Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Seine rotbraunen Haare hingen kerzengerade, sie waren viel länger, als ich gedacht hätte. Ich glaube auch, dass die Sonne schien und jedes einzelne seiner Haare glänzen ließ. Kopfüber hing er an der obersten Stange und sah mich an. Ich stand im Sand, sicherlich barfuß, und rätselte angesichts seines rot angelaufenen Gesichts. Ich leckte mir über die Oberlippe, ich hielt den Atem an. Wie der Knall einer winzigen Explosion hallte mir sein Name durchs Hirn.
»Die Boa!«, rief Simon und wedelte mit seinem Unterarm, der bis auf die Fingerspitzen eingegipst war: »Ich habe Ratte gespielt, vor dem Terrarium, die dumme Schlange hats nicht verstanden, zwei Tage lang war sie ohnmächtig. Um es wiedergutzumachen, habe ich noch einmal Ratte gespielt und diesmal hinter dem Glas.«
Die Geschichte gefiel mir, sehr sogar; sie zu glauben, war eine andere Sache, da konnte er mit seinem Gipsarm wedeln, soviel er wollte.
»Die Schlange will ich sehen.«
Er schwang vor und zurück, wirbelte herum, landete artistengleich vor mir im Sand. Wilder Applaus wehte von den Silberpappeln herüber, auch die Kinder, die sich mühsam die Stäbe des Klettergerüsts hocharbeiteten, hielten einen Moment lang inne und schauten voller Bewunderung zu Simon. Der strich sich die Haare aus der Stirn und grinste sein Zahnlückengrinsen, und irgendwo, wenn ich mich recht entsinne, fingerte sich ein einsamer Klarinettist vorm offenen Fenster eine festliche Tonleiter hinauf.
»Okay«, sagte er, und los ging es, ohne Umwege und Abschweifungen zielgerichtet die Oranienburger entlang, vorbei an all den gewichtigen Gebäuden, die uns nichts angingen.
Die Haustür schlug ins Schloss, Simon rannte, ich rannte, ein Wettlaufen am Geländer entlang, etliche Stockwerke hoch. An der Wohnungstür holte ich ihn ein, der schon den Schlüssel umdrehte, aufsperrte, hineinstürzte, und stolperte ihm nach. Mitten hinein in die plötzliche Ruhe eines hohen, schiffsartigen Flures, baumlange Dielenbretter knarzten unter den Schritten, Zugluft ließ eine Tür schlagen, irgendwo pochte mein Herz, und ich keuchte wie ein kurz vorm Ertrinken Geretteter. Im riesigen Garderobenspiegel entdeckte ich Simon, der in der Küche vor dem Kühlschrank stand und sich die kalte Luft mit seinem T-Shirt zufächerte. Ich trat die Schuhe von den Füßen, etwas verrenkt zog ich mir auch die Socken aus. Ungewohnt groß war ich im Spiegel, und auch die Bewegungen, die ich machte, hatten etwas fremdartig Selbstverständliches, was mir gefiel. Um mir einmal tief in die Augen zu schauen, wie ich meinte, streckte ich meinen Kopf dem immer größer werdenden Spiegelbild entgegen, aber da waren nur meine blauen Kinderaugen. Ich blickte an mir herab, auf meine blassen Füße, deren Sohlen an den Dielen klebten und feuchte Abdrücke hinterließen, als ich sie vom Boden löste.
»Auf welcher Schule bist du jetzt?«, sagte Simon, als ich zu ihm in die Küche trat. Er stand an der Spüle und war damit beschäftigt, Eier über einer Plastikschüssel aufzuschlagen.
»4. Grundschule, am Koppenplatz, und du?«
Zu konzentriert, um antworten zu können, hatte er begonnen, Kakaopulver in die Schüssel zu schaufeln, sehr viel Kakaopulver, leise zählte er die gehäuften Suppenlöffel, hatte bei zwölf plötzlich genug und warf den Löffel ins Spülbecken. Er kippte noch Milch dazu, verrührte das Ganze dann hektisch mit einem Quirl.
»Überlebenssaft, eklig, aber wichtig«, sagte er, goss den braunen Schleim in hohem Bogen in zwei Tassen und schob mir eine hin. Schwungvoll stieß er seine Tasse gegen meine, dass es laut und dumpf klackte, und trank in einem einzigen, langen Zug aus.
Rohe Eier, giftig, echote es durch meinen Kopf, aber was zählte das schon: Schluck für Schluck, ohne abzusetzen. Ich wischte mir noch den Eiersaft aus den Mundwinkeln, da war Simon schon aufgesprungen.
»Hier, die haben wir jetzt auch.«
Zwischen seinen Händen hielt er eine Schildkröte, hob sie mir wie zum Beweis zentimeternah vors Gesicht, die unförmigen Beine ruderten suchend, und setzte sie wieder ab, vor einen Teller, auf dem zwei Salatköpfe gammelten. Ich wollte mich schon zu ihr hocken, aber Simon zog mich »kommkomm« rufend weiter, durch den Flur ins Wohnzimmer, wo er eine hohe Flügeltür öffnete.
»Das Schlafzimmer meiner Eltern«, sagte er und schob mich vorwärts.
»Was denn?«, sagte ich.
»Na dort«, antwortete er und ließ mich allein.
