit und verlässliche Informationen im Vergleich zu Syrien.
Wenn heute Menschen eine Reise in ein fernes Land tun, studieren sie Ratgeber mit so treffenden Titeln wie »Kulturschock« oder »Kauderwelsch«. Kurz: Sie bereiten sich auf die Fremde vor, erwarten Exotisches und Ungewöhnliches. Meine Eltern waren keine geübten Reisenden. Im Gegenteil. Das Abenteuer ihres Lebens begann für Mama in der syrischen Hauptstadt Damaskus. Ihr Bruder begleitete sie zum Flughafen. Der Gang zum Check-in fiel ihr schwer, ihre Beine fühlten sich an, als wären die Knochen aus Blei. Sie war neunundzwanzig Jahre alt und hatte zwei Kinder im Alter von vier und fünf Jahren bei sich. Sie hatte Syrien nie zuvor verlassen und sie stand vor ihrem ersten Flug überhaupt - und das ohne Rückreiseticket. Sie sprach weder Deutsch noch Englisch. Nur Arabisch. Mein Onkel machte sich Sorgen. Er bat einen Mitreisenden, einen Blick auf seine Schwester und deren Kinder zu werfen und ihr gegebenenfalls zu helfen. Die Abschiedsumarmung fiel lang und intensiv aus. Man weinte. Die beiden Kinder waren mucksmäuschenstill, schauten meist verlegen auf den Boden und immer nur für einen kurzen Moment blickten sie zu ihrer Mutter hoch. Der Kummer lag schwer auf ihren kleinen Seelen, denn sie wussten kaum, wie sie ihn zu deuten hatten. Mama bemerkte es und fing sich wieder. Sie musste jetzt stark sein. Aufgewühlt und in Sorge um die Kinder stieg sie mit einem starken Gefühl der Ungewissheit ins Flugzeug. Was würde das Leben noch für sie bereithalten?
Die drei nahmen ihre Sitzplätze ein und langsam fieberten sie dem Wiedersehen mit ihrem Ehemann beziehungsweise ihrem Vater entgegen. Mitten in die Vorfreude hinein platzte eine Durchsage aus dem Cockpit: »Wir werden nicht in München landen. Wir fliegen jetzt aufgrund des starken Schneesturms nach London.« Was? London? Was bitte soll sie in London? Wo soll sie denn da hin? Was ist mit dem Gepäck? Meine Mutter war kurz davor, in Panik zu geraten. Der Mitreisende, den mein Onkel gebeten hatte aufzupassen, wandte sich an sie und beruhigte sie damit, dass man allen Flugreisenden am Flughafen Heathrow ein Zimmer zur Verfügung stellen werde.
Papa stand in München und wartete am Flughafen. Ein Freund hatte ihn mit seinem Auto hingefahren. Nach eineinhalb Stunden erfuhr er von der Umleitung des Flugzeugs. Da wurde auch er richtig nervös, seine Frau konnte sich in dem fremden Land nicht verständigen. Was war mit den Kindern? Papa fragte nach dem Namen des Hotels, nach einer Telefonnummer, nach irgendeiner Möglichkeit, seine Frau zu erreichen. Doch es hieß nur: »Beruhigen Sie sich, es wird alles gut. Die Kollegen in London kümmern sich um Ihre Familie.« Die Fluggesellschaft versicherte ihm, die Maschine werde am nächsten Morgen ganz sicher ankommen. Papa und sein Freund verbrachten die Nacht in der Ankunftshalle.
Gegen neun Uhr abends fiel die Tür des Hotelzimmers in London hinter meiner Mutter ins Schloss. Die beiden Kinder waren völlig übermüdet und verstanden nicht, was geschehen war. Sie hatten sich gefreut, ihren Vater wiederzusehen, und nun standen sie in einem spartanischen Zimmer irgendwo weit weg. Nachdem meine Mutter sie ins Bett gebracht hatte, legte sie sich ebenfalls hin und sprach ein Bittgebet (du'â) nach dem anderen. Beim Frühstück traf sie den Mitreisenden wieder, der ihnen ein Omelett und etwas zu trinken bestellte. Dazu gab es »sweet pickled cucumber«. Für meine Mutter etwas völlig Ungewöhnliches: eingelegte...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.