Am Fußende eines breiten Bettes in einem Glaskasten ein Quadratmeter Steinwüste. Ich trat heran, kniete mich davor, auf Augenhöhe, denn sie war sofort da, die Boa constrictor, wie Simon mir erklärt hatte, sie hatte mich sofort bemerkt, ihren Kopf gehoben, züngelte in meine Richtung. Es gab sie tatsächlich, den Schlangenkopf, den Schlangenkörper, die gesamte Welt, aus der sie stammte, ganze Kontinente lagen auf dieser schwarzen, doppelspitzigen Zunge. Mit einer geduldig lauernden Aufmerksamkeit sah sie mich an, richtete eine Konzentration auf mich, wie ich es noch nicht erlebt hatte. Und ich hockte vor ihr, auf wackligen Beinen. Vollkommen ruhig lag sie da, ihr gewundener, schimmernder Körper, ruhiger als die Steine, die Wasseroberfläche ihrer Tränke, das tote Holz; sie selbst hätte tot sein können, nur die Zungenspitze, die aus dem lippenlosen Maulschlitz vor und zurück schnellte, zeigte, dass sie lebte. Und über allem thronte ihr Blick, der aus den stecknadelkopfgroßen Augen fast leblos, wie etwas Außerirdisches hervorstach. An die Nacht musste ich denken, an die Schwärze des Himmels, die Stille des Weltalls. Ein Blick, dem ich mich anvertrauen wollte, mich in ihn hineinstürzen, zumindest einen Moment lang darin versinken, doch beinahe hätte ich das Gleichgewicht verloren. Auf den Fußballen wippend drückte ich meine Hände gegen das Glas, um wieder sicher zu stehen. Ich ertappte mich dabei, Worte in der Zeitung zu entziffern, mit der der Boden des Terrariums ausgelegt war: Hasenstall, Reisekoffer . Die Schlange hielt ihren Blick auf mich gerichtet, während ich mir vielleicht zum ersten Mal in meinem Leben in dieser Deutlichkeit aufsagte, was ich da vor mir sah. Und unablässig fuhr ihre Zungenspitze durch die Luft, dieses in zwei geschnittene Sinnesorgan schmeckte mich durch das Glas hindurch und verschwand wieder im Maul der Boa. Der starre Blick und die lebhafte Zunge. Wie eigenständige Lebewesen begannen Gedanken durch meinen Kopf zu schießen, sodass ich umsonst versuchte, mich vom Blick der Schlange noch einmal einfangen zu lassen. Sie fragten, was Simon tat, sagten mir, dass die Knie schmerzten, es genug sei, ich endlich wieder aufstehen solle. Die Schlange hauchte ihre Zunge aus und ein wie Atemluft; sie schien zu lächeln, etwas zu wispern, sie schien wirklich zu wissen, dass es mich gab. Ich riss mich los.
Und mir war, als würde ich durch einen Traum taumeln: zurück ins Wohnzimmer, wo die Strahlen der untergehenden Sonne geradeso über die Dächer der Stadt hinweg durch die staubigen Fenster schrammend mir in die Augen stachen, dass ich für einige Sekunden blind war. Ich stützte mich auf dem Fernseher ab, bis die Schwärze im Kopf nachließ. Da war meine Hand, knochenweiß lag sie auf dem schwarzen Kasten. Mit dem Zeigefinger strich ich über das graue Glas des Bildschirms, zog einen horizontalen Streifen, der eine Steinwüste vom Himmel trennte, hörte das Rasseln von Klapperschlangen und das Kreischen in trockenen Halmen versteckter Grillen, sah einen Sandsturm aufziehen. Den Staub rieb ich zwischen Daumen und Fingerkuppe zu einem Klümpchen und schnipste es weg wie etwas, das gerade noch eine Welt bedeutet hatte. Im Flur rief ich Simons Namen so laut, als stünde er hundert Meter entfernt im Gegenwind.
Ich hörte eine Antwort oder glaubte, sie zu hören.
Und dann betrat ich Simons Zimmer, dieses dunkle, riesenhafte Zimmer, ein Berliner Zimmer, wie ich irgendwann lernen würde, setzte Fuß in diese Kathedrale meiner Kindheit und kletterte sofort über die Strickleiter auf einen großen Kasten hinauf, der in Simons Zimmer hineingebaut war. Die Freifläche auf diesem Podest war nicht mit einem Geländer, sondern einem engmaschigen Netz gesichert, in das überall Löcher geschnitten waren, durch die eine Reihe anderer, ineinander verschachtelter Podeste zu erreichen war, auf denen sich hingeworfene Schlafecken verteilten, über die Comichefte, Kuscheltiere, Klamotten verstreut waren. Ich erkannte eine Sprossenwand, einen Turnbock, einen mit Blättern, Büchern, Stiften, Werkzeugen, Spielzeugen über und über bedeckten Schreibtisch. Von zahllosen Höhlen, in die nur über verborgene Nischen zu gelangen war, war auszugehen - wahrscheinlich werkelte Simon irgendwo in einem dieser Verstecke. Ich kniete mich an den Spielherd, der am Rand des Podests aufgestellt war, hob den Deckel von einem winzigen Topf, der leer war. Ich fand eine halb volle Kanne Tee, roch daran, Pfefferminztee, und trank sie aus.
»Simon«, rief ich noch einmal ins Zimmer hinab.
»Gleich«, wurde mir geantwortet.
Also legte ich mich für den Augenblick auf eine der Steppdecken mit Zwergenmuster und betrachtete die dünnen Risse im Anstrich der Zimmerdecke und die zerfetzten Spinnweben, die überall in den Ecken des Zimmers hingen, und fühlte mich sehr wohl dabei, an diesem entrückten Ort, denn niemand außer Simon wusste, dass ich hier war, weder mein Bruder noch meine Eltern, niemandem hatte ich Bescheid gegeben, niemanden um Erlaubnis gebeten, wie zwei unabhängige Menschen waren wir einfach losgelaufen. Und es war, als ahnte ich jetzt schon die ganze Zukunft, die sich hier entfalten würde. All die Nachmittage schienen durch den Raum zu schweben, die wir hier oben auf dem Podest damit verbringen würden, am Spielherd winzige Portionen Suppennudeln...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.